Lethem | Bekenntnisse eines Tiefstaplers | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Lethem Bekenntnisse eines Tiefstaplers

Memoiren in Fragmenten
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-608-10336-6
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Memoiren in Fragmenten

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-608-10336-6
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Witzig und befreiend fordert »Bekenntnisse eines Tiefstaplers« konventionelles Wissen heraus und eröffnet tiefe Einblicke in die kaleidoskopische Natur der künstlerischen Praxis, die Rolle des Schriftsteller im Kulturbetrieb und die Art, wie eigene Lebenserfahrung die geistigen Obsessionen prägt. Dabei sind Inspiration von außen und Plagiarismus für Jonathan Lethem die entscheidenden Einflüsse jeglicher Kunst. Diese Idee verfolgt er sowohl in seinem berühmten Essay »Die Ekstase des Zitats« als auch in seinen Reflexionen über Autoren von Philip K. Dick bis Bret Easton Ellis oder wenn er große Musiker wie James Brown ins Studio begleitet. Frei nach dem Motto: Mein iTunes und mein eReader, c´est moi.

Jonathan Lethem, geboren 1964 in New York, ist Autor zahlreicher Romane, darunter die Brooklyn-Romane »Motherless Brooklyn« und »Die Festung der Einsamkeit«. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u.a. den »National Book Critics Award«, den »Gold Dagger« und das »MacArthur Fellowship«. Lethem hat am Pomona College in Südkalifornien die Professur für Creative Writing inne. Zurzeit lebt er mit seiner Familie in Kalifornien. Weitere Informationen zu Jonathan Lethem finden Sie auf seiner Website www.jonathanlethem.com
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Geschichten aus dem Antiquariat


Aufschließen

Mit fünfzehn erlebte ich meinen ersten Karrieresprung. Hatte ich bis dahin nur den gestrichenen Dielenboden fegen und die Ware auf den bunt zusammengewürfelten, grob gezimmerten Regalen in Ordnung bringen dürfen, hatten sie mich immer nur zu Steve’s Restaurant rübergeschickt, um Kaffee (»nicht zu stark«, in Pappbechern, die mit dem Abbild des Parthenon geschmückt waren) zu holen sowie scharf angeröstete Mais-Muffins, durfte ich nun allein den Laden aufschließen. Und zwar samstags und sonntags. Es war ein kleines Antiquariat auf der Atlantic Avenue, neben Teppiche Kalfian. Gegenüber war ein Reifenhändler, sonst war auf der Straße überhaupt nichts los. Heute sieht es dort ganz anders aus. Wir werden niemals erfahren, was uns die Sanierungswelle gebracht hätte, wir waren mit unserem exzentrischen kleinen Antiquariat zwanzig oder dreißig Jahre zu früh.

Michael war ein Langschläfer, und es fiel ihm von Mal zu Mal schwerer, sich aufzuraffen, um einem leeren Geschäft vorzustehen. Die Lösung dieses Problems war ich, der Junge von nebenan, der nur um der Anerkennung willen für die Erwachsenen »schuftete«, auch wenn ich eigentlich nichts tat, als zu lesen, mich im wohnzimmerartigen Lager umzusehen und ein Spiel zu spielen, das ich »Gott der Bücher« nannte. Meine »Bezahlung« bestand darin, dass ich mir ein paar Bücher mitnehmen durfte. Ich war ständig damit beschäftigt, einen Stapel im hinteren Teil des Flurs zu pflegen, bis ich schließlich genug verdient hatte, um die Bücher in meinem Rucksack verschwinden zu lassen. In einer Vitrine bewahrten wir außerdem die Sonderausgaben auf, darunter zwei, die ich unbedingt haben musste. Es dauerte Monate, bis ich genug angespart hatte: , die Korrespondenz von Henry Miller und Michael Fraenkel, unbeschnitten und mit rotem Bändchen, sowie eine signierte Ausgabe von Bernard Wolfes geheimnisvollem Roman . (Den Wolfe besitze ich heute noch, doch ich habe vergessen, wie mir der Miller-Fraenkel abhandengekommen ist.)

Immer um elf, nachdem ich mir Tee geholt hatte (keinen Kaffee, aber einen gerösteten Mais-Muffin), zerrte ich den Wagen mit den klaubaren Taschenbüchern auf den Bürgersteig und stellte ihn vor das Schaufenster. Dann pflanzte ich mich hinter den massiven alten Schreibtisch, der aus Überwachungsgründen gleich rechts neben der Tür stand, und wartete auf den ersten Kunden. Manchmal wartete ich über eine Stunde. Da wir keine Heizung hatten, trug ich in der kalten Jahreszeit stets Schal und Mütze und rieb die Handschuhe aneinander, ungeduldig, dass die ersten Sonnenstrahlen ins Schaufenster fielen und den vorderen Teil des Ladens aufwärmten. Das Wechselgeld lag in der obersten Schublade in einer Zigarrenkiste, und beim einzigen Mal, dass ich kurz meinen Posten verließ, eine Minute, nicht länger, wurde die Kiste ausgeräumt. Meine Schuld, ich weiß, aber Michael schüttelte nur den Kopf, er wusste, dass Diebstahl in diesem Viertel einfach dazugehörte. Der Vorfall sprach nicht gegen mich, sondern gegen die Geschäftslage, und es dauerte nicht lange, bis er mit seinem kleinen Laden nach Manhattan umzog, in ein Untergeschoss auf der Vierundachtzigsten Straße, Upper East Side – der Laden war halb so groß wie in Brooklyn und brachte hundertmal mehr ein.

Lovecraft im Keller

Den Laden auf der Livingston Street in Brooklyn gab es seit den Dreißiger- oder frühen Vierzigerjahren, so genau wusste das niemand, der damalige Chef hatte ihn in den Siebzigern übernommen. Dieser Mann hasste Bücher. Der Laden war eine Katastrophe. Uralte Bücher verkannter Qualität waren in tiefen Schichten unter den zweifelhaften Ankäufen der letzten Jahrzehnte begraben, und der Chef, der sich durch das – aus seiner Sicht undurchschaubare – Antiquariatsgeschäft verunsichert fühlte, rettete sich damit, dass er jede neue Bibelausgabe ins Angebot nahm und Bücher über Traumdeutung und kistenweise gebrauchte Ausgaben von und verkaufte sowie Übungsbücher für die Prüfungen zur Aufnahme in den Öffentlichen Dienst. Es gab Typen, die erst das Buch kauften und dann, nachdem sie durch die Prüfung gefallen waren, oder . Der Laden war lang und schmal und hatte eine sehr hohe Decke. Mit Leitern erreichten wir das obskure Material, das auf den oberen Regalen in fünf, sechs Metern Höhe lagerte. Einen muffigen, schimmeligen Keller gab es auch, er war immer abgeschlossen, und es hieß, er stecke voller Schätze, die die früheren Eigentümer zurückgelassen hätten, darunter eine große Sammlung seltener Ausgaben aus der Hinterlassenschaft von H. P. Lovecraft.

Der Chef, der aus seiner Not heraus junge Leute anstellte, die sich besser mit Büchern auskannten als er, vertraute niemandem, er befürchtete, dass wir Bücher verkannten Werts aus dem Laden schmuggelten. Und so war es ja auch. Er hatte deshalb verschiedene absurde Regeln aufgestellt. Wir durften nicht mehr als zwei Bücher pro Woche kaufen, auch nicht zum vollen Preis. Ich war also gezwungen, Strohmänner einzusetzen, Freunde, die hereinkamen und taten, als würden sie mich nicht kennen. Ich drückte ihnen Bücher in die Hand, die sie für mich kauften. Es war auch untersagt, länger als eine oder zwei Minuten im Keller zu bleiben. Wenn uns der Chef hinunterschickte, um bestimmte Dinge zu holen – Glühbirnen oder Tüten, niemals Bücher –, blieb er oben an der Treppe stehen, rieb sich nervös die Hände und trieb uns mit lauten Rufen an. Blieben wir zu lange unten, befürchtete er gleich, wir würden die Schätze heben, die in den Regalen des stockfinsteren Kellerlabyrinths standen, Bücher, deren Wert er nur erahnen konnte, während wir eine ziemlich genaue Vorstellung hatten. Und so war es ja auch. Ansonsten ließ er uns niemals allein, nicht für eine einzige Minute.

Doch einmal stand ich früh auf, da ich um sieben mit einem Kollegen, der später mein Mitbewohner wurde, verabredet war. Wir verbrachten einige Stunden vor der Ankunft des Chefs damit, uns einen Überblick über die Bestände zu verschaffen. Die Mühe lohnte sich kaum, wir fanden nur fünf oder sechs interessante Bücher, nichts Besonderes, vor allem fanden wir keine Spur von einem Lovecraft-Schatz. Ein paar Wochen später kündigten wir und zogen weiter.

Paloma Picasso

Mein Mitbewohner machte mittlerweile die Spätschicht in einer Buchhandlung Ecke Broadway und Achtzigste. Es war ein hoher, schmaler Laden mit einer zentralen Treppe, oben befanden sich die Sonderausgaben, unter der Treppe stand ein Karton mit gebrauchten Schallplatten. Ich war seine Aushilfe und für den Ladenschluss am Freitag und Sonntag zuständig. Am Wochenende zwischen sieben und zehn war am meisten los, Pärchen schlenderten nach dem Kino oder nach dem Essen herein, die Kasse klingelte. Dagegen war in der letzten Stunde, besonders sonntags zwischen elf und zwölf, praktisch nichts los. Es war ein solcher Sonntag, ich saß an der Kasse und las. Außer mir befand sich in dem Laden noch eine Gestalt mit einem ewig langen Hals. Sie trug Haute Couture und stapelte ein Kunstbuch nach dem anderen auf dem Arm, mehrmals trat sie an den Tresen, um ihre Bild- und Fotobände abzuladen, nur um darauf erneut in den Regalen zu verschwinden. Der teure Stapel wuchs immer weiter an, und ich begann, mich für die Situation zu interessieren, ich hatte das vage Gefühl, dass eine verschwörerische Verbindung zwischen uns entstand, die ich sexy fand. Ohne ein Wort zu sagen, gab sie mir dann ihre Identität preis, und zwar genau wie in einer Fernsehwerbung, die damals sehr bekannt war: Sie zahlte mit ihrer Kreditkarte.

Chris Butler

Der winzige Buchladen in der Bergen Street hielt sich vielleicht ein halbes Jahr, und als die Eigentümer, ein Hippie und seine Hippiefreundin (in die ich mich verschossen hatte), dichtmachen wollten, war ich drauf und dran, ihn zu kaufen. Wenn ich ihn zusätzlich als Wohnung nutzte, so meine Überlegung, würde er sich vielleicht tragen, und ich könnte mir auf diese Weise leisten, allein in der Stadt zu leben. Ich träumte davon, den ganzen Tag in meinem Laden zu sitzen und zu schreiben – ruhig genug war es ja. Doch dann zog ich nach Kalifornien und blieb ein ganzes Jahrzehnt dort. Der Laden, der die Größe eines begehbaren Kleiderschranks hatte, wurde später in eine Videothek umgewandelt, dann in einen Hot-Dog-Stand.

Lange, ruhige Nachmittage verbrachte ich dort, zwei Ereignisse sind mir im Gedächtnis geblieben: Ich saß am Tresen und hörte den Sender WBAI, als der Jazz-Schlagzeuger Philly Joe Jones starb. Bizarrerweise starb ein weiterer Jazz-Schlagzeuger, Papa Joe Jones, keine achtundvierzig Stunden später. Der Discjockey spielte die Stücke der beiden Joe Jones’, er sprach in würdigem Ton über ihre Bedeutung, doch nicht ein einziges Mal erwähnte er den absurden Zufall, dass sie den gleichen Namen trugen. Ich hatte vorher weder vom einen noch vom anderen Schlagzeuger je etwas gehört.

Und: Eines Tages kam Chris Butler herein, der Songwriter der Band The Waitresses, und wollte sich mit mir unterhalten. Ich weiß nicht mehr, wie er mir zu verstehen gab, wer er war, ich bin mir aber sicher, dass ich nur zu bereit, vielleicht sogar verzweifelt bereit war, mich auf einen Kunden einzulassen, der offenbar ein solcher Hipster war.

Die gebieterische Autorin

Eines Nachmittags trat eine gebieterische Memoirenschreiberin mittleren Alters in die Buchhandlung auf der Solano Avenue in Berkeley, ein Laden von der Größe eines...


Lethem, Jonathan
Jonathan Lethem, geboren 1964 in New York, ist Autor zahlreicher Romane, darunter die Brooklyn-Romane 'Motherless Brooklyn' und 'Die Festung der Einsamkeit'. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u.a. den 'National Book Critics Award', den 'Gold Dagger' und das 'MacArthur Fellowship'. Lethem hat am Pomona College in Südkalifornien die Professur für Creative Writing inne. Zurzeit lebt er mit seiner Familie in Kalifornien.

Weitere Informationen zu Jonathan Lethem finden Sie auf seiner Website www.jonathanlethem.com

Jonathan Lethem, geboren 1964 in New York, ist Autor zahlreicher Romane, darunter die Brooklyn-Romane 'Motherless Brooklyn' und 'Die Festung der Einsamkeit'. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u.a. den 'National Book Critics Award', den 'Gold Dagger' und das 'MacArthur Fellowship'. Lethem hat am Pomona College in Südkalifornien die Professur für Creative Writing inne. Zurzeit lebt er mit seiner Familie in Kalifornien.

Weitere Informationen zu Jonathan Lethem finden Sie auf seiner Website www.jonathanlethem.com

Jonathan Lethem, geboren 1964 in New York, ist Autor zahlreicher Romane, darunter die Brooklyn-Romane »Motherless Brooklyn« und »Die Festung der Einsamkeit«. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u.a. den »National Book Critics Award«, den »Gold Dagger« und das »MacArthur Fellowship«. Lethem hat am Pomona College in Südkalifornien die Professur für Creative Writing inne. Zurzeit lebt er mit seiner Familie in Kalifornien.

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