E-Book, Deutsch, Band 6, 457 Seiten
Reihe: Ein Fall für Pater Jeremy
Lessmann Die irische Verschwörung (-oder: Das Lied der Seherin)
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-98952-309-8
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Historischer Roman | Ein Fall für Pater Jeremy 6 - Der Jesuitenpartner ermittelt in Irland
E-Book, Deutsch, Band 6, 457 Seiten
Reihe: Ein Fall für Pater Jeremy
ISBN: 978-3-98952-309-8
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Sandra Lessmann, geboren 1969, lebte nach ihrem Schulabschluss fünf Jahre in London. Zurück in Deutschland studierte sie in Düsseldorf Geschichte, Anglistik, Kunstgeschichte und Erziehungswissenschaften. Anschließend arbeitete sie am Institut für Geschichte der Medizin; ein Thema, dass sie ebenso wie ihre Englandliebe in ihre historischen Romane einfließen ließ. Die Website der Autorin: www.sandra-lessmann.de Bei dotbooks veröffentlichte Sandra Lessmann ihre historischen Romane »Die Spionin der Krone« und »Die Kurtisane des Teufels« sowie ihre historische Krimireihe rund um »Pater Jeremy«.
Autoren/Hrsg.
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Prolog
Juni 1670
Der Klageschrei hallte durch das grüne Tal. Er war so durchdringend, dass das Herz des Barden erzitterte.
»Die bean sí ... der Ruf des Feenweibs.«
Er wusste, dass sie seinen Tod ankündigte. In Gestalt einer Nebelkrähe segelte sie anmutig über die Burgruine am Wegesrand und entschwand über der dicht bewaldeten Hügelflanke.
Cormac Bán Ó Riordáins Atem ging stoßweise. Die Erkenntnis, dass sein Hochmut ihn das Leben kosten würde, lähmte seine Glieder, fesselte seine Beine an den steinigen Pfad, den er kurz zuvor, noch trunken vom Erfolg seines Wagnisses, entlanggewandert war.
In seinem Rücken vernahm er den Hufschlag eines Pferdes, das einzige Geräusch in dem nun schweigenden irischen Tal, über das sich der Schatten grauer Regenwolken breitete.
Mit dem Gefühl grimmiger Befriedigung war Ó Riordáin am Morgen vom Landsitz der englischen Siedler aufgebrochen. Trotz der Gastfreundschaft, die man ihm erwiesen hatte, nagte die Demütigung seines Abstiegs an ihm. Als file, Poet, Historiker, Chronist der alten Adelsfamilien, als Vertreter der aristokratischen Kaste gälischer Gelehrter, der einst hundert Silbermark als Lohn für ein Gedicht erhalten hatte, war er nun nach dem Zerfall der alten irischen Gesellschaftsordnung dazu verdammt, sein Brot als Barde zu verdienen, als geócach, als niederer Possenreißer, der beim Gelage seiner Gastgeber die Harfe spielte und Volkslieder sang.
Der Schrei der Banshee hatte Cormac Bán Ó Riordáin aus seinen schwermütigen Gedanken gerissen. Als der schnelle Hufschlag in sein Bewusstsein drang, wirbelte er herum, überzeugt, den dämonischen dúlachan hinter sich zu sehen, vor dem ihn seine Mutter als Kind stets gewarnt hatte. Doch es war nicht der Kopflose auf seinem Rappen, der auf ihn zugaloppierte, sondern ein Mann. Für einen Augenblick atmete der Barde erleichtert auf, bevor er den Reiter erkannte. Unschlüssig blickte er ihm entgegen. Als ihm das Wehklagen der Todesfee wieder in den Sinn kam, legte sich eine eisige Faust um Ó Riordáins Herz. Ohne einen weiteren Moment zu zögern, sprang er mit einem Satz, der seine alten Knochen erschütterte, zwischen den Ginster am Wegesrand. Doch wohin sollte er sich wenden, wo Schutz suchen? Sein Blick glitt zu der Ruine des viereckigen Turmhauses. Eine Seite des massiven Gemäuers war vor zwanzig Jahren unter der Gewalt der Cromwellschen Kanonen eingestürzt. Dennoch war es die einzige erreichbare Zuflucht. Zwischen ihm und dem Dorf, durch das er gekommen war, stand sein Verfolger.
Ó Riordáin richtete sich ein wenig auf, um den Weg zu überblicken, der zur Burg führte. Im nächsten Moment erkannte er seinen Fehler. Das scharfe Knallen eines Pistolenschusses zerriss die Stille. Geistesgegenwärtig warf sich der Barde zu Boden. Zu spät! Die Kugel, die ihn in den Rücken treffen sollte, grub sich in seine linke Schulter. Er schrie auf, als der Schmerz wie eine Feuerwalze durch seinen Körper raste und ihn nach Luft ringen ließ. Augenblicklich verlor er jegliches Gefühl in seinem Arm. Der Aufprall des Bleis musste das Schulterblatt zerschmettert haben. In Panik raffte er sich auf, ließ die Harfe, die er auf dem Rücken getragen hatte, zu Boden fallen und rannte in geduckter Haltung auf die düstere Festung zu. Da öffnete der Himmel seine Schleusen, und die schwarzen Wolken ergossen ihre nasse Last über das Tal.
Getrieben von Todesangst, stolperte Ó Riordáin durch Gestrüpp und kniehohes Gras. Jeden Moment erwartete er, einen zweiten Schuss zu hören, glaubte er, einen brutalen Stoß gegen den Körper zu verspüren, der sein Leben auslöschen würde. Doch nichts geschah. Ó Riordáin schöpfte neue Hoffnung. Hatte sein Verfolger aufgegeben?
Mit letzter Kraft erreichte der Barde das Eingangsportal des Turmhauses. Hastig warf er einen Blick zurück auf den Reiter, konnte ihn aber hinter dem dichten Vorhang niederströmenden Regens nicht ausmachen. Der Schmerz pochte in seiner Schulter, und er hatte viel Blut verloren. Erschöpfung überkam ihn. Doch Ó Riordáin war entschlossen, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen.
Die schwere Holztür war geschlossen und hing schief in den Angeln. Mit der rechten Hand zog er an dem Eisenring über dem Schloss und musste zu seinem Entsetzen feststellen, dass sie sich kaum bewegen ließ. Sie war jedoch der einzige Weg hinein. Der Barde wusste, dass sich an der eingestürzten Seite der Burg der Schutt bis in die oberen Stockwerke türmte und kein Durchkommen bot. Entschlossen biss er die Zähne zusammen, stemmte die Füße in den Boden und zerrte mit seinem ganzen Gewicht an der mächtigen Tür. Mit einem lauten Knarren gab sie schließlich ein wenig nach. Doch der Spalt war noch zu schmal, als dass Ó Riordáin hindurchschlüpfen konnte. Mit der Kraft der Verzweiflung zog er erneut an dem Ring. Die untere Kante des Portals schabte ein kleines Stück über den Boden. Nun musste es reichen! Rasch zwängte sich der Barde durch die Lücke. Als seine verletzte Schulter gegen den Rand der Tür rieb, stieß er einen Schrei aus, in dem sich Schmerz und Wut verbanden.
Im Innern des Turms hielt Ó Riordáin kurz inne, um zu lauschen. Zwischen dem Rauschen des Regengusses meinte er, Hufschlag zu vernehmen. Hastig zog er sich vom Eingang zurück, stolperte in den unteren Saal, in dem einst Diener und Soldaten gespeist und geschlafen hatten. Fahles Licht fiel durch die schmalen Schießscharten herein, vermochte das Halbdunkel unter dem gemauerten Gewölbe jedoch kaum zu durchdringen. Aufmerksam blickte sich der Barde um. Zwei lange Tafeln, bestehend aus aufgebockten, massiven Eichenholzplatten, und mehrere Sitzbänke lauerten bedrohlich im Zwielicht des Saales. Die Südseite, wo damals Offiziere und höhergestellte Diener Platz genommen hatten, war nur noch eine Trümmerwand. Zwischen zerbrochenen Steingutbechern und Flaschen erhob sich ein Holzgerüst, das die Decke stützte.
Vorsichtig bewegte sich Ó Riordáin durch das Chaos, stieß jedoch immer wieder mit dem Fuß an Scherben und anderen Schutt. In seinem Rücken hörte er ein Pferd schnauben. Sein Verfolger war ihm weiterhin auf den Fersen. In wenigen Augenblicken würde er den Saal erreichen und seine Tat zu Ende bringen. Angestrengt kniff der Barde die Augen zusammen, um die Schatten um ihn herum besser zu durchdringen. Er brauchte eine Waffe! In seiner Panik stolperte er über einen langen Holzstab, der auf dem Boden ein metallisches Klirren von sich gab. Mit neu erwachter Hoffnung beugte sich Ó Riordáin hinab und umfasste den Schaft. Es war eine rostige alte Hellebarde, die vermutlich zur Ausschmückung des Saals an der Wand befestigt gewesen war.
Er konnte sein Glück kaum fassen. Nun war er zumindest nicht mehr völlig wehrlos. Die Helmbarte war schwer. Ó Riordáin spannte die Muskeln seines rechten Arms an und hob sie hoch. Das Gewicht brachte ihn zum Taumeln. Noch einmal raffte er alle Kraft zusammen und versuchte, sich die Waffe unter die Achsel zu klemmen. Die Bewegung riss an seiner zertrümmerten linken Schulter, ein frischer Blutstrom rann aus der Wunde seinen Rücken hinab, sickerte warm und klebrig in den Stoff des Hemdes, das an seiner Haut klebte. Seine Finger gehorchten ihm nicht mehr, konnten den Schaft nicht halten. Polternd fiel die Hellebarde auf den Holzboden. Der Knall hallte wie ein Glockenschlag unter dem Gewölbe wider. Ein Schluchzen der Hilflosigkeit brach aus ihm heraus. Er war verloren. Die bean sí irrte nicht.
Die Stille, die seinem verzweifelten Wimmern folgte, wurde von festen, entschlossenen Schritten durchbrochen. Der Verfolger des Barden machte sich nicht die Mühe, seine Anwesenheit zu verbergen. Ó Riordáin wich in den Schutz einer Ecke zurück, wo er die Wendeltreppe ins Obergeschoss vermutete. Er wusste, dass er auf diesem Wege nicht entkommen konnte, doch ein wilder Selbsterhaltungstrieb zwang ihn trotzdem vorwärts. Mit der ausgestreckten Rechten suchte er nach der Tür, hinter der die Treppe lag. In seinem Rücken hörte er seinen Mörder mit der Stiefelspitze gegen eine Flasche stoßen, die über den Boden rollte. Fieberhaft griff Ó Riordáin nach dem Riegel, schob ihn hoch und zerrte an der Tür. Doch sie ließ sich nicht öffnen. Irgendetwas blockierte sie. Am ganzen Körper zitternd, beugte sich der Barde vor und tastete nach dem Hindernis. Seine Finger berührten poliertes Holz, eine umgestürzte Sitzbank lag quer vor dem Durchgang. Schluchzend zog Ó Riordáin das Möbelstück zur Seite. Tränen rannen über sein Gesicht, denn er wusste, dass es zu spät für ihn war. Hinter sich spürte er den Tod nahen.
Das angestrengte Atmen seines Verfolgers drang an seine Ohren. Der leichte Luftstrom, als er die Hellebarde schwang, strich sanft über Ó Riordáins Nacken. Dann traf ihn der schwere Stoß, als die Klinge der Waffe in seinen Rücken eindrang, Wirbel und Rippen durchschlug und unter dem Brustbein wieder heraustrat. Die Gewalt des Angriffs warf den Barden nach vorn, und die Spitze der Helmbarte bohrte sich in die Tür zur Wendeltreppe. Ó Riordáin stieß nur ein dumpfes Stöhnen aus. Der Schock war so stark, dass er sofort jegliche Gewalt über seine Glieder verlor. Blut aus seinem durchbohrten Magen stieg ihm in den Mund und erstickte jeden weiteren Laut. Überwältigt von grausamen Schmerzen, nahm er kaum wahr, wie die mörderische Klinge aus seinem Rücken gezogen wurde, wie er einem Sack Mehl gleich zu Boden stürzte und das Leben pulsierend im Rhythmus seines immer kraftloser schlagenden Herzens aus der Wunde strömte. Jemand packte ihn an den Knöcheln, schleifte ihn wie ein geschlachtetes Wild über den Boden. Ein Fußtritt rollte seinen erschlafften Körper in ein dunkles Loch. Das Letzte, was seine erlöschenden...




