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E-Book, Deutsch, 235 Seiten
Lesser Ein Leben, das zählt
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8353-8479-8
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vom Nazi-Albtraum zum American Dream
E-Book, Deutsch, 235 Seiten
ISBN: 978-3-8353-8479-8
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ben Lesser wurde 1928 in Krakau geboren. Seine ältere Schwester Lola und er sind die einzigen Überlebenden seiner Familie, seine restliche Verwandtschaft wurde von den Nazis und ihren Kollaborateuren während der Shoah ermordet. Seit seiner Befreiung lebt er in den USA und ist dort seit Jahren als Zeitzeuge aktiv, um seine und die Geschichte seiner Familie zu erzählen. Mit der von ihm gegründeten ZACHORfoundation (www.zachorfoundation.org) hält er die Erinnerung an die Shoa und ihrer Opfer aufrecht.
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5. 1928 – 1939?: Die frühen Jahre
»Mit jedem Kind beginnt die Welt aufs Neue.«
Altes jüdisches Sprichwort
Ich habe Gewissheit, dass meine Kindheit eine glückliche war, aber so sehr ich mich auch bemühe, ich erinnere mich kaum an mehr als gelegentliche, blitzartige Rückblenden oder natürlich an das, was meine Schwester Lola mir erzählt. Ich habe keine Erinnerungen an die Schule, aber ich muss eine gewisse Bildung durchlaufen haben, denn bis heute kann ich Hebräisch lesen und schreiben. Ich bin in der Lage, ein wenig im Chumasch zu lesen und daraus zu übersetzen – das sind die Fünf Bücher Mose, auch bekannt als Torah, die hebräische Bibel. Und ich beherrsche immer noch das Jiddische, kann es sowohl lesen als auch schreiben. Leider sind im Laufe der Jahre mein Polnisch, Ungarisch und Deutsch verblasst, da ich sie nicht angewendet habe. Die Unterbrechung meiner Schulbildung mit Beginn der sechsten Klasse hinterließ bei mir einen lebenslangen Hunger nach Lernen. Bildung versetzt uns – mehr als alles andere – in die Lage, zu bewerten, Entscheidungen zu treffen und effektive Maßnahmen zu ergreifen. Bildung ist auch unsere schärfste Waffe gegen Ignoranz und Hass. Deshalb besuchte ich nach dem Krieg, neben meinem Vollzeitjob, so gut es ging die Abendschule.
Auf einer tieferen Ebene fühle ich mich schuldig, weil ich den größten Teil meines frühen Lebens mit meiner Familie vergessen habe – es fühlt sich an, als hätte ich sie im Stich gelassen. Aber auf einer anderen Ebene ist mir klar, dass es die Brutalität der Nazis war, die riesige Löcher in das Gewebe meines Gedächtnisses gebrannt hat, die all das Schöne, die Unschuld und die Freude, alles was in den Jahren zuvor geschehen war, zerstört haben. Vielleicht diente mir das Verdrängen meines frühen, glücklichen Lebens auch tatsächlich als Überlebensstrategie in den Lagern. So oder so?: Mein Verstand und meine Gefühle schalteten ab. Ich stand jeden Morgen auf und tat, was zu tun war, um eine weitere Stunde zu leben. Ich konnte keine emotionale Energie dafür aufwenden, mich an das zu erinnern, was mir gestohlen worden war. Geist, Herz und Körper mussten sich auf das unmittelbare Überleben konzentrieren. Ich lernte, dass ich auch dann, wenn ich schwierige Entscheidungen zu treffen hatte, immer versuchen musste, das Richtige zu tun. Vielleicht trug ich diesen Pragmatismus bereits in mir, und ich konnte darauf zurückgreifen. Auf jeden Fall begleitet er mich bis zum heutigen Tag.
Ich erinnere mich an ein paar schöne Dinge während meiner Kindheit in Krakau, der charmanten, alten Stadt, in der ich am 18. Oktober 1928 als Sohn von Shaindel (Shari) und Lazar Leser geboren wurde. Die Familie meiner schönen jungen Mutter war seit Generationen prominent und hoch angesehen in der Gemeinde im damals tschechoslowakischen Munkács. Als orthodoxe Juden lebten sie ihr Leben streng nach den religiösen Gesetzen des Talmuds. Meiner Mutter, eines von sieben Geschwistern, gefiel es, Teil einer großen Familie zu sein, und sie liebte ihren Mann und ihre fünf Kinder. Sie war schlank und anmutig und hatte ein erstaunliches Gespür für Mode.
Wie bei orthodoxen jüdischen Frauen üblich, besaß sie zahlreiche Perücken. Wenn die Perücken gereinigt und frisiert wurden, legte sie sie vor die Haustür, wo der Friseur sie abholte und dann sauber und glänzend zurückbrachte. Perücken waren ein sehr wichtiges Kleidungsstück, weil die Tradition von jüdischen Frauen verlangte, nach der Heirat ihre Haare zu bedecken, um die Bescheidenheit zu wahren. Diese Tradition wird bis zum heutigen Tag unter orthodox lebenden Juden fortgeführt.
Mein brillanter und künstlerisch begabter älterer Bruder Moishe war ein »Belzer Chassid«. Das bedeutet, dass er ausgewählt worden war, um bei dem berühmten Rabbi Aharon Rokeach in der nahe gelegenen Stadt Belz zu studieren.
Shaindel (Shari) Leser, Polen (1939), Lesser Family Collection
Moishe Leser, Polen (1943), Lesser Family Collection
Moishe, ein passionierter Gelehrter, hielt sich, bevor der Krieg ausbrach, die meiste Zeit in Belz auf, um dort in der Jeschiwa (Tora-/Talmudschule) zu studieren, daher sah ich ihn nicht oft. Ich erinnere mich an ein erstaunliches Modell einer Straßenszene von ihm. Es sah aus, als sei es aus feinstem Silber gefertigt, aber vermutlich war es aus poliertem Zinn. Er hatte diese komplizierte Miniaturszene von Hand geschnitzt und auf einer großen Schautafel angebracht. Kein Detail wurde ausgelassen?: Straßen mit Pferden und Fuhrwerken, Autos, Straßenbahnen auf Schienen, Gebäude, Geschäfte, sorgsam angelegte Parks mit Bänken und Ententeichen. Sogar Männer, Frauen und Kinder beim Picknick, Ballspielen und Hunde Ausführen. Er überraschte die ganze Familie mit dieser Fähigkeit, von der bis dahin niemand gewusst hatte, dass er sie besaß. Dieses große künstlerische Talent und der Blick für kleinste Details sollten eine wichtige Rolle bei der Rettung vieler jüdischer Leben während der kommenden deutschen Besatzung spielen, als mein religiöser, gelehrter, künstlerischer Bruder Moishe Teil des Widerstands im Untergrund wurde und als Fälscher und Kurier arbeitete.
Meine sanftmütige Schwester Goldie hatte das Gesicht eines Engels. Es war mehr als nur ihre körperliche Schönheit – tatsächlich schien sie innerlich zu leuchten. Sie war hochintelligent und eine begabte Violinistin. Sie übte pausenlos und war immer ganz aufgeregt, wenn Gruppen von fahrenden Musikern, Männer wie Frauen, mit großen bunten Schürzen und wirbelnden Röcken durch die Straßen tanzten und zu unserem Haus in Munkács kamen. Manchmal kamen sie sogar direkt ins Haus – ob wir es wollten oder nicht?! Sie traten auf unserer großen Veranda auf, sangen und spielten ihre wundervollen, eindringlichen Melodien, während wir Kinder mitsangen und dazu tanzten, so gut wir konnten?! Die Geigenmusik, traurig und fröhlich zugleich, war besonders schön. So angenehm diese Unterhaltung auch war, mussten wir die Musiker doch gut im Auge behalten, denn sie schlichen sich ins Haus und stahlen alles von Wert, was sie finden konnten. Als Goldie eines Tages den außergewöhnlichen Klang einer Geige kommentierte, war sie überrascht und hocherfreut, dass man ihr anbot, sie auf der Stelle zu kaufen. Für einen ungewöhnlich guten Preis. In den Wochen danach übte sie ständig auf dieser Geige, und wir liebten es, ihr dabei zuzuhören. Sie glaubte, es handelte sich um eine Stradivari, ein äußerst seltenes und wertvolles Instrument mit einem ungewöhnlich brillanten Klang.
Goldie Leser, Munkács (1943), Lesser Family Collection
Tuli Leser, Munkács (1939), Lesser Family Collection
Ein paar Wochen später, nach einem weiteren Besuch der Musiker, war Goldie am Boden zerstört, als sie feststellte, dass ihre wertvolle Geige fehlte. Wir fanden schließlich heraus, dass diese »Entertainer« ein und dieselbe Geige immer wieder an verschiedene Familien in der Nachbarschaft verkauften und sie dann ebenso oft wieder zurückstahlen.
Leider habe ich nur sehr wenige Erinnerungen an meinen kleinen Bruder Naftali, den wir Tuli nannten. Er war ein paar Jahre jünger als ich und außergewöhnlich gut aussehend. Manchmal schauten ihn die Leute an, lächelten und bemerkten, er sei viel zu hübsch für einen Jungen. Ich weiß, dass er zu mir aufschaute, und ich, obwohl selbst noch ein Kind, habe immer versucht, mich gut um ihn zu kümmern, wenn wir beide allein waren. Tragischerweise war ich in dem Moment, als es am meisten darauf ankam, nicht in der Lage, gut auf ihn aufzupassen. Das letzte Mal sah ich meinen kleinen Bruder, als er und unsere Schwester Goldie bei unserer Ankunft in Auschwitz-Birkenau von mir fortgerissen wurden. Wir wussten es damals nicht, aber sie wurden in den sofortigen Tod geschickt.
Meine überlebende ältere Schwester Lola, die ich sehr liebe und bewundere, war eine Heldin – nicht nur für mich, sondern auch für die vielen Menschen, deren Leben sie zu retten half, und deren Familien. Bis heute besitzt sie diese Schönheit, Eleganz, Intelligenz und künstlerische Begabung, die ihr bereits als Teenager innewohnte. Lola lebte in Munkács bei unseren Großeltern. Sie liebte es, Bilder zu zeichnen und zu malen, und gewann immer den ersten Preis bei den Kunstausstellungen in der Schule. Ihr wurde sogar ein Vollstipendium für eine renommierte Kunstschule in Amsterdam gewährt, das sie aber leider nie in Anspruch nehmen konnte.
Nach dem Krieg wurde Lola jedoch eine bekannte Künstlerin in Amerika. Eines ihrer ersten Projekte war eine Serie eindringlicher Gemälde, die an die Gefallenen erinnerten. Ihre Arbeiten wurden in vielen Galerien in den USA ausgestellt, sind Teil vieler Privatsammlungen und befinden sich in den ständigen Sammlungen des San Francisco Museum of Art und des Yad Vashem Museums in Jerusalem. Sie ist im »Who’s Who in American Art« aufgeführt, und während ich diese Memoiren schreibe, hat sie immer noch ihre eigene Kunstgalerie »Lola’s Art Gallery« in Brooklyn. Im Jahre 2010, in ihren hohen Achtzigern, hat sie ihre eigenen, sehr bewegenden Memoiren...