E-Book, Deutsch, 436 Seiten
Reihe: Interaktiva
Leschzyk Antiqueere Rhetorik
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-593-45204-3
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie die Bolsonaros in Brasilien ein Feindbild LGBTIQ* konstruieren
E-Book, Deutsch, 436 Seiten
Reihe: Interaktiva
ISBN: 978-3-593-45204-3
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dinah K. Leschzyk, Dr.in habil., forscht und lehrt zu Risiko- und Krisenkommunikation, Diskursanalyse, politischer Kommunikation, Online-Kommunikation sowie Diversität, Diskriminierung und Vertrauen.
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1.Einleitung
Am 1. Januar 2019 trat Jair Messias Bolsonaro das Amt als 38. Präsident Brasiliens an. Dies alarmierte insofern als sich der Politiker stets als zynischer Gegner von Gleichstellung und Antidiskriminierung präsentiert hatte. Extreme Aussagen wie etwa die, dass es ihm lieber wäre, einer seiner Söhne sterbe bei einem Unfall, als dass er sich als schwul oute, zeigen, welchen rhetorischen Stil Bolsonaro pflegt. Die Presse nimmt derart provokative Worte gerne auf und reproduziert sie ins Unendliche, erfüllen sie doch alle aufmerksamkeitsökonomischen Kriterien. Gleichzeitig bezeichnet Bolsonaro sich selbst ausdrücklich als »nicht-homophob« und liefert regelmäßig exemplarisches Bildmaterial, das ihn mit vermeintlich schwulen Freunden zeigt, um seine Selbstbeschreibung zu untermauern.
Zwischen diesen Extremen lassen sich vielfältige verbale Grautöne ausmachen, die von der grundsätzlichen Ablehnung sexualpädagogischen Unterrichts, der sexuelle Diversität einbezieht, über Leugnung und Relativierung von Diskriminierung bis hin zu der Behauptung, Gleichstellungsmaßnahmen seien Privilegien, reichen. Jair Bolsonaro und seine politisch aktiven Söhne – Flávio, Carlos und Eduardo Nantes Bolsonaro – zeichnen ein vielschichtig negatives Bild, wenn es um sexuelle Orientierungen und Genderidentitäten geht, die binären und heteronormativen Vorstellungen nicht entsprechen. Da wiederholt explizit feindliche Äußerungen zusammen mit implizit negativen Stereotypen auftreten, die tiefer gehen als die vereinzelten Extremäußerungen, die unaufhörlich geechot werden, lässt sich die These aufstellen, dass die Bolsonaros mit einem 2 operieren.
Ein 3 bezieht sich auf eine als gegnerisch perzipierte Gruppe (vgl. Pörksen 2005: 51), die einerseits sein muss, gleichzeitig »aber auch nicht zu greifbar sein« darf (Adorno 2018 [1950]: 108), und andererseits auf einer gewissen mit »wohlbekannten Stereotypen« beruht (ebd.), sodass eine historische Komponente zum Tragen kommt. Feindbilder werden und mit ausschließlich und versehen (vgl. Spillmann/Spillmann 1989: 3). Sie werden , ihnen wird und (ebd.).
Die Ausgangsfrage der vorliegenden Studie lautet: Welche diskursiven Strategien und rhetorischen Techniken wenden die Bolsonaros im Rahmen ihrer Feindbildkonstruktion an? wird in dieser Arbeit in aristotelischer Lesart verstanden als Fähigkeit, »das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt«, zu erkennen (Aristoteles 2019 [4. Jhd. v. Chr.]: 12) Es handelt sich folglich um den, wie es Jens Runkehl (2019: 547) im formuliert, »kompetente[n] Gebrauch sprachlicher Mittel zum Zweck der Meinungs- und Handlungsbeeinflussung/-lenkung […].« Dabei bilden redetechnische Überzeugungsmittel den Bestandteil von Rhetorik, der »auf Grund einer Methode durch uns selbst geschaffen werden kann […].« (Aristoteles 2019 [4. Jhd. v. Chr.]: 12) definiert Aristoteles (2019 [4. Jhd. v. Chr.]: 9, 1355a) als »eine Art von Beweis«. Demnach seien »wir am meisten überzeugt, wenn wir annehmen, etwas sei bewiesen […].« Durch redetechnische Überzeugungsmittel werde entsprechend etwas nachgewiesen, »oder zumindest de[r] Anschein erweckt, etwas nachzuweisen.« (Aristoteles 2019 [4. Jhd. v. Chr.]: 12, 1355b) Diese Mittel müssen Aristoteles zu Folge von den Redner:innen erst gefunden werden. Teil dieser redetechnischen Überzeugungsmittel sind und . Diese umfassen neben
»[…] explizite[n], nach den Standards guten oder richtigen Argumentierens überzeugende[n] Argumente[n] […] auch in Aussagen implizit enthaltene und also durch die Analyse erst interpretativ zu erschließende Muster, die argumentative Wirkungen entfalten, ohne daß der Sprecher/Schreiber ›sauber‹ argumentiert hat. Auch unvollständige Realisierungen vollständiger Argumentationsmuster sind nämlich wirkungsvoll oder überzeugungskräftig, weil die vollständige Argumentation vom Sprecher stillschweigend mitgemeint und vom Rezipienten mitgedacht wird.« (Jung/Wengeler 1999: 153)
Die Argumentationsanalyse beinhaltet die Bestimmung rhetorischer Topoi. Ein ist ein »Sachverhaltszusammenhang, der zur argumentativen Begründung konkreter zur Diskussion stehender Positionen herangezogen wird.« (Jung/Wengeler 1999: 154) Für die vorliegende Untersuchung ist der zentral: Immer wieder werden LGBTIQ* als »Gefahr« für Kinder und für die Familie dargestellt. Die so konstruierte erfüllt in Argumentationen dann die Funktion der Begründung von Exklusion und anderen Formen der Diskriminierung.
Auf erkenntnistheoretischer Ebene setzt die vorliegende Arbeit an konstruktivistischen Überlegungen an. In dieser Perspektive gibt es nicht »die« Wahrheit, vielmehr wird Wissen konstruiert. Das, was als »Fakten« unumstößlich erscheint, wird als betrachtet, Wissen also, das im Laufe der Zeit durch gesellschaftliche Aushandlungsprozesse entstanden ist (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011: 46). Diese Prozesse finden innerhalb der jeweiligen Diskursgemeinschaften statt, die aushandeln, was für sie zu einer bestimmten Zeit als »wahr« gilt. Dass Konzepte gesellschaftlich konstruiert und damit veränderbar und folglich temporär sind, wird bei Gender-Themen besonders deutlich: Als »real« proklamierte, »natürliche« Tatsachen werden hier neu verhandelt. Es finden diskursive Verschiebungen statt, und gesellschaftliche »Gegebenheiten« ändern sich. Das zeigt zum Beispiel der Beschluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017, neben und einen weiteren positiven Geschlechtseintrag im Personenstandsrecht einzuführen (vgl. BVerfG 2017). Was dabei so brisant macht, ist das der Kategorie innewohnende Potenzial zur Destabilisierung der Machtordnung, wie Christine Hauskeller (2018: 744) unter Bezug auf Judith Butlers wegweisendes Werk (1991) feststellt: »Butlers Rekonstruktion folgend ist ›Geschlecht‹ eine performative Alltagspraxis, die Machtordnungen stabilisieren oder in Unordnung bringen kann.« (Hauskeller 2018: 744) Im antiqueeren Diskurs spielen Fragen nach und eine besondere Rolle. Hierzu gehören zum Beispiel die Darstellung von Sachverhalten als selbstverständlich und die Frage danach, welches Wissen bei den Rezipient:innen (ggf. auch nur vorgeblich) vorausgesetzt wird. Dabei lässt sich feststellen, dass »Anti-Gender-Akteur*innen [im Kern] definieren [wollen], was richtiges und was falsches, was wichtiges oder unwichtiges Wissen ist.« (Schutzbach u. a. 2018: 18) Überlegungen zur finden hier ihren Ausgangspunkt.
Die Studie zeigt, mittels welcher diskursiven Strategien die Bolsonaros LGBTIQ* ausgrenzen, wie sie Konzepte diskriminierend auslegen, etwa und , und welche spezifisch antiqueeren Begriffsprägungen sie vornehmen. Begleitet wird diese Analyse von der Frage nach den aufgerufenen , auf die rekurriert wird und die sich für die Anti-LGBTIQ*-Kampagne der Bolsonaros als anschlussfähig erweisen. Eingebettet ist die vorgenommene Untersuchung in die Queer Theory, wie Kapitel 2 zeigt, in dem eine als theoretische Rahmung entworfen wird. Erläutert wird hier sowie die damit verbundenen zentralen Begriffe. Ausgehend von und sowie dem mit diesen Konzepten einhergehenden sprachlichen Ausschluss werden drei vorgestellt, die im antiqueeren Diskurs musterhaft verwendet werden. Ausdrücke also, denen unterstellt werden kann, zur Instrumentalisierung für partikulare Interessen verwendet zu werden (vgl. Nullmeier 2009: 9). Wie Frank Nullmeier weiter ausführt, werden diese Zwecke »im Begriff selbst verdeckt und verborgen.« Im Kontext der untersuchten Feindbildkonstruktion handelt es sich dabei um , und . Diese sind in antiqueeren Argumentationen omnipräsent und bilden vielfach die Prämissen von Argumentationen. Ihre...