E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Lerchbaum Zwischen euch verschwinden
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7099-8417-8
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-7099-8417-8
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Immer wieder eine andere werden, um zu verschwinden: Maria flieht vor ihrer eigenen Identität und hinterlässt blutige Spuren.
Wenn die Freiheit plötzlich in greifbare Nähe rückt:
Jetzt ist die Mutter wirklich tot. Endlich Ruhe, endlich nicht mehr gebraucht werden, endlich einen Moment für sie allein. Maria fährt los, gönnt sich zuerst ein Sektfrühstück, dann eine Nacht mit einem Fremden im Hotel. Als sie am nächsten Morgen in die Einfahrt biegt, steht die Polizei vor ihrem Haus. Maria bekommt Panik – und verschwindet.
Zwischen Unsichtbar-Werden und der Angst gefunden zu werden:
Maria wechselt ihre Identitäten, arbeitet mal da mal dort. Immer wieder wird ihre prekäre Situation schamlos ausgenutzt. Sie schwankt zwischen Passivität und Selbstermächtigung, sucht den Weg des geringsten Widerstandes, fügt sich und passt sich ihrer Umwelt geschmeidig an ... so lange, bis es ihr reicht. Dass der Tod ihrer Mutter nicht der einzige Todesfall ist, in den sie involviert ist, und dass Maria nicht nur von der Polizei gesucht wird, lässt das Spiel mit der Identität zur Überlebensstrategie werden.
Ein Kriminalroman, der die Augen für die Schicksale der Ungesehenen öffnet:
Gudrun Lerchbaum nimmt uns mit auf eine rasante Reise entlang der Schicksale jener Frauen, die ungesehen bleiben: da ist die pflegende Angehörige schwerkranker Eltern, da ist die Kellnerin in Schwarzarbeit, die ausgebeutet und erpresst wird, da ist die Ehefrau, die sich vor ihrem prügelnden Mann ins Frauenhaus rettet, und die 24-Stunden-Pflegekraft, von der viel mehr als nur Pflege erwartet wird.
Marias Wechselspiel aus Passivität und radikalen Befreiungsschlägen lässt sie dich spüren: die Hilflosigkeit und den lodernden Zorn, die aus Ungerechtigkeit und Unterdrückung entstehen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Jetzt ist die Mutter wirklich tot. Maria sitzt auf dem Bett, umgeben von Libellen. Über einem Paar weißgeränderter Flügel liegt ihr Zeigefinger. Die Landschaft der Adern und Sehnen auf ihrem Handrücken tritt im flachen Schein der Nachttischlampe plastisch hervor. Seit ihrer Kindheit liebt Maria Libellen. Einen Moment lang scheinen die stilisierten Umrisse noch über dem blassblauen Untergrund zu schweben, dann lassen sie sich nieder, reihen sich ein in das strenge Raster, nichts als ein Muster auf billiger Bettwäsche. Gleich nach dem Frühstück ist sie damals los zum Diskonter, um noch zwei Garnituren zu ergattern. Die schönen Sachen sind immer schnell vergriffen. Ihre Hand, im Gegensatz zu den Libellen alles andere als zart, eine Arbeitshand, gräbt sich noch immer in den Kissenbezug und die Federn darunter. Maria löst ihren Griff, streicht die Libellen glatt, zupft an einer Daune, deren Kiel sich durch das Gewebe bohrt, und bläst sie von der Kuppe des Zeigefingers. Ihre Finger mit den kurzgeschnittenen Nägeln sind von der Art, die schlecht Ringe tragen kann, weil das Mittelgelenk dicker ist als der Knochen dahinter. Nach dem Scheitern ihrer Ehe hat sie sich den Ring vom Finger schneiden lassen, weil er sich weder mithilfe von Seife noch Handcreme hatte entfernen lassen. Wie sie sich an jeden vorbeihuschenden Gedanken klammert. Nie zuvor ist ihr beispielsweise aufgefallen, dass Denken Spuren erzeugt, fedrige Klänge, die durch den Raum flirren. Es muss an der Stille liegen. So still ist es um sie herum, dass sie ein Dröhnen in ihrem Inneren hört, das sie noch nie zuvor vernommen hat. Kein Rauschen des Blutes, eher ein grollendes Wummern, als fräße sich zehn Meter unter der Erdoberfläche ein Tunnelbohrer durch Granit. Dazu gesellt sich ein anschwellendes Pfeifen im linken Ohr. Wie soll es weitergehen? „Wie soll es weitergehen?“, flüstert sie. Das Pfeifen wird leiser, erstirbt. Maria stemmt sich hoch, pflügt mit schleppenden Bewegungen durch den Raum wie durch ein Wasserbecken. Behutsam öffnet sie die zimtfarbenen Vorhänge, dann die Stores, achtet darauf, dass sich die Haken nicht in der Schiene verkeilen. Selbst die kleinste Panne wäre imstande, den Rest an Fassung zu sprengen, die sie sich bewahrt hat und weiter bewahren muss. Sie öffnet das Fenster, holt tief Luft, stellt sich vor, wie die Stille und alles Leid, das ihr vorausgegangen ist, gegen ihren Rücken branden, sie umspülen und an ihr vorbei ins Freie fließen, um sich im Graugelb der Morgendämmerung aufzulösen. Sie schließt das Fenster und die Stores. Auf dem Weg zurück zum Bett gerät der Raum aus dem Gleichgewicht. Alles dreht sich, der Messingkronleuchter mit den falschen Kerzen, die Blumentapete, die Möbel in Eichendekor mit naturweißen Akzenten, die goldgerahmten Drucke aus dem Möbelhaus. Maria taumelt gegen die Kommode, stößt sich die Hüfte am Ladengriff, reißt um ein Haar die Kristallschale zu Boden, weil sie sich mit einem Finger in der Häkeldecke darunter verfängt. Ihre Nase, ihr ganzes Gesicht fühlen sich taub an. All das Zeug, das hier herumsteht, Braun und Beige, wohin sie blickt. Farbtöne, die für Behaglichkeit stehen sollen. Sie lauscht auf ihren keuchenden Atem, bis der sich beruhigt, wartet, dass die umherwirbelnden Dinge sich wieder an ihre Plätze verfügen. Jemand sollte die Vorhänge von den Fenstern und die Tapeten von den Wänden reißen und alles entsorgen. Maria sitzt wieder auf dem Rand des Bettes, umgeben von Libellen. Sie hält den Atem an, fasst das Kissen mit beiden Händen, drückt es an die Brust und zwingt sich hinzusehen. Erleichtert atmet sie aus. Das Gesicht der Mutter ist schlaff und völlig ausdruckslos, die Augäpfel unter den halbgeschlossenen Lidern matt und leer, der Mund steht offen. Weder die Leiden der letzten Jahre noch die Mühsal des Sterbens haben sich ihren Zügen eingeprägt. Vor Maria liegt ein erlöster Körper, frei von den Qualen der Existenz. Dabei hat die Mutter sich nach Kräften gegen das ersehnte Ende gewehrt. Vergeblich schließt Maria die Augen vor der Erinnerung. Wie die Mutter sich aufgebäumt hat, als die Luft ausblieb, das Entsetzen in ihrem Blick, das Zucken und Röcheln. Und jede Möglichkeit, ihr zu einem weiteren Atemzug zu verhelfen, erschöpft. Kein Wunder, dass Marias Kopf angesichts dieser Qualen kapituliert hat, dass sie wieder einmal einen ihrer Aussetzer hatte. Wie lange sie bewegungslos auf dem Bettrand gesessen ist, kann sie nicht sagen. Hat sie das Kissen unter dem Kopf der Mutter hervorgezogen und auf ihr Gesicht gelegt, um sie nicht tot sehen zu müssen, oder schon zuvor, um sie nicht länger leiden zu sehen? Sie erinnert sich nicht. Fast sicher ist sie hingegen, dass sie es nicht fertiggebracht hat zuzudrücken, sich auf das Kissen zu werfen und dem Elend endlich ein Ende zu machen, obwohl die Mutter sie wieder und wieder angefleht hat, genau das zu tun. Behutsam streichelt sie die knittrige Wange der Mutter. Ihre Haut fühlt sich kühl an wie ein alter Lederhandschuh. Die Matratze schwankt. Marias Hand zuckt zurück, ihr Herz stolpert, rast – die Mutter hat sich bewegt! Erst als das Surren verstummt, begreift sie. Wie hat sie das vergessen können? In regelmäßigen Abständen pumpt der Motor die Luftkammern der Matratze auf und entlüftet andere, um dem Wundliegen vorzubeugen. „Das ersetzt zwar nicht regelmäßiges Umlagern, doch jede Hilfe zählt bei der Betreuung einer bettlägerigen Patientin“, hat Doktor Dobler gesagt, als Maria vor viereinhalb Jahren nach dem Schlaganfall der Mutter eingezogen ist. Zwar war die Mutter schon vorher mit Krankheiten reichlich bedient gewesen, doch erst seit damals war dauernde Betreuung nötig, die Maria zwar nicht rund um die Uhr beschäftigt, aber doch wirkungsvoll von jeder anderen Tätigkeit abgehalten hat. Dass die Matratze nun weiteratmet, obwohl der Mutter die Luft weggeblieben ist, geht zu weit. Maria geht zum Fußende des Bettes und schaltet das Gebläse aus. Ob die Seele durch das Fenster entwichen ist? Doch wie hätte sie durch das Kissen auf dem Gesicht entkommen sollen? Maria versucht, sich zu öffnen für eine eventuelle Restpräsenz der Mutter, spürt nichts. Dennoch hebt sie, gegen den Widerstand der einsetzenden Totenstarre, Kopf und Schultern der Mutter an, bettet sie auf das Kissen. Auch die Lider wehren sich gegen ihre Daumen, wollen nicht schließen. Erneut öffnet Maria Vorhänge und Fenster, nur zur Sicherheit. Die Mutter hat sich jede Freiheit verdient. Viel zu lange war sie hier eingesperrt, in diesem Haus, in diesem Körper. Es ist höchste Zeit, den Arzt zu verständigen. Oder soll sie warten, bis die Praxis öffnet? Sie könnte im Internet nach der korrekten Vorgangsweise suchen, doch das kommt ihr lieblos vor. Ein wenig wird sie noch bei der Mutter sitzen bleiben. Da der Leichnam schon erstarrt ist, gibt es keinen Grund, Doktor Dobler aus dem Schlaf zu reißen. Insgeheim wird er froh sein, dass sie ihn hat schlafen lassen. „Na, na, na“, wird er sagen und an der Tür beiläufig ihre Schulter tätscheln. Noch nie hat er ihr in die Augen gesehen und trotz seiner häufigen Besuche bezweifelt Maria, dass er sie auf der Straße erkennen würde. „Sie trifft nicht die geringste Schuld, Frau Arnold!“, wird er ihr versichern, als hätte er das zu entscheiden. „Eher früher als später war damit zu rechnen, wenn wir ehrlich sind, nicht wahr. Ihre liebe Mutter hat das Ende seit Jahren herbeigesehnt.“ Als wüsste Maria das nicht. Als müsste erst der Doktor seinen Stempel auf jede Wahrheit drücken. Und dann wird zwischen ihnen die Erinnerung daran aufsteigen, wie die Mutter ihn vor einigen Wochen angefleht hat, sie totzuspritzen, wie sie es genannt...