Lerchbaum | Niemand hat es kommen sehen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 270 Seiten

Lerchbaum Niemand hat es kommen sehen

Kriminalroman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7099-8453-6
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Kriminalroman

E-Book, Deutsch, 270 Seiten

ISBN: 978-3-7099-8453-6
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wenn aus einer Frau wie du und ich die "Waldviertler Elektra" wird. Ihre Geschichte macht Schlagzeilen, die grell und laut sind. Maria bleibt leise.

Erst bemerkt sie niemand, dann haben alle ein Bild von ihr.

Die dörfliche Gerüchteküche brodelt in Eichschlag, auch durch die Medien zieht sich die wundersame Geschichte: Eine Frau, die ein Jahr verschwunden war, ist wieder aufgetaucht. Leidet aber an Amnesie – behauptet jedenfalls sie selbst. Was in den letzten Monaten passiert ist, wo sie war, weiß sie nicht. Was sollen da bloß die Leute denken? Vor allem, da kurz vor Marias Verschwinden ihre pflegebedürftige Mutter gestorben ist. Der Hausarzt spricht es laut aus: Hat sie ihre Mutter umgebracht? Doch selbst als weitere Vorwürfe auftauchen, bleibt Maria stumm. Was soll sie ohne Erinnerung denn sagen?

Je ausgiebiger sie schweigt, desto maßloser sprechen die anderen. Maria wird zur Projektionsfläche: Hure, Muttermörderin. Aber ist sie auch wirklich Täterin – jetzt, wo sogar das Landeskriminalamt gegen sie ermittelt?

Was würde eine wie Maria tun, wenn es nötig ist?
Wer ist Maria wirklich? Und, viel wichtiger: Was hat sie getan? Diese Frage beschäftigt die Ermittler*innen ebenso wie die Medien und die Menschen im Dorf. Besonders Marias Schulfreundin Rafaela kann die Anschuldigungen nicht glauben – das passt doch nicht zu der Person, die sie zu kennen glaubt. Aber auch der junge Journalist Lando interessiert sich für Maria und ihre Geschichte: Hat sie doch in den ausbeuterischen Strukturen gearbeitet, über die er recherchiert. Alle versuchen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Oder zumindest Teile davon. Was sie dabei ausheben, hat Potenzial: Indem Maria nicht spricht, sagt sie etwas über andere. Und diese anderen Frauen schlagen zurück – können sie ihre Solidarität zu einer Waffe machen?

Dingfestmachung der Identitäten-Jongleur*innen?
Egal was ihr Umfeld, die Kolleg*innen, das Dorf, der Boulevard – die anderen eben – über sie sagen: Die unscheinbare Maria, die ruppige Chefinspektorin Mel oder auch Lando, der als Wiener Journalist für eine deutsche Zeitung schreibt, bleiben sich nicht nur treu. Sie erfinden sich darüber hinaus auch immer wieder neu, anders. Verbergen sie so Brüche und Risse, Unrecht oder Kummer? Oder haben sie einfach Lust am Spiel mit verschiedenen Versionen ihrer selbst? Gudrun Lerchbaum schreibt ihre Charaktere nicht fest: Sie bleiben wandelbar, wendig und in Bewegung. Ihr Spiel mit Perspektivenwechseln, Innensichten und Blicken von außen zieht uns in den Bann, ihre Charaktere begleiten uns auch über die letzte Seite hinaus. Denn so eine wie Maria, so eine sind wir doch alle irgendwie. Die Pflege der kranken Mutter, prekäre Arbeitsbedingungen, eine von Gewalt geprägte Beziehung – Marias Geschichte kommt uns schnell bekannt vor. Umso mehr lässt sie uns hoffen: auf die Stärke von Freundinnenschaft und vielleicht auch auf Gerechtigkeit.

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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Teil 1
1
Es klingelt. Schon wieder. Dabei hat Maria reichlich zu tun und ist erst vor einer knappen Stunde den Doktor losgeworden. Richtig lästig wird ihr der inzwischen, schaut jede Woche mehrmals vorbei und lässt sich mit Kaffee und Kuchen füttern wie damals, als die Mutter noch sterbenskrank nebenan lag. Als wäre Maria nie weg gewesen. Als hätte er sie vermisst. Dabei hat er sie damals außerhalb der gewohnten Umgebung nicht einmal erkannt, als sie sich einmal über den Weg gelaufen sind. Was so ein bisschen öffentliche Aufmerksamkeit ausmacht, um die Blicke zu lenken. Denn sosehr er sie auch anflirtet – sie ist nicht so blöd zu glauben, dass es ihm um sie geht. Das Geheimnis ist es, das Rätsel, das sie mitgebracht hat. Nie hätte sie damit gerechnet, dass ihre Rückkehr nach Eichschlag derart viel Aufsehen erregen würde. Sie ist weggegangen, und jetzt ist sie halt wieder aufgetaucht. Hat sich schließlich vorher auch niemand groß um sie gekümmert. Soll sie zur Tür gehen? Sicher ist es der Doktor. Vielleicht irrt sie sich doch, was seine Gefühle betrifft. In dem benebelten Zustand zwischen Langeweile und Übermüdung, in den sie sich in den Jahren der Pflege hat fallen lassen, ist ihr sein Interesse womöglich entgangen. Dabei hätte der geringste Hinweis genügt und sie wäre nach seinen Visiten bei der Mutter sogar über ihn hergefallen. Immer nur Fantasiesex ist ja auf Dauer auch nichts. Fantasien über den Hannes vom Sägewerk und den Nachbarn gegenüber, den Brunner vom Fischerei- und Jagdbedarf und sogar ganz klassisch über den Briefträger. So ausgehungert ist sie gewesen. Nur den Doktor mit seinem steif pomadisierten Haarhelm und dem moorigen Körpergeruch hat sie ausgelassen, obwohl er wie sie um die vierzig ist oder höchstens ein paar Jahre älter. Inzwischen hat sie zum Glück andere Optionen. Gut möglich, dass er jetzt die angedrohte Flasche Wein bringt, die man dann gemeinsam trinken kann, und wer weiß. Sein Pech, dass das Klingeln bei geschlossener Tür in der Küche kaum zu hören ist. Wenn man es überhaupt Klingeln nennen kann. Eher ist es ein kränkliches Rasseln, das die blecherne Glocke im Flur von sich gibt. Maria trocknet sich eine Hand an der Hose ab und dreht das Transistorradio auf, das der Mutter vom Aufstehen bis zum Schlafengehen Gesellschaft geleistet hat. Transistorradio hat die Mutter immer gesagt, dabei ist es ein ganz normales Radio, nur alt. Alt und auch staubig, wie ihr gerade auffällt. Mit dem Schwammtuch fährt Maria noch einmal am Rand des Cognacglases entlang, bevor sie es unter fließendem Wasser spült und zum Abtropfen auf dem Geschirrtuch abstellt. Flüchtig wischt sie über die Oberflächen des Radios. Eine gründliche Säuberung der Knöpfe und des Gitters vor dem Lautsprecher hat ohne Wattestäbchen und Fettlöser gar keinen Sinn, und wenn sie jetzt damit anfängt, kommt sie aus dem Tritt. Mit dem ausgeleierten Ärmel streift sie sich die Haare aus der Stirn. Ihr himmelblauer Lieblings-Hoodie hat in der Wäschekiste das ganze Jahr über auf sie gewartet. Sie krempelt die Ärmel noch ein Stück weiter hinauf bis über die Ellbogen. Den muffigen Geruch hat der Pulli trotz mehrerer Waschgänge leider noch nicht ganz verloren. Wie auch. Das ganze Haus riecht nach Verfall. Nach ihrer Rückkehr hat sie als Erstes die Wäsche gemacht. Nein. Zuvor hat sie noch das Bett der Mutter abgezogen. Sie hatten die tote Mutter mitgenommen und die Bettwäsche, in der sie gestorben war, hatten sie dagelassen. Nicht, dass man etwas anderes erwarten konnte. Aber gegruselt hat es Maria doch, und deshalb hat sie die Bettwäsche auch nicht gewaschen, sondern weggeworfen, obwohl es die mit den Libellen gewesen ist. Heute sind die guten Gläser aus der Vitrine im Wohnzimmer dran. Die Mutter hat sie von ihrer Mutter bekommen und die wieder von ihrer Mutter, die in Wien im Dienst gewesen war bei der Erzherzogin Valerie. Erzherzogin Valerie, diese Worte mussten immer andächtig gehaucht werden, weil das die Tochter von Kaiserin Sisi und Kaiser Franz-Joseph gewesen ist. Noch immer tut Maria sich schwer zu glauben, dass diese Figuren wirklich einmal gelebt und Cognac getrunken haben. Oder eben nicht, weil die, psst, Erzherzogin Valerie die Gläser schließlich verschenkt hatte. Benutzt hat sie seither niemand, viel zu empfindlich. Kaum zu glauben, was für eine schmierige Dreckschicht sich über die Jahrzehnte selbst hinter Glastüren auf den Dingen bildet. Vor lauter Grind ist Maria nie aufgefallen, dass Tiere hineingeätzt oder -geschliffen sind, in jedes Glas ein anderes: Reh, Hirsch, Ente, Rebhuhn, Wildschwein, Hase. Alle tot. Daneben jeweils ein stolzer Jäger. Sie stellt das letzte Glas neben die anderen, trocknet die Hände ab und greift nach dem Tablett, um die nächste Ladung aus dem Wohnzimmer zu holen. Es wird Leute geben, die für Gläser so edler Herkunft ordentlich etwas bezahlen, und bald ist es so weit. Einen Flohmarkt wird sie veranstalten, alles raus, und dann das Haus verkaufen und endgültig wegziehen. Obwohl sie erst seit wenigen Wochen wieder zurück ist, kann sie es kaum erwarten. 2
„Hörst du das auch?“ Theo neigt den Kopf und versucht zu ergründen, woher das Geräusch kommt. Das fängt ja gut an. Kaum losgefahren, und schon ist was mit dem Dienstwagen. Dabei ist der angeblich gerade erst gewartet worden. „Was soll ich hören?“ „Na, dieses Klacken.“ „Was weiß ich, wahrscheinlich der Vergaser.“ Mel zieht die Lippen zwischen die Zähne. „Bitte, Mel! Das ist kein Rasenmäher. Vergaser gibts nicht mehr.“ „Dann ist es ja kein Wunder, dass ich nichts hör.“ Macht sie sich über ihn lustig? „Erzähl lieber weiter, was das für eine ist, für die ich jetzt stundenlang bei dem Mistwetter durch die Gegend fahren darf. Wäre das nicht eher eine Angelegenheit der niederösterreichischen Kolleginnen?“ „Klack! Das hast du jetzt aber schon gehört, oder? Klack, da wieder! Der Stoßdämpfer rechts hinten, oder?“ „Genau. Also …“ Theo saugt Luft in Bauch und Flanken, versucht den Ärger auszuatmen. Er kann es nun einmal nicht ausstehen, wenn Technik nicht funktioniert. Und genauso wenig, dass Mel immer so knapp blinken muss beim Überholen. Man kann den anderen doch ein wenig mehr Zeit lassen. Noch ein tiefer Atemzug. Er hätte doch noch eine rauchen sollen vor der Abfahrt. „Okay. Eine schräge Geschichte. Über ein Jahr lang war die verschwunden. Und wenn ich sage verschwunden, dann mein ich: komplett von der Bildfläche getilgt. Sie hat keine Kreditkarte verwendet, kein Zimmer gebucht, keinen Arzt aufgesucht. Ihr Telefon wurde Tage nach ihrem Verschwinden in der Nähe ihres Autos mitten im Wald gefunden. Und ausgerechnet kurz vor Weihnachten taucht sie dann wieder auf wie aus dem Nichts, steigt mitten in ihrem Heimatkaff aus dem Bus, als wäre nichts gewesen.“ Klack! Da war es wieder. Gibts ja nicht, dass Mel das nicht hört, dass es sie nicht wahnsinnig macht! Als Fahrerin ist schließlich sie für das Fahrzeug verantwortlich. Er räuspert sich. „Und dann heißt die auch noch Maria! Ausgerechnet zu Weihnachten.“ Mel schnaubt. „An jedem anderen Tag heißt sie genauso. Dafür kann sie nichts.“ „Was bist du eigentlich so grantig?“ „Ich? Hör dir mal zu. Außerdem – hast du das mitgekriegt vorhin mit dem Reinhard, von wegen, wenn er lesbisch wäre, hahaha, würde er sich freuen, wenn man ihn Rambo nennt.“ „Geh, bitte! Der Reini braucht immer ein bisserl, bis er sich an neue Kollegen gewöhnt. Und Kolleginnen. Und du heißt halt einmal Ramsauer, da führt an dem Kampfnamen kein Weg vorbei.“ „Jaja, schon gut.“ Als er gehört hat, dass Mel die Abteilung verstärken würde, hat er sich darauf gefreut, mit ihr zusammenzuarbeiten. Sie kennen sich seit dieser Sache damals mit den Menschenhändlern. Da ist sie seine Kontaktperson in der Abteilung für Sexualstraftaten gewesen, und nichts versteht er besser als ihren Wunsch, von dort wegzukommen. Jetzt ist er nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee gewesen ist, sie an ihrem zweiten Arbeitstag in der Ermittlungsgruppe Leib und Leben gleich auf eine so lange Fahrt mitzunehmen. Reini wäre schließlich auch frei gewesen. Mit dem hätte er sich stundenlang über das Geräusch hinten rechts unterhalten können. „Warum lachst du?“ „Nur über mich selber. Also, zurück zum Fall. Bitte geh mir nicht gleich feministisch an die Kehle, aber in meinen Augen ist diese Maria Arnold ein typisches Opfer. Eine, wie alle Frauen früher waren. Eine, die sich nicht auflehnt, die nimmt, was kommt, was man ihr zuteilt. Eine, die die Arbeit sieht, wie meine Mutter es genannt hat. So eine hätte sie gern als Schwiegertochter gehabt. Aus der Zeit gefallen. Oder eher steckengeblieben.“ „Soso, eine wie alle. Frauen. Früher. Kennst du die oder warum weißt du so genau Bescheid?“ „Sie persönlich nicht, aber ich kenn den Typ. Eine brave Frau, wie man so sagt, pflichtbewusst, bringt den Mund kaum...


Gudrun Lerchbaum, geboren in Wien und aufgewachsen zwischen Wien, Düsseldorf und Paris ist nicht nur eine facettenreiche Autorin – sie hat schon Glasfasermatten verladen, als Aktmodell posiert, Weihnachtskarten designt und viele Jahre als Architektin und freischaffende Künstlerin gearbeitet. Ihr literarisches Schaffen kennzeichnet sich durch starke Frauenfiguren, die ihren Weg finden, und durch das Aufgreifen sensibler gesellschaftlicher Fragestellungen inmitten einer packenden Handlung. Ihre Sprache fesselt, rüttelt wach, zeichnet und verwischt Konturen von Protagonist*innen, die uns auch nach dem Lesen noch lange begleiten. So auch im 2022 erschienen Roman "Das giftige Glück": Lerchbaum versetzt eine Stadt in Ekstase und fragt, was zu einem selbstbestimmten Leben gehört. In "Zwischen euch verschwinden" (Haymon 2023) folgt sie der Spur einer Frau, die viele Frauen ist: Nach dem Tod ihrer Mutter wechselt Maria ihre Identitäten auf der Flucht vor sich selbst. Mit "Niemand hat es kommen sehen" schließt sie an Marias Vorleben an, wechselt die Perspektiven und stellt die Frage nach der Macht einer Geschichte.



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