E-Book, Deutsch, 300 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Leonhardt Mit dem Wind
Version 1.V01
ISBN: 978-3-8437-2071-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 300 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-2071-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Paula Leonhardt, Jahrgang 1963, ist das Pseudonym einer bekannten deutschen Autorin. Sie schreibt gern über Frauen, die unerschütterlich, neugierig und meistens auch unangepasst ihren Weg gehen. Paula Leonhardt lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Nienburg.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1.
Rosa hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und duckte sich unter ihren dunklen Regenschirm. Seit dem frühen Morgen regnete es ununterbrochen, die Wolken hingen tief und schwer an einem dunkelgrauen Himmel. Kaum zu glauben, dass Juli war, Hochsommer.
Sie blinzelte gegen den Regen an und seufzte. Noch vor wenigen Tagen, kurz vor dem Tod ihrer Mutter, war sie bei strahlendem Sonnenschein nach Charlottenburg gefahren und hatte sich einen Film mit Marlene Dietrich angesehen. »Du brauchst ein bisschen Ablenkung«, hatte ihre Mutter gemeint. »Ich wünschte, ich könnte mitkommen.«
Rosa war den ganzen Abend unruhig gewesen. Kam ihre Mutter wirklich allein zurecht?
Hinterher hatte sie ihr alles genau geschildert, und ihre Mutter hatte mit geschlossenen Augen gelauscht. »Ist die Dietrich nicht eine unglaubliche Frau?«
Rosa öffnete ihre Handtasche und nahm ein Taschentuch heraus, um sich die Tränen abzutupfen. Eine unglaubliche Frau, ja, genau wie ihre Mutter.
Sie schaute sich auf dem Friedhof um. Außer ihr waren nur der Pfarrer und ein älteres Ehepaar anwesend, Nachbarn aus dem Nebenhaus.
Erneut wischte sie sich mit dem Taschentuch über die Augen.
Sie vermisste das laute, fröhliche Lachen ihrer Mutter, das stets alle angesteckt hatte, ihre vor Übermut blitzenden Augen und ihr »Ich habe Lust auf ein Schwätzchen, Rosa«, wenn sie überraschend in der Tür gestanden hatte.
Als der Pfarrer die Erdschaufel nahm, sah Rosa eine Frau mit eiligem Schritt den Weg entlangkommen, in der Hand einen Strauß weißer Lilien, die ein kleines Vermögen gekostet haben mussten. Sie trug ein dunkles Kostüm und einen Hut mit schwarzer Spitze. Darunter war graues Haar zu sehen, das zu einem Knoten aufgesteckt und von einzelnen blonden Strähnen durchzogen war. In einigem Abstand stellte sie sich neben Rosa, den Kopf gesenkt. Wer war diese Frau?
Rosa schaufelte Erde auf das Grab und wandte sich langsam ab. Sie beschloss, die Frau zu fragen, ob sie eine alte Freundin ihrer Mutter war.
In diesem Moment drehte sie sich zu ihr um, sah sie lange an und blinzelte schließlich, als ihr aufzufallen schien, wie gebannt sie Rosa angestarrt hatte. »Sie müssen ihre Tochter sein.« Als Rosa nickte, trat sie einen Schritt näher. »Wie ähnlich Sie Ihrer Mutter sind. Ich wollte nicht unhöflich sein. Sie fragen sich bestimmt, wieso ich Sie so anstarre.«
»Zunächst mal frage ich mich, wer Sie sind.«
»Verzeihung, natürlich. Mein Name ist Aurelie Wagner. Ich bin eine Bewunderin Ihrer Mutter. Ich meine, ich war eine Bewunderin.«
Rosa war gerührt. »Eine Bewunderin.« Sie nickte traurig. »Viele ihrer Bewunderer sind nicht zu ihrer Beerdigung gekommen.«
»Das ist wahr. Ein Jammer. Sonntag für Sonntag haben sie Ihrer Mutter zugejubelt und ihren Wagemut bestaunt. Und nun stehen wir beide hier fast ganz alleine.«
»Kannten Sie meine Mutter?«
»Kennen … nun ja, das wäre zu viel gesagt.« Aurelie Wagner räusperte sich, eine leichte Röte überzog ihre Wangen.
»Aber Sie sind ihr begegnet?«
Die Frau senkte den Blick und nickte.
Rosa war irritiert. Hatte Aurelie Wagner ihre Mutter vielleicht doch besser gekannt, als sie zugab?
Der Regen nahm zu, und Rosa wäre am liebsten schnell nach Hause gegangen, doch sie wollte die Frau nicht einfach so stehen lassen. Immerhin hatte Aurelie Wagner es auf sich genommen, bei diesem scheußlichen Wetter hierherzukommen, um ihrer Mutter die letzte Ehre zu erweisen. »Es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, dass Sie hergekommen sind. Ich weiß das zu schätzen.«
»Es war mir ein Bedürfnis, Frau … Fräulein …«
»Sagen Sie einfach Rosa zu mir.«
»Rosa.« Die Frau lächelte. »Ein schöner Name.«
Irgendetwas an ihr machte Rosa neugierig.
Frau Wagner streckte die Hand aus. Wollte sie gehen?
In diesem Moment traf Rosa eine spontane Entscheidung, etwas, das ihr normalerweise schwerfiel. Sie dachte gern in Ruhe über etwas nach. »Es wird keinen Leichenschmaus geben, Frau Wagner. Aber vielleicht darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen?«
»Das ist wirklich nicht nötig. Ich möchte mich nicht aufdrängen.«
»Das tun Sie nicht. Ich würde mich freuen.«
Einen Augenblick schien Aurelie Wagner noch zu zögern, dann nickte sie. »Ich nehme Ihre freundliche Einladung an.«
Rosa blickte missmutig in den Himmel. »Wir sollten uns beeilen. Kommen Sie, bevor wir noch ganz nass werden.«
»Sind Sie verheiratet?«, fragte Aurelie Rosa, als sie wenig später die Friedhofspforte hinter sich zuzogen.
Rosa schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Ich war mit einem gutherzigen Mann verheiratet«, erzählte Aurelie ihr. »Gott hab ihn selig.« Sie musste einer Pfütze ausweichen und schimpfte leise. »Was für ein Wetter!«
»Es passt zu meiner Stimmung.«
»Sie standen Ihrer Mutter sehr nah.«
Rosa nickte. »Sind Sie aus Berlin?«, fragte sie dann.
»Nein, aber mein Mann war Berliner. Wir haben einige Jahre in Amerika gelebt und sind wieder hierhergezogen, als er krank wurde.« Aurelie sah traurig aus. Offenbar litt sie noch immer unter dem Tod ihres Mannes. »Ich mag die Stadt. Und Sie? Leben Sie gerne hier?«
»Nicht immer. Die Winter hier kommen mir grauer und trüber vor als anderswo.« Rosa lächelte kopfschüttelnd. »Meine Mutter hat immer gelacht, wenn ich davon sprach. Sie mochte Berlin sehr, vor allem diesen Stadtteil. Weil er so grün ist und wegen der Seen. Sie fühlte sich nicht nur in der Luft pudelwohl, sondern auch am Wasser.«
Rosa schüttelte erneut den Kopf, um das Bild, das sie vor Augen hatte, zu verscheuchen: ihre Mutter und sie am Tegeler See, beide mit nackten Füßen, einen Strohhut auf dem Kopf, die Taschen voller Kieselsteine.
»Ist alles in Ordnung?« Aurelie sah sie fragend an.
»Verzeihung, ich musste nur gerade an etwas denken.«
Ein Mann kam ihnen entgegen, lupfte seinen Hut zum Gruß und blieb stehen. »Mein Beileid. Ihre Frau Mutter war eine patente, beeindruckende Frau.«
Rosa nickte ihm zu. »Vielen Dank, Herr …« Sie überlegte, woher sie ihn kannte. Und wie sein Name war.
»Berthold Specht. Nicht zu verwechseln mit Bertolt Brecht.« Er grinste spitzbübisch, wurde aber gleich wieder ernst. »Wann ist die Beerdigung?«
»Heute. Wir kommen gerade vom Friedhof.«
Er stutzte, kratzte sich am Kinn und brummte dann etwas wie »Ach, herrje aber auch«. Vermutlich war es ihm unangenehm, denn er lupfte wieder seinen Hut und machte, dass er davonkam.
Aurelie blickte ihm stirnrunzelnd hinterher. »Es stand in der Zeitung, dass Ihre Mutter heute bestattet wird.«
»Es wird ihm nicht wichtig genug gewesen sein. Kommen Sie, es ist nicht mehr weit.«
Schweigend gingen die beiden Frauen weiter, jede unter ihrem Schirm.
»Ich wohne gleich dort drüben.« Rosa zeigte nach rechts.
In diesem Augenblick fiel ihr ein, woher sie den Mann von eben kannte. Er hatte im selben Haus wie ihre Mutter gewohnt, in der Wohnung über ihr.
Rosa hielt Aurelie die Haustür auf. Es war düster im Treppenhaus, und es roch nach Bohnerwachs und Zigaretten. Rosa rümpfte die Nase. »Sehen Sie sich vor, dass Sie nicht ausrutschen. Frau Gerold ist immer sehr gründlich.«
Ihre Mutter hatte oft über die »preußische Gründlichkeit« ihrer Nachbarin gelacht und war wie ein junges Mädchen über den spiegelglatten Steinfußboden geschlittert, den langen Rock mit beiden Händen gerafft. Rosa dagegen war schon zweimal ausgerutscht und hingefallen. Sie hatte weder den Mut und die Abenteuerlust ihrer Mutter noch deren Geschicklichkeit geerbt.
Sie schloss die Wohnungstür auf und ließ Aurelie Wagner eintreten. Die Türen zu den Zimmern standen offen, eine Angewohnheit, die Rosa nicht ablegen konnte.
»Geben Sie mir Ihren Schirm«, bat sie Aurelie.
Sie nahm die tropfnassen Regenschirme und ging damit in das winzige Bad. Dort schüttelte sie sie aus und stellte sie in die Badewanne.
Als Rosa zurückkam, sah sie, wie Aurelie aus ihrer Kostümjacke schlüpfte, sich umschaute und zu der niedrigen Flurkommode ging, auf der zwei Bilderrahmen standen. Darin Fotografien von Rosa und ihrer Mutter, Wange an Wange und breit lächelnd. »Sie sehen sich wirklich sehr ähnlich.«
»Äußerlich habe ich viel von ihr geerbt, ja.« Beide hatten das gleiche volle dunkle Haar und die...