E-Book, Deutsch, 463 Seiten
Lenz Die Klangprobe
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-455-81083-7
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 463 Seiten
ISBN: 978-3-455-81083-7
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ehe der Bildhauer oder Steinmetz sein Material, den Stein, bearbeitet, unterzieht er ihn einer Klangprobe: Durch den Nachklang erfährt er, ob der Block Fehler, Hohlräume, Risse oder Einsprengungen aufweist. Siegfried Lenz unterwirft auch die Personen seines Romans einer Klangprobe: Er konfrontiert sie mit dem Phänomen des Zerfalls. Indem er die Geschichte des Steinmetzes Hans Bode und seiner Familie erzählt, zeigt er die Vergänglichkeit unserer Welt auf.
Diese E-Book-Ausgabe von "Die Klangprobe" wird durch zusätzliches Material zu Leben und Werk Siegfried Lenz' ergänzt.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
Anhang
Über Siegfried Lenz
Impressum
I
Über Nacht hatten sie wieder mal sein Meisterwerk versaut, die – wie ich glaube – gelungenste Figur, die er jemals gemacht hat, den »Wächter«. Ich sah es schon von der Bushaltestelle aus, erkannte es an den Leuten, die sich vor dem mittleren Rosenbeet, das mit kalkweißen Steinen umlegt war, versammelt hatten und zu der überlebensgroßen Figur hinaufglotzten, grinsend und amüsiert und bestens unterhalten. Sie stießen sich an, sie hatten sich Erheiterndes zu zeigen – alte Kerle zumeist und kurzhalsige Frauen mit Plastiktüten und vollgestopften Einkaufstaschen –, und hier und da steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten etwas, das ihre gute Laune wach hielt. Wie immer, wenn es darauf ankommt, standen die Ampeln auf rot, und zu allem Überfluß kam auch noch die Kolonne mit dem Staatsbesuch vorbei: weiße Mäuse auf Motorrädern vorneweg und dahinter der kugelsichere Mercedes, in dem das vernarbte Ananasgesicht saß. Nach dem letzten Wagen, in dem die Leute vom Staatsschutz fuhren, kam ich endlich hinüber, doch ich konnte nicht gleich erkennen, was sie diesmal mit dem »Wächter« angestellt hatten, der, aus dichtem, kristallinem Kalkstein genommen, im mittleren der drei Rosenbeete stand. Offenbar hatte der »Wächter« – eine der ersten Auftragsarbeiten meines Alten – etwas an sich, das den Mutwillen von allen möglichen Leuten weckt; junges Volk und Saufbrüder und Typen, die glaubten, sich etwas beweisen zu müssen, hatten bereits an ihm ihre Phantasie erprobt: einmal hatten sie einen Luftballon an seinen Wanderstab gebunden, ein andermal eine Zigarre in den lauschend offenen Mund gezwängt; sie hatten dem »Wächter« – der nackt war, dessen körperliches Ebenmaß ihm aber soviel Würde verlieh, daß man die Nacktheit vergaß – Kaugummi angeklebt, eine Plastiktüte über den Kopf gezogen, Rosen vor sein kümmerliches Geschlecht gehängt oder ihm mit bunter Kreide einen geringelten Badeanzug verpaßt. Jedesmal, wenn so etwas passierte, war ich einen ganzen Tag lang deprimiert, und ich wünschte mir dann, daß sie die Figur an einem andern Ort aufgestellt hätten, bei den Wildenten in den Alsteranlagen oder, von mir aus, bei den Elenantilopen in Hagenbecks Tierpark, jedenfalls nicht in dem mittleren der drei Rosenbeete vor dem mächtigen Hamburger Kaufhaus. Obwohl es längst zu regnen aufgehört hatte, trugen etliche der Frauen, die sich vor dem »Wächter« eingefunden hatten, diese durchsichtigen Plastikhauben, mit denen sie an Sülzköpfe erinnerten, und die alten Kerle, die wie angeleimt herumstanden, machten den Eindruck, als würde ihnen gerade das Erlebnis der Woche beschert. Über ihre Köpfe hinweg sah ich, wofür der »Wächter« hatte herhalten müssen: er, dessen Blick unter halb geschlossenen Lidern weniger den Zugängen zum Kaufhaus galt als der Ferne, in der er etwas wahrgenommen hatte, trug eine schwarze Augenklappe, die ihm irgend jemand in der Nacht angelegt hatte. Mit diesem Ding, das man bei Bindehautentzündung verschrieben bekommt, glich die Figur, auf deren breitwangigem Gesicht ein leichtes resigniertes Lächeln lag, einem schläfrigen Piraten, wirklich, einem mittellosen, pensionierten Piraten. Bei diesem Anblick war ich ganz schön geladen, ich zwängte mich durch die Leute, die gleich zu maulen anfingen, stapfte durch das aufgeweichte Rosenbeet, zog mich auf den Sockel hinauf und versuchte, die Augenklappe zu entfernen. Ich muß zugeben: ich bin ziemlich füllig, auf einem feuchten Sockelsims zu balancieren ist nicht gerade meine Stärke; dennoch hätte ich es geschafft, wenn da keine Zuschauer gewesen wären. Die freuten sich natürlich, die juchzten und spornten mich an, und ich hob mich auf die Zehenspitzen, langte Mal um Mal hinauf und befingerte und befummelte Kinn und Hinterkopf des »Wächters«, ohne das verdammte Gummiband der Augenklappe zu erreichen. Gewiß hätte ich ihnen keinen größeren Gefallen tun können, als runterzukippen, aber schließlich reichte mir ein Zimmermann seinen gedrehten Wanderstock hinauf, und mit dessen Hilfe gelang es mir, das Gummiband am Hinterkopf hochzuschieben. Warum einige Zuschauer klatschten, als ich die herabfallende Augenklappe fing, habe ich nie begriffen; verständlicher war es mir schon, daß ein paar mich vorwurfsvoll musterten, gerade als hätte ich ihnen den Fernseher abgeschaltet. Selbstverständlich beschloß ich, meinem Alten kein Wort darüber zu sagen, was sie diesmal mit seinem »Wächter« angestellt hatten. Vor dem Haupteingang des Kaufhauses, der von zwei lachhaften Miniaturwindmühlen flankiert war, schmiß ich die Augenklappe in einen Abfallbehälter, gab dem rotäugigen Wermutbruder, der dort wie immer bettelnd herumlungerte, seine Mark und steuerte auf die Aufzüge zu. Obwohl mein Mitleid sich abgenutzt und verringert hatte, tat mein Alter mir von Zeit zu Zeit immer noch leid: ich mußte daran denken, wie er vor vielen Jahren mit dem ersten Auftrag nach Hause gekommen war, zuversichtlich, selbstbewußt und prall vor Gewißheit, die Zukunft in der Tasche zu haben: Hans Bode, der aufstrebende Bildhauer. Auch wenn du es vielleicht vergessen hast – ich werde mich immer an die Stunden in deiner Werkstatt erinnern, an deine unendlichen Erzählungen über Steine, und auch daran, wie du mich eingeweiht hast in das Geheimnis ihrer Dauer. Du wußtest alles über sie: wie sie entstanden sind in vulkanischen Krämpfen und wie sie, erstarrt, ihre Ruhe fanden; du wußtest, was Farbton und Form besagen, und du konntest Adern und Flecken deuten und jedem Stein seine Härte ansehen und die Elemente nennen, aus denen er bestand. Steinmoose und Farne und im Schiefer die Meerlilie: alles, was in ewige Gefangenschaft geraten war, hast du mir gezeigt und dabei Geschichten erzählt vom Erkalten der trägen Massen und von tausendjährigen Wanderungen. Unsere Aufzüge waren mal wieder hängengeblieben oder hatten sich selbst blockiert, weil sie überbelastet waren; darum nahm ich die Rolltreppe und ließ mich hochbaggern zur Lebensmittelabteilung. Gegen unsere Verkäuferinnen ließ sich nichts sagen, es waren, bis auf wenige Ausnahmen, ausgesuchte Mädchen, die verdammt gutsitzende weiße Kittel und auf dem Kopf ein kleidsames Schiffchen trugen; sie waren freundlich gegen jedermann, lächelten zuvorkommend, selbst wenn einer nur ein pappiges Fischbrötchen kaufte, und jedes Achtel Salami wickelten sie dir so sorgfältig ein wie eine Rubinbrosche. Wenn es allerdings auf den Feierabend zuging, dann vergaßen sie wohl, was man ihnen eingeschärft hatte, sie wirkten verdrossen, überlegen und sogar hochmütig; man konnte den Eindruck gewinnen, daß sie nur noch darauf warteten, fürs Fernsehen entdeckt zu werden. Daß sie mich kumpelhaft und nachsichtig behandelten: mein Gott, mir machte es nichts aus, wir teilten ja nichts anderes als den Arbeitsplatz, und mir war seit langem klar, daß man gut beraten ist, wenn man am Arbeitsplatz erst gar nichts anfängt. Sie grüßten mich von den Auslagen, den Kühltruhen, dem Probiertischchen, manche zwinkerten mir zu oder spitzten den Mund zu einem Scheinkuß, so daß ein zufälliger Beobachter von mir und den langbeinigen Mädchen, die erstaunlich oft erkältet waren, wer weiß was hätte denken können, im Ernst. Ich grüßte freundlich zurück, ärgerte mich nicht, als die fabelhaft gewachsene Doris meinen Gang imitierte – ihre Watschelbewegung war einmalig –, drohte ihr nur spielerisch und schloß meinen Arbeitsraum auf. Vom Büro eines Hausdetektivs kann man sehr verschiedene Vorstellungen haben; man kann sich Kabinen denken, in denen Verdächtige sich entkleiden müssen, man kann einschüchternde Gerätschaften vermuten – Lügendetektoren oder Blendscheinwerfer –, und schließlich bleibt es einem auch frei, sich einen behaglich eingerichteten Raum vorzustellen, in dem sympathische Protokollanten sitzen, die jedem Warenhausdieb das Geständnis leicht machen. Die Herren von der Direktion unseres Kaufhauses waren bestimmt Liebhaber der neuen Sachlichkeit, was sich unter anderem darin zeigt, daß sie mir als einzigen Wandschmuck einen Werbekalender zugestanden hatten, mit Abbildungen von Kinderspielzeug aus fünf Jahrhunderten, und als Mobiliar das verjährte Modell eines Tisches sowie zwei Stühle, die mit ihrer geizigen Sitzfläche und der steilen Lehne zu allem anderen einluden, nur nicht zu geruhsamem Dasitzen. Der riesige Aschenbecher stammte von Willi, meinem pfeiferauchenden Kollegen, und die schlichte Keramikvase von den Mädchen der Lebensmittelabteilung, die sie mir zu meinem vierundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatten. Zuerst trug ich meinen Dienstantritt in das Rapportbuch ein, füllte dann einen Lottoschein aus, öffnete einen neuen Karton mit Karamelbonbons, und nachdem ich mir die weinrote Krawatte umgebunden hatte – unser Abteilungsleiter wünschte tatsächlich, daß die Hausdetektive eine Krawatte trugen –, schaltete ich die schwenkbare versteckte Kamera ein und widmete mich dem Bildschirm. Langsam verzog sich der grisselnde elektronische Schnee, und wie vielleicht jemand vom Himmel auf die Erde blickt – forschend, ausdauernd, kopfschüttelnd und so, daß ihm nichts entgeht –, blickte ich, von Spiegeln unterstützt, die hinter jedes Regal spitzelten, in unsere Lebensmittelabteilung. Ich wunderte mich nicht, daß trotz der frühen Stunde ganze Völkerscharen bei uns durchzogen schätzungsweise fünfzigtausend Kunden, die Drahtkörbe schleppten und Einkaufswagen schoben, und die allesamt darauf aus waren, irgendeine Beute zu machen. Obwohl ich der jüngste Hausdetektiv in unserem Kaufhaus war, dessen Anziehungskraft ziemlich weit in die Niederungen Schleswig-Holsteins hineinstrahlte, hatte ich bereits einen Blick für...