Lentz | Weiße mit Schuss | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 3, 336 Seiten

Reihe: Berlin-Trilogie

Lentz Weiße mit Schuss


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-95530-029-6
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, Band 3, 336 Seiten

Reihe: Berlin-Trilogie

ISBN: 978-3-95530-029-6
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Auch dieser dritte Roman der grandiosen Berlin-Trilogie ist herrlich witzig und ein ganz klein wenig melancholisch! Die wilden Fünfziger haben endlich auch Berlin erreicht. Karl Kaiser und seine Kumpels aus der Laubenkolonie 'Tausendschön' genießen nun die 'Segnungen' des Wirtschaftswunders. Doch der Mauerbau, die Teilung Berlins gehört ebenso zu dieser Zeit ....

Georg Lentz wuchs in Berlin auf. Nach dem Abitur absolvierte er eine Ausbildung zum Verlagskaufmann. Er war im Verlagswesen und Kunsthandel tätig. 1952 gründete er in Stuttgart den auf Bilder- und Jugendbücher spezialisierten Georg-Lentz-Verlag. Lentz leitete den Verlag bis 1964. Danach arbeitete er als Verlagsleiter in Zürich und beim Verlag Carl Ueberreuter in Wien; daneben verfasste er einige Sachbücher. Lentz war seit 1971 Mitglied des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland. Georg Lentz veröffentlichte ab 1976 eine sehr erfolgreiche autobiografische Romantrilogie, die aus den Bänden 'Muckefuck', 'Molle mit Korn' und 'Weiße mit Schuß' besteht und vor dem Hintergrund der Berliner Geschichte zwischen 1933 und 1959 spielt. Basierend auf den Büchern 'Muckefuck' und 'Molle mit Korn' wurde 1988 eine zehnteilige Fernsehserie mit dem Titel 'Molle mit Korn' produziert.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


I

Ach, Paula, mach die Bluse zu


Am liebsten spiele ick uff unsern Hof
mit Helga, Hannelore und mit Frieda.
Und an die Hauswand schreib ich »du bist doof«.
Krieg ich ooch Keile, ich tu’s immer wieda.

Erika Brüning

»Versuch es noch einmal«, ermahnte mich Großmutter.

»Junge, du musst das doch begreifen! Frühling will nun ein-maar-schiern – kommt mit Sang und Schalle… «

Ich stand da in meinen zu langen Kniehosen, ein Säbelbein nach hinten gestellt, der Wadenstrumpf heruntergerutscht, begriff nichts. Wer waren Sang und Schalle? Zwei Kintoppkomiker wie Dick und Doof, über die ich bei der Kindervorstellung lachte im Zeli-Kino? Zu hoch für einen Siebenjährigen aus der Laubenkolonie. Amsel, Drossel, Fink und Star –, das ging, da stellte ich mir was vor, die Vögel lebten in den Gärten, Amsel und Drossel blieben manchmal im Winter, traten den Zug nach Süden nicht an, ich streute ihnen Futter ins Häuschen, das ich mithilfe meines Vaters gebastelt hatte, nach der Anleitung in Hilf mit, der Jugendzeitschrift, auf Befehl der Schule abonniert, zwölf Hefte im Jahr, Pimpfe auf dem Titelbild, die Erbsensuppe abkochten im Hordentopf, lachende BDM-Mädchen mit blonden Zöpfen, gesunden Zähnen. »Oma«, bat ich, »erkläre mir: Wieso Amsel, Drossel? Die bleiben doch bei uns im Winter. Stare, weiß ich, kommen im Frühling zurück aus dem Süden.«

Großmutter strich mir über das kurz geschorene Haar. Von ihr, nur von ihr duldete ich es. »Auch Amseln und Drosseln fliegen fort, wenn es kalt wird. Nur einige bleiben hier, überwintern bei uns. Holen sich Futter aus deinem Vogelhaus. Wenn es warm wird, kommen die anderen zurück. Aus Afrika, Griechenland, Italien. Aus fernen Ländern, in denen immer die Sonne scheint. Die Drossel singt wunderbar, wenn der Frühling naht.«

Meine Großmutter sagte »naht«. Was fand sie an einem Lied, das behauptete, der Frühling marschiere ein?

Nie wieder habe ich den Frühling so erlebt wie in jenen Kindertagen in der Geborgenheit der Laubenkolonie, die Sinne geschärft für alles, was um mich herum geschah. Schön war die Kolonie, mit ihren leuchtenden Gärten, ihren Menschen und Tieren. Dass es drei-drei-drei bei Issus Keilerei gab, stopfte ich mir später in den Schädel. Und die Konstantinische Schenkung. Und den Gang nach Canossa. Und Lützows wilde, verwegene Jagd.

Für jede neue Schulerkenntnis opferte ich ein bisschen von dem, was ich damals, als kleiner Junge, von der Großmutter wusste: Wann die Schafgarbe blüht, wie man Tee aus ihr bereitet und wogegen er gut ist; wann die Drossel zu singen, der Fink zu schlagen beginnt; wohin die Störche flogen, die bei Hinrichsen auf dem Scheunendach ihr Nest hatten.

Ich wusste es so lange, bis auch ich aus dem Nest fiel. Mein Nest war die Laubenkolonie Tausendschön, draußen am Rand der großen Stadt gelegen, wo Kiefern- und Eichenwälder begannen. Wo die Füchse im Krummen Fenn zweimal im Jahr Junge bekamen. Wo meine Großmutter mir Geschichten erzählte, während der Kaffee in der braunen Bunzlauer Kanne auf dem Herd summte, und sie versuchte, mir das Lied beizubringen vom Einmarsch des Frühlings.

Die Schule versuchte dann, mich zu bilden, ich sah die Laubenkolonie von außen. Stimmte meinem Freund Othmar bei, der mit Blick auf unsere Behausungen meinte:

»Doll wirkt das nicht.«

Seitdem sind Jahre, Jahrzehnte vergangen, Krieg, Blockade, Nachkriegszeit. Ich sehe sie gleichzeitig von innen und von außen, die Kolonie, sehe sie in jener Zeit, als ich wieder in Laube vierzehn lebte, unter dem Pappdach, das Winterkälte und Sommerhitze durchließ.

Sah sie so:

Wenn man von der Bertholdzeile, einem lindengesäumten Sandweg, auf die Lauben blickte, fiel eine Baracke im Vordergrund auf, in der Ernie Puvogel seinen Kramladen betrieb, als Nachbar der Kneipe Zur beknackten Maus, die uns Laubenpiepern als Sauf-, Motz- und Klöhnstube diente – jenen, die der Krieg übrig gelassen hatte, und den neuen, von Osten überschwappenden Menschenwogen, die immer noch heranstrudelten: Flüchtlinge, Heimatvertriebene, Displaced Persons (echte und unechte), Kriegerwitwen, Ukrainer, Amiliebchen, KZ-ler, die bei antifaschistischen Kundgebungen ihre gestreifte Lagerkleidung trugen. Von Schönow her, über den Teltowkanal, der seit fünfzig Jahren das Urstromtal der Bäke füllte, waren sie gekommen, aus den Wäldern überm Havelstrand tröpfelten Überlebende des letzten Gefechts um Berlin, sie wogten heran aus Gumbinnen und Landsberg (Warthe), aus Deutsch-Krone und Schneidemühl, aus Kattowitz, Danzig, Posen, Liegnitz, Schwiebus und Marienburg und Stolp und Cammin.

Aminutten, Lippenstift auf die Zahnhälse verschmiert wie Draculas Bräute, schleppten ihre Boyfriends in die Beknackte Maus, Texasreiter vom nahen Horse Platoon mit prall sitzenden Breeches, Nachzügler der Boys von Hell an wheels, einer Eliteeinheit General Eisenhowers, die im Sommer fünfundvierzig als Erste in den amerikanischen Sektor einmarschiert war, Wrigley’s chewing gum kauend, auf leisen Kautschuksohlen, orthopädisch durchdacht die Stiefel, falls ihre Jeeps mal stehen blieben: Ein Knubbelchen stützte den Mittelfußknochen jedes GIs.

Schlingel aus der nahen Einfamiliensiedlung fanden den Mut, sich durch die Glastür in unsere Budicke zu schlängeln, blasse Halbstarke mit angeklebten Tollen, weiße Kaschnees um Pickelhälse, Hose auf Schlag, erzielt, indem sie die Beinkleider nächtelang angefeuchtet auf Sperrholzkeile rammten.

Die Halbstarken kamen wegen der Wurlitzer-Orgel, die in einer Ecke der Kneipe pfiff und donnerte. Außerdem wollten sie Agathe Fanselow in den Ausschnitt plieren. Agathe führte die Bar, ihre schwarz drapierte obere Hälfte – die untere schien durch die Waagerechte des Tresens abgeschnitten – agierte wie eine Schattenspielfigur vor dem warmen Gelb der fichtenbretterverkleideten Wände mit ihren dunklen Asteinsprengseln.

Eine Prise Fantasie vorausgesetzt (oder sechs, sieben Bommerlunder), erkannte der Besucher in den Konstellationen der Äste Gesichter. Lächelnde, weinende, schiefe, verzerrte, alle mit braunen Augen und rundem braunen Mund. Fliegen krabbelten im Sommer auf diesen Fratzen umher, überquerten die Flächen von Reklameschildern wie Hundeschlitten Schneewüsten der Arktis. Auf den Wangen des Mannes im Schultheiß-Habit luden sie einen Schiss ab. Das Plakat kündigte an: Hier gibt es Berliner Weiße – mit Schuss oder ohne, also mit oder ohne Himbeersaft.

Auf dem vergilbten Farbdruck der Reklametafel war nicht mehr zu erkennen, wie der Schultheiß seine Weiße bevorzugte; das Glas, eine Art Pokal, den er in der Hand hielt, war mit einer Flüssigkeit gefüllt, die alles sein konnte; sie schillerte zwischen orange und olivgrün wie die Tarnhose eines Panzergrenadiers, mit einem Schuss rot – womit vielleicht einst der Himbeersaft gemeint war.

Die Amtskette um den Nacken, des Reklamebonzen Würde als Dorfschulze unterstreichend, hatte ihren goldenen Glanz eingebüßt. Oder schien das nur so, weil daneben die Wurlitzer-Orgel ihre Neonorgien abfackelte? Blaue, rosa, gelbe Lichtschlangen zischten durch Glasröhren, flackerten, erloschen, sprühten wie Weihnachtskerzen, bissen sich in den Schwanz, zerhackstückten einander, bis es aussah, als tropfe das Licht herab, kalt, eine Handvoll Milchstraße, während der Roboterarm eine neue single, eine fünfundvierziger Schallplatte aus dem Arsenal griff, elektronischen Befehlen folgend, die einer der Pickeljünglinge (sie waren die treuesten Musikkunden) der Musikmaschine durch Drücken zweier Tasten erteilt hatte.

Heulte der Kasten, schmetterte er Das machen nur – die Beine von Dolores in die Saufanstalt, in die Tausendschön-Destille, fuhr gewöhnlich der Drücker seinen Hals mit dem vortretenden Adamsapfel auf Sehrohrtiefe aus, um die Augen in Richtung jener Rundungen zu rollen, die Agathe entblößte, wenn sie Gläser spülte oder einen Mampe halb und halb eingoss.

Viel war’s nicht, was sie unter der Bluse führte, Hügelchen. Aber nach etlichen Jahren Hängolin und Unterernährung machten Agathes Anhöhen die Siedlungshausjugend ganz schön an.

Sie merkte nichts?

Manchmal sah sie hinüber zu ihnen. Ein Blick unter dunklen Wimperlaschen.

Die Jungs schämten sich und warfen weitere Fünfziger in den Schlitz der Musikmaschine.

Eine Tür in der Wand rechts vom Tresen führte in die andere Hälfte der Baracke, die Ernie Puvogel, auf bessere Zeiten bauend, nachdem die Blockade überstanden war, zu einem Tempel deftiger Versuchungen hochmotzte, mit schwarzen Resopalplatten hinter den Regalen, einem verchromten Schinkenfestklemmer auf Marmorplatte, einer Aufschnitttheke, mit Sauerkrautpyramiden und Wurstkaskaden, Gebirgen aus Löcherkäse, Stolper Jungchen in Spanschachteln, portugiesischen Ölsardinen, Bücklingskisten, Bastionen von Spargelkonserven und feinstem Leipziger Allerlei. Draußen prunkte Puvogel mit einem Schild, das durch die Aufschrift Kolonialwarenhandlung überraschte. Lieber Herr Puvogel, wo leben Sie denn? Die Epoche, als Deutschland zu den koloniengesegneten Staaten gehörte, war doch schon neunzehn vorbei! Togo. Deutsch-Südwest. Deutsch-Ost. Fünf Jahre nach dem Ende von Weltkrieg zwei wirkte Puvogels Schild so unangebracht wie ein Hindenburgbild im Sektionsbüro der Kommunistischen Partei.

Puvogel machte sein Ladenschild Freude. »Klasse, wat?«, fragte er jeden, der seine Blicke nach oben wendete. Puvogel baute sich, wie ein Gewerbetreibender, der auf den Fotografen wartet, unter der Inschrift auf. Von...



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