Lentz | Molle mit Korn | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 2, 260 Seiten

Reihe: Berlin-Trilogie

Lentz Molle mit Korn

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-95530-026-5
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, Band 2, 260 Seiten

Reihe: Berlin-Trilogie

ISBN: 978-3-95530-026-5
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Der zweite Roman der grandiosen Berlin-Trilogie! Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs sind zwar überstanden, doch Berlin liegt in Trümmern. Trotzdem pulsiert in der Laubenkolonie 'Tausendschön' das Leben. Denn mit viel Witz und Fantasie kann das 'Menschlein' Karl Kaiser den schweren Zeiten entkommen. Freundschaften, Liebesgeschichten und rauschende Feste bescheren ihm eine glückliche Zeit. Er weiß eben zu leben - und nicht bloß zu überleben...

Georg Lentz wuchs in Berlin auf. Nach dem Abitur absolvierte er eine Ausbildung zum Verlagskaufmann. Er war im Verlagswesen und Kunsthandel tätig. 1952 gründete er in Stuttgart den auf Bilder- und Jugendbücher spezialisierten Georg-Lentz-Verlag. Lentz leitete den Verlag bis 1964. Danach arbeitete er als Verlagsleiter in Zürich und beim Verlag Carl Ueberreuter in Wien; daneben verfasste er einige Sachbücher. Lentz war seit 1971 Mitglied des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland. Georg Lentz veröffentlichte ab 1976 eine sehr erfolgreiche autobiografische Romantrilogie, die aus den Bänden 'Muckefuck', 'Molle mit Korn' und 'Weiße mit Schuß' besteht und vor dem Hintergrund der Berliner Geschichte zwischen 1933 und 1959 spielt. Basierend auf den Büchern 'Muckefuck' und 'Molle mit Korn' wurde 1988 eine zehnteilige Fernsehserie mit dem Titel 'Molle mit Korn' produziert.
Lentz Molle mit Korn jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Aus der Vogelschau


Der Insulaner verliert die Ruhe nicht,
der Insulaner liebt keen Jetue nicht,
der Insulaner hofft unbeirrt,
dass seine Insel wieder’n schönes Festland wird.

Günter Neumann

Im Mai des Olympiajahres 1936 kam meine Tante Friedl aus Übersee zu Besuch. Tante Friedl hätte ich mir auf dem Titelblatt des Modejournals Berliner Hausfrau in vierfarbigem Glanzdruck vorstellen können. Sie war, was man damals ein Charleston-Girl nannte: schlank, mit langen Beinen in silbrig schimmernden Seidenstrümpfen, in jenen Flatterlook der Zwanziger- und frühen Dreißigerjähre gehüllt, den die deutsche Frau dann auf Wunsch des Führers ablegte.

Tante Friedl konnte es sich leisten, die neuen Trends zu ignorieren. Sie hatte vor ein paar Jahren nach Kanada geheiratet, »reich geheiratet«, wie meine Mutter, Minnamartha Kaiser, nie zu bemerken versäumte. Minnamartha wies so darauf hin, dass die flotte Tante uns, dem Rest der Familie Kaiser, die ihr Leben vornehmlich in der Kolonie Tausendschön am Rand der Stadt verbrachte, Vorbild und Beispiel war. »Sie hat es geschafft«, ergänzte meine Mutter dann wohl, während sie die Kuchengabel in die Cremefüllung eines Liebesknochens stieß oder ein Praliné zu den Lippen führte.

Tante Friedl war erster Klasse mit dem Luxusdampfer France bis Southampton gereist. Von England nahm sie das Flugzeug; eine Ju 52 der Lufthansa brachte sie nach Berlin-Tempelhof. Es freute sie, dass die Maschine auf den Namen Bruno Rodschinka getauft war, sie nahm es als gutes Omen, denn Bruno Rodschinka war ihr Vetter (und damit mein Onkel) gewesen. In den Pioniertagen des Luftverkehrs war er im Nebel abgestürzt, beim Anflug auf London. Ede, mein Vater, hatte sein Begräbnis in allen Einzelheiten vorausgeträumt, Tage, bevor die Nachricht uns erreichte, er konnte sogar den ungewöhnlichen Sarg beschreiben. So fiel ein Abglanz vom Ruhm des Luftpioniers auch auf uns. Ich, Karl Kaiser, acht Jahre alt, war stolz auf den toten Onkel Bruno. Minnamartha rechnete ihn schon bei Lebzeiten zu jenen Familienmitgliedern, die »es geschafft hatten«.

Drei oder vier Passagiermaschinen täglich landeten aus westlicher Richtung in Tempelhof. Sie flogen über die Kolonie Tausendschön. Wenn Tante Friedl, mit ihrem lieblichen Bubikopf, herabgeschaut hätte, würde sie uns unten stehen gesehen haben, auf dem Platz vor Ernie Puvogels Kramladen:

Meine Mutter Minnamartha, füllig, in weißer Kittelschürze, die Arme unter der mächtigen Büste verschränkt. Vielleicht, aber das konnte die Tante da oben durch das Dröhnen von drei Sternmotoren natürlich nicht hören, klingelte gerade in der Schürzentasche meiner Muttter die Eieruhr, ein amerikanisches Modell, Geschenk Tante Friedls bei einem früheren Besuch. (Die Uhr, bis sechzig Minuten einstellbar, regelte seither Minnamarthas und unser Leben im strengen Klingelrhythmus.)

Neben Minnamartha: Mein Vater Ede Kaiser. Preußischer Kurzhaarschnitt, erkaltete Zigarre im Mundwinkel. Taxenbesitzer, und damit zur Klasse der Kleinunternehmer gehörend. »Ümmerhin!«, wie man in unserer aus dem Osten stammenden Großfamilie anerkennend einräumte.

Daneben ich, Karl Kaiser, Schüler, in dunkelblauer kurzer Hose, deren Beinlinge nach damaliger Mode fast bis aufs Knie reichten, ebenfalls mit militärischem Haarschnitt, meine Abstehohren flatterten frei. Aus den aufgekrempelten Ärmeln meines hellblauen Oberhemdes ragten dünne Arme, was, neben Minnamarthas kräftiger Statur, ins Auge fiel.

Unsere Großmutter, Mittelscheitel und Dutt, runde Brille mit schwarzem Rand, geblümtes Samtkleid (Millefleur, Omamuster), wäre damals auch dabei gewesen. Sie starb 1946 kurz nach Kriegsende.

Um uns herum wären vielleicht andere Laubenbewohner versammelt gewesen: Ernie Puvogel, der Ladenbesitzer, ein kleiner, flinker Igelmensch, und seine massige Tochter Wanda. Der alte Herr Reh mit einer zahmen Dohle auf der Schulter. Sein schlaksiger Sohn Willi, damals vierzehn, der einen Tesching am Riemen über der Schulter trug. Gleich, wenn das Flugzeug am Horizont verschwand, würde er Krähen schießen gehen. Dann der starke Siegfried, der mich als Lieferant von Zigarettenbildchen in einem Abhängigkeitsverhältnis hielt, von dem meine Eltern nichts ahnten. Und ein paar kichernde kleine Mädchen, jetzt im Sommer mit nackten, braun gebrannten Oberkörpern, während die unteren Körperhälften in reichlich bemessenen Gummizugschlüpfern, Flanell, innen angeraut, steckten. Gigi hieß die dünne Rothaarige mit den geschwungenen Augenbrauen, wir nannten sie Stacks. Sie versprach, eine Schönheit zu werden. (Ihr älterer Bruder Friedrich, aktiv bei Reichswehr und Heer, imponierte uns, wenn er in voller Ausgehuniform, mit silbernen Rangabzeichen und Schützenkordel an der linken Achsel, auf Urlaub kam.) Das pummelige Ding neben Gigi nannten wir Häschen. Ihre nicht ganz unschuldigen Puppenspiele hielten uns Laubenkinder in Atem. – Hinter ihr Ingrid, Häschens Freundin (kecker Blick, feuchte Schnute), puhlte wie üblich an sich herum, ihr einer Arm steckte bis über dem Ellbogen im Schlüpfer.

Jetzt flog die Ju 52 mit Tante Friedl schon über die Bärlappstraße, die sich von der Kolonie stadteinwärts neben Bahngleisen hinzog, beides Orientierungshilfen für die Piloten, die in ihren gemächlich fliegenden Kisten den Flughafen Tempelhof ansteuerten.

Das der Laubenkolonie nächstgelegene Ende der Bärlappstraße war damals noch Sandweg, aufgewühlt von den Rädern schwerer Lastwagen, denn links und rechts entstanden Siedlungshäuser, etwa dreißig insgesamt, alle nach dem gleichen Plan. Eines davon, das war ein offenes Geheimnis in der Kolonie Tausendschön, würde der Familie Kaiser gehören.

Ein Jahr später hätte Tante Friedl, aus dem Flugzeug blickend, uns auf der Terrasse unseres schlüsselfertigen Eigenheims stehen sehen, ich in denselben blauen Hosen, die nun ein bisschen kürzer schienen, Minnamartha, die mich Menschlein nannte (»Menschlein, lass das!«), und mein Vater und Oma, beide unverändert.

Vor der neuen Garage parkten Edes Taxen, Marke Adler Favorit. Blank poliert schimmerten der grüne Lack und die vorschriftsmäßigen Streifen schwarz-weißer Karos, die sich wie ein Gürtel rings um die Karosserie zogen. Mit Erdal-Prachtschwarz hatten Ede und seine Chauffeure die klappbaren schwarzen Lederverdecke der Landaulets gewichst.

Von den Laubenkolonisten wäre allerdings keiner zu sehen gewesen. Sie mieden uns nur. Dafür wären bestimmt meine neuen Spielkameraden, Gustavchen Fanselow mit seiner Schwester Agathe (ihr Vater beglückte uns Kinder durch die heiterste Handhabung von Scherzartikeln) und der blond gelockte, zum Aufschneiden neigende Othmar, bei uns gewesen.

Die Geschwister Fanselow, Gustavchen klein und rundlich, Agathe eher ein Stecken, wohnten um die Ecke. Othmar war mit seiner vornehmen Mutter (sie war am Theater) ins Haus gegenüber eingezogen. Den Vater, Typ Direktor mit Hornbrille, sah man nur sonntags, wenn er in Tennisdress und weißem Südwester den Rasen sprengte. Sie besaßen ein richtiges Esszimmer mit Büfett, über dem im Goldrahmen eine farbige Reproduktion von Gauguins Gemälde Reiter am Strand von Tahiti hing, und sie aßen so exotische Speisen wie Spaghetti mit brauner Butter und Zucker.

Die Laubenkinder, unter Führung des starken Siegfried, lauerten uns nach der Schule auf, verprügelten uns, und Ingrid drehte uns den Rücken zu und hob, in nicht misszuverstehender Geste, ihren vielfach gestopften Bleylerock, unter dem sie nichts anhatte.

Aber 1937 kam Tante Friedl nicht mehr nach Berlin. Ihr Mann, »der Kanadier«, wie er von uns genannt wurde, war Jude, und er legte Tante Friedl nahe, Deutschland zu meiden, solange die Nazis am Ruder waren. Tante Friedl schrieb nun nur noch Postkarten mit Ansichten von Quebec und Montreal, und einmal auch von Seattle. Ihre Nachrichten wurden immer spärlicher, bis sie mit Beginn des Krieges ganz ausblieben.

Der nächste Blick aus der Vogelschau (so nannten es die Verleger der neuen Luftbildpostkarten) auf die Kolonie Tausendschön wäre erst wieder nach dem Krieg lohnend gewesen, vielleicht 1948 oder 1949 aus dem Cockpit eines Rosinenbombers, der während der von den Russen verhängten Blockade zur Landung in Tempelhof ansetzte.

Lohnend allerdings um welchen Preis: Um die Verheerungen zu registrieren, die der Krieg, zwar anders als im Häusermeer der City, auch hier angerichtet hatte?

Der Mann im Cockpit hätte mich wiederum vor der Laube vierzehn stehen sehen, lang aufgeschossen inzwischen (»abgebrochener Riese«, sagten die Berliner), die Haare etwas länger, damit sie die immer noch abstehenden Ohren bedeckten, leicht schiefe Kopfhaltung als Spätfolge von Rachitis und Ernährungsmangelerscheinungen. Gekleidet in eine grüne Amijacke und olivfarbene Hochwasserhosen. An den Füßen Ringelsocken, die Schuhe säuberlich mit alten Autoreifen besohlt.

Minnamartha befand sich in einem nahen Sanatorium, »wegen der Nerven«. Ede, mein Vater, war am letzten Kriegstag im Kampf um Berlin gefallen. Seine Taxen, soweit nicht schon vorher von der Wehrmacht requiriert, hatten die Russen abgeschleppt. Oma war gestorben. Unser Eigenheim lag in Trümmern. Eine Luftmine hatte es 1944 zerstört. »Der letzte Kaiser«, wie die Laubenpieper mich nun makaber scherzend nannten (auch »Karl der Letzte« war beliebt), war wieder in die alte Laube gezogen.

Windschief und schäbig mussten jemand, der auf uns herabschaute, die Lauben jetzt vorkommen. Wo einst...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.