E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Reihe: you&ivi
L'Engle Durch Zeit und Raum
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-492-99591-7
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Reihe: you&ivi
ISBN: 978-3-492-99591-7
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Madeleine L'Engle, geboren 1918 in New York, zählt zu den berühmtesten und erfolgreichsten Kinderbuchautorinnen der Welt. Ihr magischer Abenteuerroman »Das Zeiträtsel« erschien erstmals 1962 unter dem Titel »Die Zeitfalte«, wurde weltweit millionenfach verkauft und ist ein Klassiker, der bis heute Generationen von Kindern und Eltern fasziniert. Madeleine L'Engle starb 2007 in ihrer amerikanischen Heimat.
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In der Stunde, die alles entscheiden kann
In der großen Küche im Haus der Murrys war es hell und warm. Draußen, hinter den vorgezogenen Gardinen, prasselte der Regen in der Dunkelheit und der Wind heulte aus Nordost.
Meg Murry O’Keefe hatte den Esstisch mit Chrysanthemen geschmückt und die goldgelben und ockerbraunen Blüten ließen den Raum noch heller wirken. In der Bratröhre duftete es verführerisch nach Truthahn und Megs Mutter stand am Herd.
Wie schön, dass sich die ganze Familie zu Thanksgiving daheim versammelte, dachte Meg, und jeder erfahren konnte, wie es den anderen zuletzt ergangen war. Die Zwillinge kamen von der Universität, wo Sandy Jura und Dennys Medizin studierte. Ihr Hauptinteresse galt Calvin, Megs Mann, der als Einziger nicht anwesend war, weil er in London an einem Kongress teilnahm und dort vielleicht gerade jetzt einen Vortrag über das immunologische System der Wirbeltiere hielt.
»Eine ungeheure Ehre für ihn, was, Schwesterherz?«, sagte Sandy.
»Ja, bestimmt.«
»Und wie geht’s dir, Frau O’Keefe?« Dennys blinzelte ihr zu. »Ich muss mich erst daran gewöhnen, dass du jetzt O’Keefe heißt.«
»Ich auch.« Meg schaute zum Kamin hinüber, vor dem ihre Schwiegermutter im Schaukelstuhl saß und in die Flammen starrte. Für Meg war immer noch sie die eigentliche Frau O’Keefe. »Mir geht’s gut«, sagte sie zu Dennys. »Ganz ausgezeichnet.«
Dennys, der sich mit Vorliebe schon jetzt wie ein Arzt verhielt, nahm das Stethoskop, das sein ganzer Stolz war, und drückte es Meg an den sich rundende Bauch. Er grinste vergnügt, als er den starken Herzschlag des Kindes hörte. »Sehr richtig, ganz ausgezeichnet!«
Meg erwiderte sein Lächeln und wandte sich ihrem Dad und ihrem jüngsten Bruder Charles Wallace zu. Die beiden saßen am anderen Ende des Zimmers und waren ganz in ihre Konstruktion vertieft: Sie bauten an einem Modell, das das Prinzip der Tesserung verdeutlichen sollte, also die Quadratur des Raumes, die die Dimension der Zeit darstellte. Es war eine eindrucksvolle und äußerst komplizierte Konstruktion aus Drähten und Kugellagern und Kunststoff, deren Teile beständig rotierten oder wie Pendel schwangen.
Charles Wallace war immer noch klein für seine fünfzehn Jahre. Ein Fremder hätte ihn bestenfalls auf zwölf geschätzt. Aber sein Gesichtsausdruck und die hellen blauen Augen verrieten ungewöhnliche Intelligenz und Reife. Voll konzentriert sah er zu, wie sein Vater ein kleines Drähtchen zurechtbog. Charles war schon den ganzen Tag ziemlich schweigsam gewesen, überlegte Meg. Er sprach auch sonst nicht viel, aber heute blieb er besonders wortkarg, während sich vor dem Haus ein regelrechter Sturm ankündigte und an den Dachschindeln rüttelte.
Auch Megs Schwiegermutter schwieg beharrlich, aber das war nicht weiter verwunderlich. Verwunderlich war bloß, dass sie die Einladung zum Abendessen überhaupt angenommen hatte. Frau O’Keefe war nur wenige Jahre älter als Mom und wirkte doch bereits wie eine Greisin. Sie hatte fast alle Zähne verloren, ihr Haar war schmutzig blond und ungekämmt und sah aus, als sei es mit einem stumpfen Messer geschnitten worden. Frau O’Keefes Haltung war meistens ablehnend und missgünstig. Sie hatte nie ein schönes Leben gehabt und haderte mit der ganzen Welt, besonders jedoch mit den Murrys. Deshalb – und vor allem, weil ihr Sohn doch in London war – hatten sie nicht ernsthaft mit ihrem Kommen gerechnet. Bisher hatte Calvins Familie auf alle freundlichen Annäherungsversuche mit frostiger Ablehnung reagiert. Calvin war immer ein Ass in Biologie gewesen, schon als Meg ihn kennenlernte. Er war anders, und als er seinen Doktor gemacht hatte, nahm seine Familie das als Zeichen, dass er endgültig zum Feind übergelaufen war. Wie die meisten Leute im Dorf war auch Frau O’Keefe der Ansicht, Frau Murrys zweifacher Doktortitel und ihre Experimente in der Speisekammer, die zum Labor umgebaut war, seien noch längst kein Beweis dafür, dass sie wirkliche, brauchbare Arbeit leistete. Nicht zuletzt weil es ihr allgemeine Anerkennung eingebracht hatte, tolerierte man ihr Tun – aber unter Arbeit verstand man, dass jemand sein Haus in Schuss hielt oder von acht bis vier in die Fabrik oder ins Büro ging.
Wie kann eine solche Frau die Mutter meines Mannes sein?, fragte sich Meg zum hundertsten Mal und bekam ein wenig Sehnsucht nach Calvins wachem Blick und seinem gewinnenden Lächeln. Mom behauptet, in der Frau steckt mehr, als man ihr äußerlich ansieht, aber davon habe ich noch nie etwas bemerkt. Ich spüre nur, dass sie mich ebenso wenig mag wie unsere ganze Familie. Ich begreife nicht, warum sie heute gekommen ist. Mir wäre lieber gewesen, sie hätte es bleiben lassen.
Aus alter Gewohnheit hatten die Zwillinge damit begonnen, den Tisch zu decken. Sandy machte eben mit den Gabeln die Runde. Er feixte. »Das Festessen an Thanksgiving ist offenbar das Einzige, das Mom in der Küche kocht –«
»– und nicht auf dem Bunsenbrenner im Labor«, pflichtete Dennys ihm bei.
Sandy tätschelte ihr liebevoll die Schulter. »Was natürlich kein Vorwurf gewesen sein soll, Mom.«
»Immerhin hat dich der Bunsenbrenner-Eintopf geradewegs zum Nobelpreis geführt. Wir sind wahnsinnig stolz auf dich, Mom – und auf Dad, obwohl ihr uns die Latte ganz schön hoch gelegt habt.«
»Das stellt schließlich auch uns unter Leistungszwang!« Sandy holte einen Stapel Teller aus der Anrichte, zählte sie gewissenhaft und reihte sie vor der großen Platte auf, die nur noch auf den Truthahn wartete.
Das ist mein Zuhause!, dachte Meg froh und musterte ihre Eltern und Geschwister mit Dankbarkeit und Zuneigung. Sie hatten geduldig alle ihre Launen ertragen, die zum Erwachsenwerden gehören. Nicht, dass sie sich schon wirklich erwachsen fühlte: Es kam ihr noch immer wie gestern vor, dass sie eine Zahnspange getragen hatte. Dazu eine hässliche, verschmierte Brille, die ihr dauernd über die Nase rutschte, und dann noch ihr widerspenstiges mausbraunes Haar. Stets war da die nagende Gewissheit gewesen, nie so schön und selbstbewusst wie ihre Mutter werden zu können. Nach wie vor sah sie sich selbst eher als die heranwachsende Meg und gar nicht als die attraktive junge Frau, die aus ihr geworden war. Die Zahnspange war fort, statt der Brille trug sie jetzt Kontaktlinsen, und obwohl sich ihr kastanienbraunes Haar nie mit Moms rötlichem Brünett messen konnte, war es fest und voll und stand ihr gut – vor allem, wenn sie es, wie jetzt, aus dem Gesicht frisierte und im Nacken zu einem Knoten band. Vor dem Spiegel musste Meg in aller Objektivität zugeben, dass sie hübsch geworden war. Sie hatte sich nur eben noch nicht daran gewöhnt. Kaum zu glauben, dass selbst ihre Mutter einmal diese Verwandlung durchgemacht hatte.
Ob sich auch Charles Wallace eines Tages in diesem Maße körperlich verändern würde? Nach außen hin entwickelte er sich nur sehr langsam. Ihre Eltern setzten bis jetzt vergeblich auf einen plötzlichen Wachstumsschub.
Meg vermisste Charles Wallace mehr als die Zwillinge und ihre Eltern. Sie beide, die Älteste und der Jüngste, hatten stets eine enge Verbindung gehabt. Und Charles Wallace ahnte und erkannte Megs Nöte auf eine Weise, die sich logisch nicht erklären ließ. Wann immer ihre Welt aus dem Gleichgewicht geriet, spürte er es und stand ihr hilfreich zur Seite, und sei es nur durch Zuneigung und Vertrauen. Dass sie diesen Festtag mit ihm verbrachte, gab ihr ein Gefühl von tiefer Geborgenheit. Nun fühlte sie sich richtig zu Hause – obwohl sie ihr Elternhaus ohnedies nach wie vor als ihr eigentliches Zuhause empfand. Calvin und sie kamen oft übers Wochenende her, denn ihre Mietwohnung lag zwar günstig in der Nähe des Krankenhauses, in dem Calvin arbeitete, war aber klein und schrecklich möbliert. Haustiere verboten! hieß es auf einem großen Schild, und Kinder waren wahrscheinlich ebenfalls unwillkommen. So blieb nur die Hoffnung, bald eine bessere Bleibe zu finden … Aber jetzt war Meg daheim, bei ihrer Familie, umgeben von ihren Lieben, die ihr halfen, die Einsamkeit zu verschmerzen. Immerhin war sie zum ersten Mal seit ihrer Hochzeit von Calvin getrennt.
»Fortinbras fehlt mir«, sagte sie plötzlich.
Die Mutter wandte sich vom Herd um. »Ja, ohne Hund wirkt das Haus irgendwie leer. Aber Fort hatte ein ehrwürdiges Alter erreicht, als er starb.«
»Wollt ihr euch keinen neuen Hund anschaffen?«
»Doch. Es hat sich nur noch keiner gefunden.«
»Und wenn ihr euch selbst auf die Suche macht?«
Herr Murry blickte vom Tesserungsmodell auf. »Bisher sind uns die Hunde immer zugelaufen. Nur, wenn nicht bald einer kommt, müssen wir etwas unternehmen.«
»Meg, würdest du den Guss für den Pudding machen?«, bat Mom.
»Aber gern!« Sie holte ein halbes Pfund Butter aus dem Kühlschrank.
Das Telefon läutete.
»Ich geh schon«, sagte Meg und ließ im Vorbeigehen die Butter in eine Schüssel fallen. »Dad! Für dich! Ich glaube, es ist das Weiße Haus.«
Herr Murry eilte an den Apparat. »Oh, Mr President! Guten Abend!« Er lächelte, aber dann sah Meg, wie ihm das Lächeln auf den Lippen erstarb und dem Ausdruck völliger Leere Platz machte. Ja, dachte Meg, das ist es: völlige Leere.
Die Zwillinge unterbrachen ihr Gespräch. Frau Murry verharrte unbeweglich, den Holzlöffel über der Pfanne mit der Bratensoße. Frau O’Keefe starrte missmutig ins Feuer. Charles Wallace schien sich ganz auf das Modell zu konzentrieren.
Dad hört bloß zu!, dachte Meg. Und der Präsident redet und redet.
Unvermittelt fröstelte sie. Eben noch hatten sie alle fröhlich miteinander geplaudert, und auf einmal waren sie verstummt, mitten in der Bewegung erstarrt. Dad presste den Hörer ans Ohr. Meg konnte kein Wort...