E-Book, Deutsch, 138 Seiten
Reihe: narr STARTER
Lelkes / Misiak Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-381-12813-6
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 138 Seiten
Reihe: narr STARTER
ISBN: 978-3-381-12813-6
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Zsófia Lelkes ist Germanistin und Theaterwissenschaftlerin, Kursleiterin DaF / DaZ und Alphabetisierung. Sie leitet das Bildungsinstitut LernPunkt der Heilsarmee in Bern. Dr. Anna Maja Misiak ist Germanistin und Kunsthistorikerin. Sie unterrichtet DaF / DaZ, Alphabetisierung und Grundkompetenzen im LernPunkt der Heilsarmee in Bern.
Autoren/Hrsg.
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2 Theoretische Grundlagen
2.1 Gedächtnis und Aufmerksamkeit
Lernende, die sich eine auf der lateinischen Schrift basierende Schriftsprache aneignen, beschäftigen sich zuerst intensiv mit den kleinen und großen Buchstaben; für das ungeübte Auge sehen sie sehr ähnlich aus, denn diese geometrischen Figuren bestehen aus bestimmten Kombinationen von Linie, Kreis und Halbkreis. Sind die Buchstaben bereits gespeichert und können einzeln erkannt und mit einem Laut verbunden werden, ist der erste wichtige, aber zugleich kleinste Schritt auf dem Literarisierungsweg gemacht. Literarisiert ist man nämlich nicht, wenn man die Buchstaben benennen kann, sondern, wenn man Strategien der Buchstabensynthese entwickelt und internalisiert und die Figuren so schnell und gekonnt multisensorisch (d. h. Graphem und Phonem verbindend) kombiniert, dass aus dem Gelesenen Inhalte erschlossen werden können. Das passiert erst dann, wenn die Lernenden einen hohen Grad an Routine erreichen und ihr Arbeitsgedächtnis dank stark automatisierter Abläufe entlastet wird (vgl. Andresen 1985, 2–5). Bis die Kompetenz von Lesen und Schreiben als angeeignet bezeichnet werden kann, ist es wichtig, kognitive Prozesse beim Lernen vielschichtig zu verstärken, d. h. Informationen durch haptische, visuelle, auditive, graphomotorische und kinästhetisch-artikulatorische Verarbeitungskanäle aufzunehmen und zu verinnerlichen. Der Lehrperson in den DaZ-Alphabetisierungskursen sollte bewusst sein, dass Literarisierung das Umgestalten neuronaler Verbindungen und Hirnfunktionen bedeutet, insbesondere bei den Primäranalphabeten. Die Schriftaneignung löst jahrelange psychophysiologische Prozesse aus, für deren Bezeichnung Stanilas Dehaene die Hypothese vom neuronalen Recycling entwickelte. Die ursprünglich für visuelle Wahrnehmung und für die Sprachverarbeitung zuständigen Gehirnareale werden teilweise für die neue Kompetenz gewonnen und spezialisieren sich u. a. auf das Buchstabenerkennen und auf deren Zuordnung zu entsprechenden Lauten (vgl. Dehaene 2010, 16, 162–165, 341; Dehaene 2020, 119–142). Neurowissenschaftliche Studien haben bewiesen, dass sich die Gehirne von erwachsenen nichtalphabetisierten Menschen von denen der Lesefähigen physiologisch und fähigkeitsbezogen unterscheiden. Nichtalphabetisierte nehmen die Laute ihrer Muttersprache weniger präzise wahr und haben Schwierigkeiten, Spiegelbilder zu differenzieren oder die Fragmente eines ganzen Bildes (z. B. eines Gesichts) zu fokussieren (Dehaene 2020, 120). Im Leselernprozess verändert sich nicht nur die Funktionsweise des Gehirns im visuellen Cortex, sondern auch in den für die auditorischen und phonologischen Operationen zuständigen Regionen der Hirnrinde. Das Gehirn passt sich dabei an die Sondermerkmale der jeweiligen Alphabetisierungssprache an. Auf neuronaler Ebene nutzen Personen, die Chinesisch, Japanisch oder Arabisch lesen, andere Gruppen neuronaler Verbindungen als diejenigen, die Deutsch oder Englisch lesen (Wolf 2010, 5; Max-Planck-Gesellschaft 2017; Ewert 2023). Bei nichtalphabetisierten Erwachsenen wurden im Vergleich zu Lesekundigen insbesondere bei gezielter phonologischer Hörleistung abweichende Hirnaktivierungsmuster festgestellt und als problemlösendes Kompensationsverhalten gedeutet. Bewiesen wurde weiterhin, dass bei nichtalphabetisierten Menschen keine funktionelle Spezialisierung im Areal für visuelle Wortformen stattfindet; das ändert sich erst nach intensivem Lesetraining (Landau 2016, 51–53).
Das Gehirn entwickelt im Literarisierungsprozess nicht nur neue Qualitäten, sondern nimmt am Unterricht teil; je gezielter und umfassender es dabei aktiviert wird, desto besser sind die Aussichten auf Lernfortschritte. Die zunehmende Leseerfahrung spielt eine große Rolle sowohl für das Lesetempo als auch für das Leseverständnis. Die phonologische Strategie hilft, das Gelesene zu fragmentieren und Annahmen zu kontrollieren; die Leseerfahrung und die Vertrautheit mit den gelesenen Begriffen und Informationsinhalten bestimmen die eingesetzte Strategie. Kompetent lesen wird man erst, wenn man mehrere Strategien zu synthetisieren vermag (Cromley 2005, 189). Auch Gedächtnis- und Aufmerksamkeitskapazitäten steigen im Leselernprozess. Eine alphabetisierte erwachsene Person ist imstande, doppelt so viele Silben für eine kurze Zeit zu behalten wie eine nichtalphabetisierte (Dehaene 2020, XIX).
Die Gehirnforschung unterteilt das Gedächtnis in drei Bereiche: sensorische Speicher, Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis. Durch sensorische Organe aufgenommene Informationen werden sofort vergessen, wenn sie nicht in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten. Bewusst wahrgenommen, gelangen sie ins Kurzzeitgedächtnis, und nur dank der Wiederholung werden sie im Langzeitgedächtnis gespeichert.
Klassische Dreiteilung des Gedächtnisses (nach Heidler 2013, 4)
Das Langzeitgedächtnis wird in der Forschung unterteilt in das deklarative relationale Gedächtnis und das nichtdeklarative prozedurale Gedächtnis. Das erste ist explizit ausgerichtet und für bewusstes Erinnern verantwortlich; das zweite zeigt sich im Verhalten und ist an keine Erinnerungen gebunden – es ist ein implizites Wahrnehmungs- und Repräsentationssystem. Das deklarative Gedächtnis ist insbesondere in der Anfangsphase des Lernens wichtig, wenn das Vorwissen aktiviert werden soll. Es wird u. a. in einen semantischen und einen episodischen Speicher unterteilt: Ersterer ist für unser Weltwissen zuständig, dank letzterem haben wir einen situationsbezogenen Zugriff auf Erinnerungen und Ereignisse. Das prozedurale Gedächtnis hingegen unterstützt das Erlernen motorischer und kognitiver Fertigkeiten, bei denen das Wiederholen zum Verstehen bzw. zum Können führt, wie z. B. Fahrradfahren oder Lesen. Das Langzeitgedächtnis enthält unser linguistisches Wissen als wichtige Ressource für Schreibprozesse: Grammatik, Syntax, Rechtschreibung und Wortschatz. Weiterhin sind im Langzeitgedächtnis die Aufgabenschemata, das Wissen über Textsorten und ihre spezifischen Merkmale sowie das für die kommunikative Angemessenheit von Texten wichtige Wissen über Adressaten gespeichert. Das Speichervermögen des Langzeitgedächtnisses wird als sehr groß und als uns unbewusst bezeichnet (vgl. Theodorou 2016, 43–45; Philipp 2019, 25f.; Rey/Nieding 2010, 67). Erst die kompetent Lesenden gewinnen Zeit, um im Langzeitgedächtnis gespeichertes Wissen, Lesestrategien, Weltwissen und textinhaltliches Vorwissen zu aktivieren und dadurch Wörter direkt zu erkennen (Gold 2018, 28).
Das Kurzzeitgedächtnis, verstärkt durch die kontrollierte Aufmerksamkeit, fungiert in der kognitiven Psychologie als Arbeitsgedächtnis. Seine Wichtigkeit ist für das sinnentnehmende Lesen zentral, denn hier muss die erste visuelle Identifikation eines Wortes so lange präsent bleiben, bis alle nötigen Informationen aus dem Langzeitgedächtnis geholt werden. Im Gegensatz zum letzteren funktioniert das Arbeitsgedächtnis bewusst und kann nur eine begrenzte Menge an Informationen gleichzeitig verarbeiten. Auch zeitlich ist es begrenzt: Informationen, die nicht wiederholt werden, verschwinden vom Arbeitsspeicher. Aufgenommen und geliefert werden Informationen durch zwei sogenannte Sklavensysteme: Der visuell-räumliche Notizblock ist für das Aufbewahren und Manipulieren visueller und räumlicher Informationen zuständig; die phonologische Schleife übernimmt das Speichern und Verarbeiten des verbalen Materials und ist zuständig für die zentrale Kontrolle des Sprechens wie auch für die Strukturierung der Handlungen via Verbalisierungen (Heidler 2013, 29; Theodorou 2016, 11; Rey/Nieding 2010, 68; Wolf 2010, 174).
Die Beobachtung, dass sich die Merkspanne der Probanden vergrößert, wenn die Wörter in einer Beziehung zueinanderstehen – also z. B. einen Satz bilden –, führte zur Erweiterung des Arbeitsgedächtnismodells um den episodischen Speicher. Hier werden visuelle und phonologische Informationen aufgenommen und zu einem multimodalen Code verarbeitet. Das Arbeitsgedächtnis spielt die Schlüsselrolle in den Schreibprozessen: Die phonologische Schleife ist besonders wichtig für das Verschriftlichen und Revidieren, und der visuell-räumliche Notitzblock stützt die Schreibenden beim Strukturieren ihrer Ideen und beim Planen der Texte (Philipp 2019, 25).
Das neue Arbeitsgedächtnismodell (nach Baddeley 2002, 421)
In einem alternativen Modell wird das Arbeitsgedächtnis als System betrachtet, das sich als...