E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Leitgeb Das Birnbaumhaus
1. Auflage 2018
ISBN: 978-88-7283-641-5
Verlag: Edition Raetia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-88-7283-641-5
Verlag: Edition Raetia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Emma ist wie der Birnbaum in ihrem Garten und der Birnbaum ist wie Emma: über Jahrzehnte geformt, trotzig und angepasst zugleich."
Emma wird in den letzten Kriegswochen 1945 schwanger. Hin- und hergerissen zwischen einer alten und einer neuen Liebe heiratet sie schlussendlich Enzo und bekommt ein Mädchen. Je älter die Kleine wird, desto angespannter wird das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter. Die Heranwachsende wehrt sich gegen Emmas Angepasstheit und die Enge der Heimat. Dann, am 21. Geburtstag der Tochter, gesteht Emma: Nicht der schüchterne Enzo, sondern der Nazi und Kriegsgewinnler Theo ist ihr leiblicher Vater.
Die Enthüllung stellt die Welt auf den Kopf und scheint die Differenzen zwischen Emma und ihrer Tochter unüberwindbar zu machen.
Wie ein Anker wirkt da der große Birnbaum am Elternhaus, der, beständig und knorrig, die Generationen überlebt.
Ein Roman vom Leben und Älterwerden einer Frau und von den Mühen ihrer Tochter, sie zu verstehen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Ein neuer Horizont
Bozen, 1936–1939
Emma war vierzehn, als sie mit einem Kribbeln und dem Pappköfferchen in der Hand in Bozen ausstieg. Sie war noch nie dort gewesen, denn was hätte eine Egger in der faschistischen Stadt schon zu suchen gehabt? Überall breiteten sich die Italiener aus mit ihren protzigen Gebäuden und Denkmälern. Nein, den bitteren Anblick könne sich einer ersparen, hatte die Mutter ausgerufen, als sie und Emma vor einem Jahr im Zug an Südtirols Hauptstadt vorbeigefahren waren. Die beiden waren von Leifers aus zur wundertätigen Muttergottes von Weißenstein gewandert, um ihren Beistand für die Erleichterung der Leiden einer Verwandten herbeizubeten. Aber nun war Emma tatsächlich da, die zwei Zöpfe zu Schlingen hochgefasst und mit einer Schleife in Ohrenhöhe am Kopf festgebunden, das störrische Haar an den Schläfen mit Spangen befestigt. Sie hatte weiße Socken an und die schwarzen Sonntagsschuhe der Mutter, die ihr noch zu groß waren. Sie schwitzte in dem festen braunen Kleid, weil es in Bozen viel wärmer war als in Rabstein, doch sie merkte es kaum, so aufgeregt war sie, so voller Abenteuerlust und Entdeckerdrang, gespannt bis in die letzte Faser. Alles war fremd und mysteriös. Die Bürgersteige waren voller wunderbarer Kleider, Uniformen, Frisuren. Die Straßenbahn faszinierte sie, die Geschäfte, die Plätze. Vor einem Gasthaus spielten zwei Geiger, ein verliebtes Paar tanzte. Die Welt war neu, sehr lebendig und roch gut. Sie war schön, unglaublich schön. Emma fügte sich problemlos in das neue Leben ein. Ausstattung und Möbel des Klosters erschienen ihr elegant, obwohl sie in Wirklichkeit wohl eher schlicht gewesen sein müssen, aber eben bei weitem nicht so karg wie zu Hause. An den Tagesrhythmus von Gebeten und der täglichen Messe gewöhnte sie sich leicht. Beim Essen wurde geschwiegen, was Emma nur recht war, weil sie das Imponiergehabe einiger Mädchen nicht mochte. Sie lernte die Lektionen der Mater Oberin fleißig. Was immer man von ihr verlangte, tat sie willig: polierte die Kelche, machte die Wäsche, bis die Fingerkuppen runzlig waren, und kehrte die Weberknechte von den Gewölben, alles mit einem Blick in eine bessere Zukunft. Sie erwartete weder Lob noch Hätschelei, denn sie war daran ohnehin nicht gewöhnt. Mit den anderen Mädchen verband sie allein der Umstand, dass keine eine andere kannte. Zunächst war das kein Problem. Später jedoch, als im Unterricht die Schrauben angezogen und die Ansprüche höher und höher gesteckt wurden und sie sah, dass sie sehr viel nachzuholen hatte, begann sie, Gleichgültigkeit oder gar Kälte mancher der Kolleginnen ihr gegenüber zu spüren. Es waren kleine Vorkommnisse, die sie wurmten. Emma setzte sich etwa als Letzte an den Frühstückstisch und sofort hörte die Konversation der anderen auf. Oder sie kam darauf, dass sie als Einzige nicht eingeweiht worden war, als die anderen der Schwester Gertrudis von der Sakristei einen Streich spielten. Oder die Kolleginnen hatten Erlaubnis zu einem Ausgang in ein Konzert eingeholt, ohne Emma einzuschließen. Sie fingen auch an, über Emmas fabelhaftes Italienisch zu spotten, eine Fertigkeit, die ihr das Lob eines Monsignore aus Padua einbrachte, der an einem Donnerstag mit dem Kaplan zum Mittagessen auftauchte. Emma wurde aber auch mit der Häme der Stadtbewohnerinnen für Landgurken bedacht. Sie war zwar nicht die Einzige aus einem Dorf, aber sie war öfters irgendwelchen Frotzeleien wegen ihrer „zopfigen“ Herkunft ausgesetzt. Ob es wirklich das war oder ob es ein anderes, in ihrer Persönlichkeit liegendes und ihr verborgen gebliebenes Manko gab, das die Mädchen aufspürten, hatte sie nie herausfinden können. Selbstprüfung, Selbstbeobachtung war nicht ihre Sache. Sie hatte keine Ahnung, was sie hätte suchen sollen in sich selbst. Wenn sie allein war, lernte sie oder schlief oder wusch sich oder zog sich an. Die Geräusche, die zu ihr drangen, das Reden der anderen, das Huschen der Nonnen, das Schellen der Glocke, das Vorbeiklappern eines bespannten Wagens oder das Vorbeirauschen von Automobilen registrierte sie kaum. Sie verschloss all ihre Sinne gegenüber den kleinen Widersprüchlichkeiten, mit denen die Mädchen ihr begegneten, denn sie wollte sich die Illusion erhalten, dass zwischen ihnen alles stimmte, dass sie ein gut eingefügtes Glied im Getriebe der Gemeinschaft war, dass sie Freundinnen hatte und dass es keine großen Geheimnisse gab. Sie wollte weder die Verdrossenheit der Rabsteiner Kindheit noch eine neue zulassen, und doch, eine diffuse Verstimmung war da und ließ sich nicht ganz verscheuchen und folgte Emma wie ein luftiger Schleier. Am schnellsten verflüchtigten sich die Schatten bei einem Spaziergang in der Freizeit. Es gab herrliche Promenaden mit mediterranem Flair auf den sanften Anhöhen am Rand der Stadt. Emma liebte die Palmen, Oliven, Magnolien, Kaktusfeigen, Zypressen und Zedern und saß öfters einmal ein halbes Stündchen auf einer Bank. Über ihr wuchs an den Hängen der Wein. Vor ihr breitete sich die Stadt in einem weiten grünen Kessel aus. Da waren Ansitze, die rötlichen Dächer der Häuser, der Bahnhof, Kirchtürme und Glocken, die sie bald alle den bestimmten Pastoraten zuzuordnen wusste, auch die neuen Fabrikanlagen am Schnittpunkt der Täler. Im Nordosten saßen hinter Waldbuckeln die Zacken der Rosengartenkette. Nach Süden hin sanken die Bergzüge sanft ab und verschwanden im silbernen Dunst. Es gab auch die Pfade in den Flussauen, wo der Wind in die Birken fuhr und gelbe Blätter daherschwärmten. Wie Emma den Wind liebte, die Farben, die er durcheinanderwirbelte, das plappernde Wasser, den wilden Wein an der Mauer, das Zerfließen der Landschaft in der Sonne. Das Licht war hier ganz anders als in Rabstein, denn der Himmel war größer. Und es roch so gut nach Efeu und Buchs, nach gegerbtem Kuhleder und Traubenbottichen, nach Sugo, Risotto, Spargel, Obst. Die Zeit in der Stadt war ein Netz von Zufällen, Symbolen, Ahnungen, Vorzeichen. Es war, so glaubte sie später, das erste Mal, dass sie sich an einem Ort wirklich zu Hause fühlte. Rückblickend würde sie sich schmunzelnd über die jugendliche Verklärung von Bozen amüsieren. Sicher hatte es dort auch damals so wie überall Baustellen gegeben, die nach Abwasser und Kot rochen. Oder stinkende Mülltonnen. Oder Erbrochenes auf dem Pflaster in der Nähe einer Bar. Oder eine verwesende Katze. Aber der Eifer, mit dem sie ihr Zuhause ausradierte, ließ keine negative Erinnerung zu. Der Ort war ihr sozusagen ins Blut übergegangen und sie konnte sich kein anderes Leben mehr vorstellen, schon gar nicht in der staubigen Talenge von Rabstein, nein, dort wollte sie nicht mehr hin. Zweieinhalb Jahre lang lebte und lernte Emma in Bozen. Wenn sie zu allen heiligen Zeiten einmal mit dem Zug nach Hause fuhr, freute sie sich auf ihr Zimmer mit dem Fenster zum Garten hinaus, das Federbett mit dem ausgewaschenen Blümchenmuster. Da waren die in die Täfelung gehefteten Madonnenbilder, das Schutzengelbild von der Erstkommunion, auch Bildchen, die bei verschiedenen Einkehrtagen, Wallfahrten und Wanderungen vom Pfarrer verteilt worden waren. Das einfache Mus, das die Mutter zum Abendessen auf den Tisch stellte, erschien ihr köstlicher als das Sonntagshähnchen im Kloster. Sie fand die Eltern zufrieden mit ihrem eigenen Leben vor. Die Aussicht auf eine gebildete Tochter schien ihnen zu imponieren. Statt des sonntäglichen Spaziergangs nach Untermühl, das im Stausee untergegangen war, wanderten sie nach Obermühl. Emma bekam ihr Kracherle wie früher, die Eltern tranken ein Glas Wein. Der Vater hatte das Bedürfnis, immer wieder dieselbe Geschichte zu erzählen, sich gleichsam in Ermangelung anderweitigen Gesprächsstoffs hinter der Geschichte zu verschanzen: Als der Stausee aufgefüllt wurde, als mit der unteren Brücke ganz Untermühl samt Gasthaus, Wirtschaftsgebäuden und Kapelle in den Fluten des Bachs versank, versuchten die zurückgelassenen Bewohner des Flurstücks, die Ratten und Mäuse, die Staumauer zu erklimmen, um sich vor dem Ertrinken zu retten. Unter den anfeuernden Zurufen der Passanten versuchte manch ein geübter Steinewerfer, die Tiere zurückzuschmettern in den Tod. Ratten seien eigentlich stille Tiere, aber in Todesnot … Emma hätte das Spektakel hören sollen, das sie machten. Die Mutter wartete immer auf das Ende der Geschichte, um ihren Kommentar anzubringen, ein Anprangern der Habsucht der faschistischen Machthaber, die ganze Landstriche zugrunde richteten, um weit unten im italienischen Stiefel in großem Stil mithilfe der einheimischen Wasserenergie gut leben zu können. Wenn Emma dann sagte, so ein See sei doch auch schön, fielen die Blicke der Eltern erschrocken auf die Tochter, um sich dann verlegen in den Schroffen über ihnen zu verlieren. Im Grunde hatten sie sich nichts mehr zu sagen. Die Eltern hatten das Gefühl, so äußerte sich die Mutter zu Mizzi von der Gemischtwarenhandlung, der Vogel sei ihnen entflogen, er habe das Nest für immer verlassen. Und als er wiederkehrte zum Hineinschnuppern in sein...