E-Book, Deutsch, Band 3/2022, 80 Seiten
Reihe: Lebendige Seelsorge
Pastorale Evaluation
E-Book, Deutsch, Band 3/2022, 80 Seiten
Reihe: Lebendige Seelsorge
ISBN: 978-3-429-06553-9
Verlag: Echter
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. theol., Professor für Pastoraltheologie
an der Ruhruniversität Bochum
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Kirchenentwicklung gestalten mit Evaluation
Eine Theorie des Wandels
Der generelle Trend ist klar: Kirchliche Angebote und Veranstaltungen sind für immer weniger Menschen attraktiv. Einige Initiativen sind jedoch herausragend erfolgreich. Was läuft hier anders? Kann von diesen Projekten gelernt werden? Evaluation unterstützt dabei, Seelsorge für eine Gesellschaft religiöser Optionalität zu entwickeln und den Kreislauf kirchlicher Vitalisierung anzuregen. Miriam Zimmer In Deutschland war zum Ende des Jahres 2020 noch etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung Mitglied einer evangelischen Landeskirche oder katholischen (Erz-)Diözese. Mit der verstärkten Austrittswelle angesichts der aktuellen Debatten um die Aufarbeitung des Machtmissbrauchs in den Kirchen dürfte die magische Grenze von 50 Prozent heute unterschritten sein. Ihren Status als Institution im Sinne einer gesellschaftlich vorbestimmten, allgegenwärtigen und unhinterfragten Einrichtung haben die Kirchen damit verloren. Kirche gehört nicht mehr selbstverständlich zum Leben dazu, sie ist optional geworden. Menschen gehören nicht mehr automatisch zur Kirche, sondern entscheiden sich bewusst für eine (aktive) Mitgliedschaft oder, immer häufiger, dagegen. WANDEL ZU EINER KIRCHE, DIE NICHT SELBSTVERSTÄNDLICH IST
Gleichwohl sind die Kirchen hierzulande weiterhin große, finanzstarke und durch ihre vielseitigen Beziehungen mächtige Organisationen, deren Selbstbild und Auftrag den Dienst an Gott und den Menschen in den Vordergrund stellt. Sie möchten wirksam sein. Doch das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft wandelt sich und damit unweigerlich auch die Funktionsweisen kirchlicher Organisationen wie (Erz-)Diözesen, Pfarreien und Verbände. Die etablierte korporatistische Praxis der Mitgliederverwaltung und -disziplinierung (vgl. Wegner, 13) stößt auf immer weniger Akzeptanz und Gegenliebe. Wenn nur noch an den vom Pfarrer vorgegebenen „Taufsonntagen“ das Initiationssakrament gespendet wird, ohne die zeitlichen und gestalterischen Anliegen der Familien einzubeziehen; wenn in einem anderen Fall betont wird, dass kirchlich angebotene Veranstaltungen für Kinder den Eltern bloß keine Betreuungsengpässe in den Ferien erleichtern sollen, dann ist die implizite Forderung, dass die Gläubigen sich nach ihrer Kirche richten sollen. Ohne diese Haltung moralisch oder gar theologisch bewerten zu wollen, so ist sie in Zeiten einer post-institutionellen Kirche nicht (mehr) erfolgversprechend. Menschen werden sich schlicht andere Angebote suchen, die sich an ihren Bedürfnissen orientieren. Den oben beschriebenen Mitgliederschwund verstärkt diese Praxis nur weiter. Miriam Zimmer Dr. disc. pol., Leiterin des Kompetenzzentrums Pastorale Evaluation am Zentrum für angewandte Pastoralforschung (zap) in Bochum; vormals Leiterin des Kooperationsprojektes Denken und Handeln in Netzwerkdynamiken als Steuerungsmodell großer pastoraler Räume. Ein Grund für solche Haltungen in Pastoral und Seelsorge sind eingeschliffene und berufsbiografisch erlernte Handlungsmuster, die schon im alten System einer institutionalisierten Kirche keine Begeisterung unter den Gläubigen auslösten, dort aber aus einem gewissen sozialen Zwang zur Kirchlichkeit etabliert werden konnten. Nun, unter der Prämisse des Sparzwanges in den Kirchen (vgl. Zimmer), laufen sie Gefahr, sich zu verstärken, indem Angebote weiter an organisationaler Effizienz ausgerichtet werden oder an den, selbstverständlich ernstzunehmenden, Bedürfnissen pastoraler Mitarbeiter*innen orientiert sind und sich damit noch stärker von den Anliegen der Rezipient*innen entfernen. Diese Muster können übrigens nicht nur im pastoralen Bereich, sondern auch in den Sozialverbänden und ihren Einrichtungen beobachtet werden. Es muss also darum gehen, die Handlungsprinzipien kirchlicher Organisation von religiös-monokulturell gewachsenen Routinen auf ein gezieltes Wirken in einer religiösen Multioptionsgesellschaft umzustellen. Das Kompetenzzentrum Pastorale Evaluation am Zentrum für angewandte Pastoralforschung (zap) begleitet und erforscht diesen Wandel kirchlicher und pastoraler Handlungsmuster. Bei der Wirkungsmessung in komplexen Zusammenhängen arbeitet die Evaluationsforschung mit einer Theorie des Wandels (Theory of Change). Diese nimmt konkrete Wirkungszusammenhänge an und identifiziert damit die wesentlichen Messpunkte für die Bewertung einer Maßnahme. Evaluation kann so zielgerichtet und effizient die angenommenen Wirkungsannahmen überprüfen (vgl. z. B. McLellan). In Bezug auf den angesprochenen kirchlichen Wandel leitet das zap folgende Theorie des Wandels an: Abbildung: Theorie des Wandels kirchlicher Vitalität INSTITUTIONELLES ERBE UND KREISLAUF DER TRÄGHEIT
Was gerade vielerorts in Kirche erlebt wird, ist geringe Vitalität (vgl. Eufinger in diesem Heft, 204–207), die ein bekannter Kreislauf organisationaler Trägheit verursacht und stetig verstärkt, der in der Soziologie auch Systemreproduktion (vgl. Luhmann, 44ff.) genannt wird. Konkret ist damit gemeint, dass wenige Menschen an Gottesdiensten teilnehmen, kaum spirituelle Inspiration oder Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben stattfindet. Zudem werden nur wenige Menschen außerhalb der Gruppe der aktiven Mitglieder mit pastoralen Angeboten erreicht. Die erlebte wenig vitalisierende Praxis wird von den ehrenamtlichen und hauptberuflichen Mitarbeiter*innen als ‚normal‘ wahrgenommen, nicht hinterfragt und weiter tradiert. Gemeinden und Pastoral sind geprägt von solchen Routinen, die meist unbewusst fortgeführt werden. Gemeinschaftsförmige Angebote, aber auch Gremien und Organisationsstrukturen bestehen seit Jahrzehnten fort – weil es schon immer so war –, auch wenn sie nur geringe Resonanz erzeugen. Sie wiegen die Beteiligten in Sicherheit und bergen kein Risiko für kritische Aufmerksamkeit. Kapazitäten oder Anlässe für Neues oder zum Überdenken dieser Praxis sind wenige vorhanden. Intention, Mut und Kraft, über eigene organisationale Grenzen hinaus zu wirken, fehlen. Diese Routinen entfalten allerdings in der aktuellen Situation, in der die Hälfte der Bevölkerung nicht mehr Mitglied einer christlichen Kirche ist und viele religiös indifferent sind, wenig Wirkung. Im Gegenteil: Die Gruppe aktiver Kirchenmitglieder wird stetig kleiner, wer bleibt, sind die, die das bisherige unterstützen und weiterführen. In den Pfarreien und Gemeinden steigt der Druck, mit weniger Engagierten die Angebote aufrechtzuerhalten. Wenn das nicht mehr funktioniert, wird sich immer stärker auf ‚das Wesentliche‘ beschränkt: Firm- und Erstkommunionkatechesen, Sonntagsgottesdienste, Sakramente ohne Sonderwünsche. Die Vitalität sinkt weiter. In diesem Kreislauf organisationaler Trägheit, der nicht leicht zu durchbrechen ist, befinden sich viele Kirchengemeinden. Allerdings rücken immer wieder und mit zunehmender Dramatik Wirkungslosigkeit und geringe Vitalität ins Bewusstsein. Das geschieht dann, wenn sie mit Emotionen wie Hoffnung und Enttäuschung oder Ärger verbunden sind. Wenn Engagierte sich von Gottesdiensten mehr erwartet haben, als Predigt und Liturgie leisteten, wenn Familien nach Kasualien den Kontakt zur Kirche abbrechen oder wenn das Seelsorgegespräch enttäuschte, dann wird aus dem Erleben geringer kirchlicher Vitalität Frust, der bei vielen Menschen zum Abbruch von Engagement oder zum Kirchenaustritt führt. Dieser Frust als bewusst erlebte Emotion führt zu aktiven Distanzierungsentscheidungen (vgl. Etscheid-Stams u. a.). Wenige derjenigen, die solche Frustmomente erleben, sind allerdings so motiviert, dass sie einen Versuch unternehmen, Routinen zu verändern oder neue Ideen zu entwickeln, die pastorale Wirkung zeitigen und dadurch religiöse Vitalität entfalten. Zudem treffen solche Initiativen innerhalb der eigenen kirchlichen Organisation, in Gremien, Kirchenverwaltungen und -leitungen, häufig auf Unverständnis, Gleichgültigkeit, Widerstände und organisatorische Hürden, die eine wirkungsorientierte Pastoral ausbremsen. Natürlich erweisen sich einige solcher aus Frust geborenen Ideen auch einfach nicht als erfolgreich. So oder so führen schließlich auch diese Initiativen nicht zu einer Steigerung kirchlicher Vitalität, sondern zu weiterer Enttäuschung und Demotivation bei den Beteiligten. Es ist davon auszugehen, dass die drei Mechanismen, die unbewusste Tradierung und Ausbildung von religiöser Indifferenz, die bewusste Distanzierung nach Frustrationen sowie die Demotivation nach dem Versuch, etwas zu verändern, eine sich gegenseitig verstärkende Kraft erzeugen, die einer vitalen und wirksamen Kirche entgegenwirkt. WIRKUNG INS ZENTRUM STELLEN, ERPROBEN, VERSTEHEN
Manchmal treffen aus Frust geborene wirkungsorientierte Versuche in der...