E-Book, Deutsch, 72 Seiten
Reihe: Lebendige Seelsorge
Weltkirche
E-Book, Deutsch, 72 Seiten
Reihe: Lebendige Seelsorge
ISBN: 978-3-429-06684-0
Verlag: Echter
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In dieser Ausgabe der Lebendigen Seelsorge sollen Themen aus verschiedenen Teilen der Weltkirche in den Blick rücken, die dort theologiegenerativ und pastoralkreativ wirksam sind. Ein einziges Themenheft ist dabei nicht genug, um all die Phänomene und Ausdrucksformen einzufangen, die Weltkirche gegenwärtig konfigurieren. Exemplarische Orte und Kontexte können aber durchaus Spielarten und Performanzen des Christseins zeigen und verschiedene Stimmen, Bewegungen und Phänomene von Weltkirche – nicht selten an der Schnittstelle von Religion und Politik – zu Wort kommen lassen, die vielleicht in der westeuropäischen Wahrnehmung eher unterrepräsentiert sind. Dabei werden auch durchaus brisante Themen verhandelt, etwa der Einsatz für die Rechte von Indigenen auf den Philippinen, der Rechtspopulismus in Ungarn oder die Herausforderung der Versöhnung der Völker nach schweren Kriegen und
Konflikten im Gebiet der Großen-Seen-Länder in Afrika. Aus den USA stammt ein pastoraler Ansatz, der durch Migration hervorgebrachte hybride Formen der Frömmigkeit erkundet, aus Lateinamerika ein theologischer Impuls, der das Anliegen zur Stärkung der Frauen mit dem der Bewahrung der Schöpfung verbindet.
Viel Freude beim Eintauchen in die verschiedenen Geschichten der Theologien und pastoralen Praktiken der Weltkirche.
Autoren/Hrsg.
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Kirche in der Welt: kontextuell und plural
Wer oder was ist eigentlich die Weltkirche? In früheren Jahrzehnten wurden kritische Stimmen immer wieder ermahnt, „Rücksicht auf die Weltkirche“ zu nehmen. Gemeint war damit jedoch, wie Walter Kirchschläger kritisch anmerkte, „streng genommen eine Berücksichtigung des einen Zentrums Rom durch die Kirchen vor Ort“ (Kirchschläger 2009, 37). Stefan Silber In der Gegenwart wird hingegen – was nicht weiter überrascht – häufig nicht mehr nach Rom gezeigt, sondern in diffuser Weise auf Überreste konservativer und fundamentalistischer Kirchlichkeit an den unterschiedlichsten Orten. Michael Schüßler zeigt insbesondere, wie eine perfide, ins Rassistische reichende Strategie den afrikanischen Kontinent global für konservative Beharrungskräfte der Weltkirche in Haftung nimmt. Er macht dagegen auf eine innere Pluralität afrikanischer Kirchen aufmerksam, die aufgrund eurozentrischer und klerikaler Kommunikationsstrategien in der öffentlichen Wahrnehmung oftmals unsichtbar gemacht wird (vgl. Schüßler 2023). Schüßler plädiert daher für eine vollständige Neuperspektivierung des hiesigen Blicks auf die Weltkirche: „Weltkirchliche Solidarität verlangt nach einer dekolonialen Politischen Theologie der Weltkirche“ (ebd.). Dazu muss sich jedoch auch die Ekklesiologie selbst von der dekolonialen und postkolonialen Kritik inspirieren lassen. POSTKOLONIALE ANFRAGEN AN DAS KONZEPT DER WELTKIRCHE
Was immer sich in der Gegenwart unter ‚Weltkirche‘ bezeichnet wird, ist das Produkt von Jahrhunderten des Kolonialismus (vgl. Silber 2021). Fast überall auf der Welt ist das institutionalisierte Christentum im Zusammenhang mit der kolonialen Expansion der vergangenen sechs Jahrhunderte entstanden. Auch wenn die Beziehungen zwischen missionarischen und kolonialen Bestrebungen durchaus vielfältig und gelegentlich auch konfliktiv waren, lässt sich nicht bestreiten, dass der Kolonialismus den militärischen, wirtschaftlichen, politischen und epistemischen Rahmen bot, in dem christliche Kirchen weltweit ihre Institutionen gründeten. Selbst die verschiedenen Staaten Amerikas, die meist bereits seit über 200 Jahren unabhängig sind, gründen auf kolonialen Regimes und können diese Wurzeln bis in die Gegenwart nicht abschütteln. Gerade in römisch-katholischer Sicht ist darüber hinaus die Weltkirche streng zentralistisch organisiert: Der Vatikan ernennt die Bischöfe in fast allen Diözesen der Welt, Rektor:innen katholischer Hochschulen und Universitäten müssen in der Regel zumindest in Rom bestätigt werden. Sehr viele Ordensgemeinschaften werden ebenfalls von Rom aus geleitet, andere aus Zentren in Europa oder den USA. Theologische Curricula werden im Norden des Planeten festgelegt; Theologien des Globalen Südens kommen dort in der Regel nicht vor. Das römische Messbuch und der römische Katechismus gelten als für die gesamte Weltkirche verbindlich. Ein überaus großer Teil der kirchlichen Finanzen weltweiter Ortskirchen stammt aus Europa und Nordamerika und wird hier auch verwaltet. Stefan Silber PD Dr. theol. habil., Verwalter der Professur für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Universität Vechta; zuvor Prof. für Systematische Theologie an der Katholischen Hochschule NRW (Paderborn) und Gastprofessor an mehreren Universitäten in Lateinamerika und Europa. Der in den postkolonialen Studien weithin kritisierte Eurozentrismus, also die durchgehende Prägung weltweiten Denkens durch eine europäische Vorrangstellung, kommt in der katholischen Kirche in besonderer Weise zum Tragen. Alles in der Kirche ist europäisch geprägt und jeder Versuch einer größeren Selbstständigkeit wurde über Jahrhunderte als Abweichung und Untreue gebrandmarkt und vielfach verhindert. Deswegen widersetzen sich Menschen und Kirchen des Globalen Südens immer stärker der europäischen Bevormundung. Auch die lateinamerikanische Bischofsversammlung von Aparecida forderte, dass „das Denken und das Wissen entkolonisiert [und] die Wertschätzung der eigenen Geschichte wiedergewonnen“ (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2007, Nr. 96) werden. Denn mit einer Entkolonisierung der Strukturen ist es nicht getan, wenn die eurozentrische Überheblichkeit bis ins Denken und Wissen hineinreicht. Auch wenn die Beziehungen zwischen missionarischen und kolonialen Bestrebungen durchaus vielfältig und gelegentlich auch konfliktiv waren, lässt sich nicht bestreiten, dass der Kolonialismus den militärischen, wirtschaftlichen, politischen und epistemischen Rahmen bot, in dem christliche Kirchen weltweit ihre Institutionen gründeten. ENTKOLONISIERUNG VON DENKEN UND WISSEN
Denn der Kolonialismus prägt nicht nur immer noch das westliche Denken, sondern auch die Art und Weise, wie etwas gewusst wird und damit auch die Inhalte des Wissens. Dies gilt für Menschen in den ehemaligen Kolonien ebenso wie für Menschen in Europa, denn die grundlegenden Haltungen, die in früheren Jahrhunderten zur kolonialen Expansion Europas geführt haben, sind noch nicht aus dem westlichen Denken verschwunden: Europäische Entwicklungen in Geistesgeschichte, Philosophie und eben auch Theologie gelten als universalisierbar und sollen damit weltweit normativ werden. Entwicklungen außerhalb Europas werden häufig nur anerkannt, wenn sie europäischen Vorstellungen folgen; ansonsten gelten sie als rückständig oder irrational. Vergleichbares gilt für den Begriff von Weltkirche: Während katholische Missionar:innen im 19. Jahrhundert erwarteten, dass Missionskirchen bis in die Ästhetik hinein sich als getreue Kopien europäischer Vorbilder zu entwickeln hätten, erhob man im ausgehenden 20. Jahrhundert den Anspruch, dass das europäische Modell säkularisierender Aufklärung sich weltweit auch in der Kirche durchzusetzen hätte. Alternative theologische Entwicklungen in der Welt – wie die Theologie der Befreiung oder interkulturelle Theologien – wurden als Exotismus oder nur kontextuell relevante Sonderfälle abgetan. In der Gegenwart kann in Deutschland erneut der Eindruck gewonnen werden, dass am deutschen Synodalen Weg die Welt genesen soll. Die ungleich bedeutsamere Synode für Amazonien wurde hingegen hierzulande belächelt oder abgewertet, weil sie nicht den in Deutschland geäußerten Erwartungen an sie entsprach. Dabei ließe sich an ihr ablesen, wie auch zahlreiche andere katholische Ortskirchen weltweit die ekklesiologische und soteriologische Neubestimmung der Kirche als Sakrament des Heils für die Menschheit durch das Zweite Vatikanische Konzil in synodale, pastorale und theologische Praxis übersetzt haben. Was für die Kirche bedeutsam ist, so die Amazoniensynode, entscheidet sich an dem, was den Menschen zur Befreiung dient, die in derselben Welt leben, denn im „Schrei der verwundeten Erde und ihrer Bewohner[:innen]“ lässt sich „die Stimme des Heiligen Geistes“ vernehmen, der „der Kirche neue Wege […] eröffnet“ (Bischofssynode – Sonderversammlung für Amazonien, Nr. 3–4). KIRCHE IN DER WELT
‚Weltkirche‘ muss daher in der Gegenwart in erster Linie und in vielfältiger Weise als ‚Kirche in der Welt‘ verstanden werden: eine Kirche, die erstens tatsächlich überall auf der Welt existiert, zweitens in jeweils sehr unterschiedlicher Weise, je nach den kontextuellen Bedingungen, die diese Welt an den konkreten Orten der Ortskirchen bietet, drittens diesen konkreten und jeweils sehr verschiedenen kontextuell geprägten Lebenswelten jeweils sehr intensiv verbunden ist, wobei – viertens – vielerorts die Verwundungen und Verletzlichkeiten der Menschen (und der Erde) im Vordergrund stehen und die schließlich fünftens eine äußerst diverse Pluralität entwickelt, die sich nicht mehr an europäischen Modellen von Kirche orientiert, sondern an der Stimme des Heiligen Geistes, die im eigenen Kontext gehört wird. Gleichzeitig gibt es selbstverständlich auch noch das, was von einer eurozentrischen und kolonial geprägten Universalkirche übriggeblieben ist. Die finanziellen Abhängigkeiten aus Europa und Nordamerika, die personellen Einflussnahmen des Vatikans und der Ordenszentralen sowie die rechtliche, liturgische, theologische und vielfältige andere Dominanz der europäischen Ortskirchen wirkt nach wie vor in vielfältiger Weise dem Entstehen einer pluralen Weltkirche entgegen. Dennoch lassen sich unterschiedliche Bewegungen erkennen, in denen außereuropäische Ortskirchen, Orden und kirchliche Gemeinschaften, theologische Strömungen und andere Bewegungen innerhalb der katholischen Kirche sich im Dialog mit den eigenen Kontexten zu neuen Gestalten der Kirche in der Welt anregen lassen. Dies kann – wie im Beispiel der Befreiungstheologie – in der...