Lehner | Vater unser | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Lehner Vater unser


1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-446-26305-5
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-446-26305-5
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
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Die Polizei hat sie hergebracht, in die psychiatrische Abteilung des alten Wiener Spitals. Nun erzählt sie dem Chefpsychiater Doktor Korb, warum es so kommen musste. Sie spricht vom Aufwachsen in der erzkatholischen Kärntner Dorfidylle. Vom Zusammenleben mit den Eltern und ihrem jüngeren Bruder Bernhard, den sie unbedingt retten will. Auf den Vater allerdings ist sie nicht gut zu sprechen. Töten will sie ihn am liebsten. Das behauptet sie zumindest. Denn manchmal ist die Frage nach Wahrheit oder Lüge selbst für den Leser nicht zu unterscheiden. In ihrem fulminanten Debüt lässt Angela Lehner eine Geistesgestörte auftreten, wie es sie noch nicht gegeben hat: hochkomisch, besserwisserisch und zutiefst manipulativ.

Angela Lehner, geboren 1987 in Klagenfurt, aufgewachsen in Osttirol, lebt in Berlin. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien, Maynooth und Erlangen. Für Vater unser, ihren ersten Roman, wurde sie mit dem Franz-Tumler-Literaturpreis, dem Literaturpreis Alpha, dem Österreichischen Buchpreis für das beste Debüt 2019 sowie dem Rauriser Literaturpreis 2020 ausgezeichnet.
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Büro


Wer nicht mehr neu ist, braucht auch nicht mehr in den grünen Papierhandtuchanzügen herumzulaufen. Stattdessen habe ich ein ansehnliches Repertoire an Jogginganzügen zur Verfügung gestellt bekommen. Ich muss sagen, das ist gar nicht so schlecht: Den ganzen Tag in Gummizug-Hosen flanieren und zu den Fütterungszeiten im Aufenthaltsraum abhängen. Urlaub in Lignano ist auch nicht viel anders.

Meine Schritte hallen durch den Gang. Und es hilft nichts, man muss es sagen: Der Gang ist schon schön. Da herrscht noch der Glanz anderer Zeiten. In den Patientenpavillons hört das ja gleich auf mit dem Schein, sobald man das Stiegenhaus verlässt und durch die Stationstür geht. Da beginnt der Plastikboden, und womit könnte man besser ausdrücken, dass man am Boden der Tatsachen angekommen ist, als mit Plastikboden; ja, Plastikboden ist eigentlich tatsächlich der Boden der Tatsachen. Aber hier auf den Gängen im ambulanten Therapiegebäude gibt es kein Plastik. Die blauen Ornamente begleiten einen vom Erdgeschoss über vier Stockwerke hinweg. Bis ins Dachgeschoss, wo Doktor Korb sein Büro hat. Bevor ich eintrete, bleibe ich stehen und luge in das Zimmer. Doktor Korb nickt mir, eine Hand an der Türklinke, zu.

Ich trete über die Schwelle, mache ein paar Schritte, bleibe mitten im Raum stehen und warte. Er schließt die Tür, geht an mir vorbei zu den Sitzmöbeln, bedeutet mir dann wieder mit einem Nicken, dass ich weitergehen soll. Als führte er mich an einer unsichtbaren Leine. Und genau wie ein braves Hündchen trotte ich seiner Halbglatze hinterher und mache Platz. Auf einem Diwan, der mit speckigem Leder bezogen ist. Die eine Seite flach, auf der anderen bäumt sich in elegantem Bogen eine Lehne auf. Als hätte sich ein Ohrensessel mit einem Bett gepaart. Ich rücke ein Stück nach rechts, und einer der Knöpfe, die sich in gleichmäßigen Abständen auf dem Speckbezug verteilen wie Fettaugen auf einer Wurstscheibe, gibt ein Geräusch von sich. Ich rücke noch ein Stück weiter, um Missverständnisse zu vermeiden. Doktor Korb setzt sich mir gegenüber in einen Ohrensessel, der im gleichen Stil gehalten ist wie der Diwan.

Hinter ihm steht ein großer Schreibtisch, Mahagoni, denke ich. Nicht, dass ich wüsste, wie Mahagonimöbel aussehen, aber wenn sie tatsächlich existieren, dann wohl in diesem Büro. Regale aus demselben Holz, Bücher, Zertifikate. An der gegenüberliegenden Wand eine Vitrine. Flaschen voller bernsteinfarbenem Alkohol. Ich schnaube und merke, wie Doktor Korb mich beobachtet. Da entdecke ich auf dem niedrigen Tisch zwischen ihm und mir ein Schälchen mit bunten Holzfrüchten. Ungläubig nehme ich einen rot bemalten Holzapfel und rieche daran. Badezimmer, denke ich und freue mich. Ich schaue zu Doktor Korb hinüber und halte den Apfel in die Höhe.

Er verzieht keine Miene. Er scheint den Apfel nicht lustig zu finden und auch nicht die kleine Holzbanane oder die blaue Himbeere, die genauso groß wie die Banane ist. Die Holzfrüchte, den bernsteinfarbenen Alkohol, sein ganzes klischeedurchtränktes Büro: nichts davon findet dieser Korb lustig. Kurz frage ich mich, ob ich ihm eine Freude machen und mich über den Diwan werfen sollte, wie eine Diva im Schwarz-Weiß-Film. Ein Handgelenk an der Stirn, das andere am Bauch, seufzen. Nur um das Bild eines Psychiater-Büros für ihn zu komplettieren. Vollendung, denke ich mir, ist immer ausreizbar.

Korb bleibt stumm, und ich höre eine Uhr ticken, nach der ich mich nicht mehr umzudrehen brauche. Die Lücken im Kopf haben sich geschlossen, spätestens seit den Holzfrüchten weiß ich alles über diesen Raum.

Nach einer weiteren Minute sagt Korb: »Guten Tag.«

Ich wundere mich.

»Guten Tag«, sag ich.

Dann nickt Korb und sagt wieder: »Guten Tag.«

Ich lächle, vielleicht steckt doch Humor in diesem Menschen. Ich hebe die Hände neben die Ohren und beginne, mit ihnen zu wackeln, während ich auf dem Diwan von links nach rechts schaukle: »Gutentag, Gutentag, ich will mein Leben zurück«, sag ich.

Stille. Dann notiert Doktor Korb sich etwas auf dem Klemmbrett.

»Wissen Sie«, sag ich, »die richtige Lampe fehlt noch.«

»Wie bitte?«, Korb hebt den Kopf.

»Na ja, im Zimmer hier: eine Lampe.«

»Soll ich das Licht einschalten?«, fragt er.

»Nein«, sag ich und komme nicht umhin, die Augen zu verdrehen. Schließlich ist es helllichter Tag. Die Sonne knallt durch die Fenster herein, und auch Doktor Korb schwitzt unter seinem weißen Arztkostüm wie die Neueinlieferungen in ihren Papierhandtuchanzügen.

»Für den Schreibtisch«, sag ich und deute überflüssigerweise mit dem Kinn zum Tisch, als wüsste er nicht selbst, wo er steht.

»So eine kleine grüne«, sag ich und beuge mich nach vorne. Ich lege die Hände auf den Couchtisch und fahre dann in der Luft die Form der Lampe nach. Auch imaginäre Lampen müssen auf echten Tischen stehen.

»So«, sag ich, »hier golden und da oben grün.« Ich ziehe die Hände auseinander: »Grünes Glas.« Ich richte mich wieder auf und rutsche auf dem Diwan nach hinten: »Wie in den Bibliotheken«, sag ich, »in den alten. Am Heldenplatz zum Beispiel.«

Korb schaut zur Seite, nickt. Einen Moment lang befürchte ich, er könnte gleich wieder »Guten Tag« sagen. Deswegen beschließe ich, die Situation selbst zu retten. Ich starte die Therapie einfach mal alleine, der Arzt kann ja später einsteigen.

»Ich bin Eva Gruber«, sag ich. »Mit meiner Familie ist es schwierig.«

Doktor Korb nickt. Das ist zumindest ein Anfang.

»Mein Vater«, sag ich, »hat sich umgebracht.«

Er nickt wieder.

»Und meine Mutter ist ja auch tot.«

Der Arzt zieht die Augenbrauen zusammen.

»Meinen Bruder«, sag ich, »hab ich alleine großgezogen.«

Ich lege den Kopf schief und schwelge in der Erinnerung: »Jaja«, sag ich, »das waren noch Zeiten.«

Ich lehne mich vor und schaue dem Psychiater in die Augen: »Wir haben wirklich ein inniges Verhältnis, mein Bruder und ich. Ich habe ihn ja gewissermaßen alleine am Leben erhalten. Wissen Sie, an meinen metaphorischen Zitzen hab ich ihn gesäugt, wie bei diesen Wölfen in Rom.«

Mit der Hand mache ich eine kreisende Bewegung vor meiner linken Brust: »Wissen Sie, was ich meine?«

Der Arzt hebt den Blick von meiner Brust und schaut mir ins Gesicht: »Was?«

»Wölfe in Rom«, sag ich, »sind Sie total ungebildet, oder was? Diese Legende. Die Menschen haben an den Zitzen von dem Wolf getrunken, in Rom; oder die Wölfe an den Zitzen von den Menschen. Umgekehrt würde es aber mehr Sinn machen. So ein Wolf hat ja mehr Zitzen zum Andocken.«

Wieder lasse ich meine Hände vor den Brüsten kreisen und denke nach. »In Deutschland«, sag ich, »soll es ja auch wieder Wölfe geben.«

»Frau Gruber«, unterbricht Doktor Korb mich.

»Ja?«, sag ich und lasse die Hände sinken.

»Wissen Sie, warum Sie hier sind?«, fragt er.

»Ja«, sag ich und stecke die Hände in die Hosentaschen. Es ist beruhigend zu sehen, dass der Arzt jetzt auch an der Therapie teilnimmt.

»Können Sie mir dann bitte in eigenen Worten erzählen, warum Sie hier am OWS aufgenommen wurden?«

»OWS« ist Slang für Otto-Wagner-Spital, die Leute hier nutzen es wie Studierende die Wörter »Bib« oder »Stip«. Das OWS ist die Hood vom Korb. Darum merkt er nicht, dass er Slang redet. Er schaut mich abwartend an.

»Hergekommen bin ich mit der Polizei. Vor drei Tagen.« Ich nicke: »Fast schon vier Tage bin ich da.«

Korb stimmt mir zu.

»Richtig«, sagt er, »wir sind uns also einig, seit wann Sie da sind und wie Sie hergekommen sind. Das Warum müssten wir noch klären.«

Ich nehme das Gummiband, das ich ums Handgelenk trage, und binde mir die Haare zusammen. »Also, die Polizei hat mich geholt. Ich war da sehr kooperativ, muss ich sagen. Ich bin eingestiegen, und dann hat man mich hergebracht. Gut«, sag ich, weil mir die Therapie jetzt schon auf die Nerven geht. Ich klatsche mir mit den Händen auf die Schenkel: »War auch ein bisschen viel heute. Wir sehen uns ja morgen wieder.«

Ich lächle Korb an, stehe auf und gehe zur Tür. Ich drücke die Klinke nach unten, aber die Tür bewegt sich nicht: abgesperrt. »Korb«, sag ich und drehe mich um, »das wäre so ein cooler Abgang gewesen. Sie haben es mir versaut.«

»Frau Gruber«, sagt er, »das ist keine Show, das ist Ihre Therapie.«

»Ja«, sag ich und gehe zum Diwan zurück, »wenn das meine Show wäre, würde es auch bessere Snacks geben.« Ich deute auf die Schüssel mit den Duftfrüchten. ...


Lehner, Angela
Angela Lehner, geboren 1987 in Klagenfurt, aufgewachsen in Osttirol, lebt in Berlin. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien, Maynooth und Erlangen. Für Vater unser, ihren ersten Roman, wurde sie mit dem Franz-Tumler-Literaturpreis, dem Literaturpreis Alpha, dem Österreichischen Buchpreis für das beste Debüt 2019 sowie dem Rauriser Literaturpreis 2020 ausgezeichnet.



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