E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Lehner Fliegenpilze aus Kork
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-218-01070-2
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-218-01070-2
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vater und Tochter streunen durch Wien, lassen sich nachts im Park einsperren, stehlen Elektrogeräte auf dem Müllplatz und sammeln Kupferleitungen auf Baustellen. Was sich wie ein Abenteuer anhört, ist der Alltag der Protagonistin. Nach und nach bemerkt sie, dass ihr Vater nicht wie andere Väter ist. Manchmal ist er arbeitslos, manchmal Bildhauer, Sozialarbeiter oder Hausmeister. Manchmal hat er kein Geld und nichts zu essen zu Hause. Eine Kindheit voller Erwartungen, Enttäuschungen und Träume. In knappen und dichten Episoden erzählt Marie Luise Lehner die ersten zwanzig Jahre aus dem Leben einer Frau. Es sind Blitzlichter einer Erinnerung – mal schillernd, mal in Scherben liegend –, die aber stets von einer kindlichen Leichtigkeit getragen werden.
"Weil wir nie Fahrscheine haben, erklärt er mir, woran man Kontrolleure erkennen kann. Manchmal träume ich von ihnen. Plötzlich stehen sie hinter mir. Ich wache auf, wenn sie >Fahrkarten, bitte< sagen."
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Acht werden. Wir sitzen einen Sommer lang im Eissalon und trinken Erdbeerfrappé. Im Winter schließt der Salon, weil der Inhaber nach Italien fährt. Im Schwimmbad sagen wir immer, dass ich sechs bin. Als ich acht bin, behaupten wir das immer noch. Ich bin sehr groß, manchmal fragen sie mich jetzt nach meinem Ausweis. Ich sage, dass ich keinen dabei habe. Wir fahren mit dem Auto zum Müllplatz. Der Müllplatz ist ein Ort, an dem man viele praktische Dinge finden kann. Damit man hineinfahren darf, muss man etwas im Kofferraum haben, das man wegwerfen möchte. Als Alibi haben wir einige Holzlatten im Kofferraum. In zwei Reihen stehen riesige Metallcontainer, an denen Treppen angebracht sind. Viele Leute werfen ihren Müll einfach von unten über den Metallrand hinein. Wir steigen die Treppen hinauf und schauen in die Container. Beim Holzcontainer hebt er mich hoch und ich klettere hinein. Ich balanciere über einige schiefe Latten und reiche ihm ein Nachtkästchen hinaus. Das müssen wir heimlich machen, es ist verboten, in die Container zu klettern. Dinge, die noch brauchbar sind, werden von der Mülldeponie weiterverkauft. Besonders wertvoll ist der Elektromüll. Deshalb sitzt dort ein Müllplatzwärter und beobachtet, ob die Menschen Dinge hineinwerfen oder herausholen. Es ist sogar verboten, ohne ein elektronisches Gerät in die Hütte mit dem Elektromüll zu gehen. Wir kommen oft hierher. Manchmal warten wir unauffällig, bis der Müllplatzwärter seinen Platz verlässt und schmuggeln uns in die Hütte. Manchmal fragen wir andere Leute, ob wir das Gerät für sie entsorgen dürfen. Einmal bekommen wir einen funktionierenden Drucker, den wir direkt aus dem Kofferraum der Leute, die ihn wegwerfen wollten, in unseren Kofferraum tragen. Der Müllplatzwärter wirft uns einen missbilligenden Blick zu, als er uns einmal dabei erwischt, wie wir mit einem schnurlosen Telefon aus der Hütte kommen. Mein Vater sagt: »Wir haben es uns anders überlegt, wir wollen das Gerät doch behalten.« Zu Hause repariert er die Dinge, die wir finden. Wir haben auf diese Weise ein Faxgerät, einige Drucker und Telefone gerettet. An seiner Wohnungstür klebt ein Sticker mit einem durchgestrichenen Handy. Er erklärt mir, dass die Strahlen von Handys sehr gefährlich seien und dass er nicht einmal in die Nähe eines solchen Telefons kommen wolle. Ein halbes Jahr später ändert er seine Meinung. Er hat ein Handy auf dem Müllplatz gefunden und benutzt es jetzt. Er kauft auch mir eines und ich bin mit acht Jahren das erste Kind in meiner Klasse, das eines besitzt. Es ist so groß wie meine Hand und hat eine Antenne. Auf einem Display, das so breit wie mein kleiner Finger ist, kann man Telefonnummern eingeben. Wenn ich nach der Schule zu ihm fahre, rufe ich an, damit er nicht auf mich vergisst. Ich kann seine Nummer auswendig. Vier, acht, sechs, acht, fünf, drei, null. Ich sage sie wie ein Mantra vor mich her und vergesse deshalb oft die Malreihe der Vier. Nach vier, acht kommt in meinem Kopf ganz eindeutig die Sechs. Ich lerne früh zu kochen. Wir gehen gemeinsam einkaufen. Ich entscheide, was wir kaufen. Er sagt, es sei erstaunlich, wie günstig ich einkaufe. Ich mache Nudeln mit Gemüsesauce. Wenn ich nicht koche, gibt es oft nichts zu essen. Wenn es knapp mit dem Geld ist und er wieder keine Arbeit hat, kauft er einen Sack Kartoffeln und lebt einen Monat davon. Dann machen wir Kartoffelpuffer. Das hat er von seiner böhmischen Mutter gelernt. Wir reiben gemeinsam Kartoffeln, später kommt Mehl dazu und ein bisschen Salz, das ist alles. Als ich ihm einmal auf der Baustelle helfe, darf ich alle alten Kupferrohre sammeln, die ich finden kann. Wir stapeln sie in einen Einkaufswagen und fahren damit zum Müllplatz. Dort wiegt sie einer der Müllmänner ab, er gibt uns sechs Euro dafür. Mit diesem Geld gehen wir zum nächsten Supermarkt und kaufen Wurstsemmeln und in Plastik verschweißten Schokoladekuchen. Ich liebe in Plastik verschweißten Schokoladekuchen. Er ist süßer als jeder andere Kuchen, den ich kenne. Du solltest mehr für deine Tochter kochen, sagt sein Freund. Wir essen Fondue bei seinem Nachbarn. Freitags fahre ich nach der Schule nicht mit der U6 zu meiner Mutter nach Hause, sondern mit der Straßenbahnlinie 5 oder 33 zu meinem Vater. Während der Fahrt setze ich mich nie hin und stehe nahe beim Ausgang, damit ich, wenn jemand die Fahrkarten kontrolliert, ganz schnell aus der Bahn springen kann. Der Weg zu ihm ist auf meiner Schülerfreikarte nicht angegeben. Ein Glück, dass ich ein Kind bin, denke ich, einem Kind läuft kein Kontrolleur nach. In seiner Wohnung in der Innenstadt lebt er mit einem zweiten Mann zusammen. Er riecht schlecht und putzt selten. Mein Vater erzählt mir, dass er ihn aufgenommen hat, weil er obdachlos war. Jedes Mal, wenn ich jetzt Obdachlose unter den Stadtbahnbögen schlafen sehe, denke ich an den Mitbewohner und frage mich, wie er das gemacht hat mit der Obdachlosigkeit. In Wien ist es sehr windig und nachts ist es kalt. Mein Vater hat viele Ausbildungen angefangen und abgeschlossen. Er ist Elektriker, Schlosser, Beleuchtungstechniker, Waldorflehrer, Altenpfleger, Behindertenbetreuer, Bildhauer, Tischler und Maler. Mein Vater kann Hochbetten und Glashäuser bauen, er kann Leitungen verlegen und Marmorsteine behauen. Er hat selten eine regelmäßige Arbeit. Ich weiß nicht, warum. Er hustet, weil er den ganzen Tag einen Holzboden mit Terpentin gereinigt hat. Seine Stimme ist rau. Ich schneide seine Haare, weil er zu einem Bewerbungsgespräch muss. Er baut einen Holzofen in seine Wohnung. Als der Rauchfangkehrer kommt, verstecken wir den Ofen und das Ofenrohr unter dem Sofa. Ich verstecke seine Zigaretten. »Gib sie zurück«, sagt er. Ich will nicht. Er schreit. Ich halte einen Tag lang die Luft an. Er bringt mir das Schwimmen bei. Ich halte mich an seinen Schultern fest, während er Längen schwimmt. Manchmal lasse ich kurz los und schwimme ihm hektisch einige Züge hinterher. Im Kinderbecken übe ich das Tauchen. Danach essen wir im Hallenbadrestaurant zu zweit einen Teller Cevapcici. Ich stehe nackt im Wohnzimmer. Er nimmt den Fotoapparat. »Dein erstes Nacktfoto«, sagt er. Ich presse das nächste Kleidungsstück, das ich finde, vor die Brust, kurz bevor es blitzt. Er hat Höhenangst. Um sich seiner Angst zu stellen, klettert er so hoch er kann auf das Baugerüst der Votivkirche. Er hat einen Schlafsack dabei und verbringt eine Nacht dort. Er macht eine Maske von meinem Gesicht, aus Pappmaché. Im Werkunterricht schnitze ich ein Jahr lang an einem lebensgroßen Holzkopf. Ich schenke ihn meinem Vater zum Geburtstag. Er spielt Gitarre und ich rassle mit einem Rhythmus-Ei. Er sagt: »Irgendwann stellen wir uns auf die Kärntner Straße und verdienen damit Geld.« Das ist eine gute Idee, denke ich, er kann Geld gut gebrauchen. Im Jörgerbad gehen wir in die Herrensauna. Ich sitze immer nur kurz zwischen den nackten, alten Männern mit schlaffen Schwänzen und grauen Haaren auf den dicken Bäuchen. Weil es mir zu heiß ist, spiele ich meistens draußen vor der Tür. Ich gehe ins kalte Becken, bade im Warmwasserbecken, kugle mich zusammen wie ein Baby im Bauch. Mein Vater kommt ab und zu, um nach mir zu sehen. Eines Tages gehen wir gemeinsam in die Umkleide. Der Bademeister sieht mich kurz an und sagt, dass ich in die Frauensauna muss. An diesem Tag wird mir bewusst, dass ich einen Frauenkörper habe. In einer Kiste, in der er Bilder aufbewahrt, finde ich eines von mir, auf dem ich eine Pyjamahose vor meinen Körper halte. Es ist »mein erstes Nacktfoto«. Ich zerreiße das Bild und spüle es im Klo hinunter. Es ist heiß in der Stadt. Ich blute zwanzig Minuten aus meiner Nase ins Waschbecken. Mir ist schwindelig und ich kann nicht schlafen. Der Rauchgeruch ist in meinem Hochbett viel stärker als unten. Ich habe das Gefühl, nicht atmen zu können. Ich bastle ein kleines Heft, in das ich am Schulweg in der Straßenbahn Gedichte aufschreibe. Im Haus meiner Großmutter findet er ein Schlauchboot. Wir pumpen es auf. Als wir am Neusiedlersee campen, steht zwischen uns eine umgedrehte Kartonschachtel mit einer Kerze. Nachts rudern wir über den dunklen See. Als wir meine Großmutter in Oberösterreich besuchen, ist in Linz gerade »Krone-Fest«. Wir stehen vor der großen Bühne am Hauptplatz und sehen den Bands zu. Meine Großcousine gewinnt ein Quat. Am nächsten Tag ist auf dem Titelblatt der Kronen Zeitung die Menschenmenge zu sehen. In der Mitte des Bildes sieht man mich. Ich sitze auf den Schultern...