Lehn | Binde zwei Vögel zusammen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 180 Seiten

Lehn Binde zwei Vögel zusammen


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7325-2980-3
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 180 Seiten

ISBN: 978-3-7325-2980-3
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Aladdin betreibt das Café am Dorfausgang, aber er hat nur einen einzigen Gast. Konvois und Soldaten sind in den staubigen Straßen, die Häuser haben keine Schlösser, und Aladdin ist schon mehrere Male gestorben. Aladdin heißt eigentlich Albert und ist Statist in einem bayerischen Trainingscamp für Afghanistansoldaten. Aber ist Albert nicht eigentlich Aladdin? Albert wird sich immer unsicherer und schon bald ist nicht mehr klar, was Spiel ist und was Ernst -die afghanische Ehefrau, die Blendgranaten, der Sack über dem Kopf? Isabelle Lehn lässt uns in BINDE ZWEI VÖGEL ZUSAMMEN die Verunsicherung durch Medien und Weltgeschehen spüren. Und vielleicht sind wir alle irgendwie Albert, im deutschen Niemandsland zwischen Krieg und Inszenierung.

Isabelle Lehn, geboren 1979, lebt in Leipzig. Sie wurde im Fach Rhetorik promoviert und arbeitet am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Ihre Texte wurden in diversen Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht und mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Prosanova-Publikumspreis 2014 und dem Edit-Essaypreis 2016.

Binde zwei Vögel zusammen ist Isabelle Lehns Debüt.

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EINS
Der Lauf einer Waffe ist auf meinen Kopf gerichtet. Ich starre auf die Wand, die unverputzten Steine, die eine Kulisse sein müssen, damit es nicht aufhört, ein Spiel zu sein. In meinem Rücken liegt Faruk. Ich will den Kopf drehen, ich erwarte den Schuss, Platzpatronen, einen Knall, wenn das Trommelfell platzt. Die Soldaten brüllen, die Stimme des Supervisors, ich bilde mir ein, Faruk keuchen zu hören. Don’t move! – es ist mein eigener Atem. Der Moment, auf den wir uns gefasst machen sollten. Der Augenblick, in dem es zu kippen beginnt und man vergisst, dass man bloß eine Rolle verkörpert, dass es ein anderer ist, der dort am Boden liegt, ein Knie in den Rücken gedrückt, eine Kapuze über den Kopf gezogen. Dass man nicht selbst in den Lauf einer Waffe blickt. Jeden Morgen öffne ich die Tür des Cafés. Sie ist nicht abgeschlossen, es gibt keine Schlösser an den Türen unserer Häuser, die wie leere Kartons entlang der Dorfstraße stehen. Im Gastraum ist es dunkel und stickig. Es riecht nach Mäusekot, und ich höre das Rascheln der Tiere unter den Dielen, dem unebenen Boden, der seit Jahren ein Provisorium ist. Ich taste mich an der Holzwand entlang, um nicht gegen die Tische oder den Spülschrank zu stoßen, und wenn ich die Läden öffne, vermisst das Licht den Bretterverschlag. In der Nacht dringt der Staub durch die Ritzen der Bohlen, der am Mittag, wenn der Konvoi über die Dorfstraße fährt, vor den Fenstern rot aufwirbeln wird. Er legt sich auf den Spülschrank, die Tische, die Stühle, die ich am Morgen mit feuchten Tüchern abwische, obwohl sie am Mittag schon wieder bedeckt sein werden. Niemand stört sich daran. Faruk war mein einziger Gast – aber es hilft, in Bewegung zu bleiben. Das Lager der Soldaten liegt auf dem Hügel. Von der Terrasse aus kann ich es sehen, wenn es früh am Morgen in Bewegung gerät und die Humvees zwischen den Zelten umherfahren. Dann bin auch ich vom Hügel aus sichtbar, und ich beginne, die Terrasse zu fegen. Unser Dorf muss belebt aussehen, so lautet die erste Regel des Spiels, in dem wir Figuren sind und zu tanzen beginnen, sobald jemand einen Blick auf uns wirft. Der Supervisor läuft durch die Straßen. Dorfleben! ruft er und rudert mit den Armen, Dorfleben!, und eine Welle breitet sich aus, die wir weitertragen, durch die Straßen in die Häuser hinein, wo ihr Echo lustlos verhallt. Ich spule meine Bewegungen ab, ein begrenztes Repertoire an Schritten und Handgriffen, ich habe mir angewöhnt, langsam zu fegen, um nicht zu früh fertig zu sein. Später sitze ich auf der Terrasse und lese. Das Leder des Sessels erwärmt sich in der Sonne, es ist schuppig wie die Haut einer Echse, und der Supervisor stört sich nicht an meinen Büchern, solange er mich oft genug fegen und durch den Ort laufen sieht. Nur den Frauen ist das Lesen verboten. Sie haben es nie gelernt an diesem Ort, und auch das Café betreten sie nicht. Ich sehe sie geisterhaft durch das Straßenbild ziehen, unter blauen Stoffbahnen, in Paaren oder hinter den Männern, mit denen der Supervisor sie verheiratet hat. An ihren Männern kann ich sie unterscheiden, die Frau des Dorfältesten, des Arztes, des Barbiers, und in den Häusern auf der anderen Straßenseite sind ihre Schatten am Fenster zu sehen, wenn sie wie ich nur das Nötigste tun, um nicht zu erstarren und für die nächste Patrouille bereit zu sein. Die meiste Zeit des Tages verbringen wir so. In einem Reptilienschlaf, reglos und darauf lauernd, dass etwas geschieht. Wenn der Konvoi sich nähert, laufe ich durch den Ort. Vorbei an der Schule, in der es dem Lehrer an Schülern fehlt, vorbei am Hotel, das keine Gäste beherbergt, vorbei am Krankenhaus, in dem nur Simulanten behandelt werden. Ich gehe auf den Bazar, feilsche um Requisiten und tausche ein paar Worte mit meinen Nachbarn aus, Sätze, die nach einem Gespräch aussehen. Unterwegs sammle ich Steine. Ich bücke mich und hebe sie auf, klopfe die Erde ab und stecke sie ein, in die Taschen meiner Pluderhose, in die Ärmel meines Kaftans, die vom Staub bereits rot gefärbt sind. Die Erde ist überall. Sie sammelt sich unter dem Sensorgeschirr, das ich am Abend erst ablegen darf, wenn es mir rostrot auf den Leib geschrieben ist, als hätte ich unter den Gurten Blut statt Wasser geschwitzt. Die gesammelten Steine schichte ich am Ortsrand zu Kegeln auf. Die Soldaten müssen die Kegel zerstören, bevor sie in den Ort einfahren dürfen, denn auch das ist eine Regel des Spiels: Meine Steinhaufen könnten Sprengfallen sein. Die Männer kommen nicht jeden Tag. Es gibt noch andere Dörfer im Tal, Orte wie unseren, den wir nur verlassen dürfen, um am Abend in die Baracke zu gehen. Ich habe viel Zeit, den Wolken dabei zuzusehen, wie sie sich auftürmen. Der Himmel reicht tief hinab, und am Horizont, der jenseits des Sicherheitszaunes liegt, kann ich den Zwiebelturm einer Kirche erkennen. Manchmal entdecke ich Rehe am Waldrand, einen Bussard, der über der Weide kreist, oder eine Schafherde, die der Regen in die Nähe des Dorfes getrieben hat. Ihr Geblök lässt den Ort fast wirklich erscheinen, bis wieder Sirenen, Signale oder Lautsprecherdurchsagen aus dem Lager zu hören sind, und dreimal am Tag schallt der Ruf eines Muezzins durch unsere Straßen. Wir folgen ihm im Tross zur Moschee, wo das Tonband verstummt und wir die Zeit abwarten, die ein Gebet ausfüllen könnte, bis der Supervisor kommt, um uns zurück auf unsere Plätze zu schicken. Faruk war der einzige Gast im Café Aladdin. Außer ihm scheint niemand zu ahnen, dass ich einen Stromanschluss habe, und einen Wasserkocher, den in der Baracke niemand vermisst. Jeden Morgen sammle ich Teebeutel und Zucker vom Frühstückstisch ein. Den Tee koche ich stark und süß, wie ich es für landestypisch halte, ohne zu wissen, dass Kardamom und ein Schuss Sahne fehlen. Aber selbst Aladdin korrigiert mich nicht, denn er weiß es nicht besser als ich. Aladdin, von dem ich nicht weiß, welche Gedanken für ihn vorgesehen sind und ob er sich raushalten darf, in seinem Café am Rande des Dorfes. Einmal standen die Taliban vor seiner Tür, sechs Männer in ihren Kostümen, aber auch sie kamen nicht, um bei mir Tee zu trinken. Ob ich es nicht satthätte, mich im Dorf nicht frei bewegen zu können, fragten sie, und ich hielt mich am Sensorgeschirr fest, am oberen Riemen, der immer ein wenig gegen die Kehle drückte, und dachte an Faruk, der bereits wieder zu Hause war, weil er sich irgendwann nicht mehr im Griff gehabt hatte. Im Dorf hatte Faruk davon gelebt, dass er Weizen anbaute. Auf den Feldern, die den Ort nicht umgaben und wie fast alles im Dorf eine Legende waren. Seine Tage verbrachte er im Café Aladdin, am hinteren Tisch, wo er für eine Prüfung lernte, die nach seiner Zeit im Dorf stattfinden sollte. Er wälzte Bildbände, und in einem davon hatte ich Andy Warhols Campbell’s-Soup-Dose erkannt. Andy Warlord, scherzte der Supervisor, als er vorbeikam, um bei Aladdin nach dem Rechten zu sehen. Meine beiden Priester, nannte er uns, er sprach mit amerikanischem Akzent, und Faruk nannte ihn unseren Choreographen, seit der Supervisor uns am zweiten Tag hatte vorsprechen lassen. Wir sollten unsere Geschichte erzählen, und ich schwitzte und brachte kaum ein Wort heraus, ich stotterte und fühlte mich nackt vor den anderen, trotz meines Kostüms und des Deckmantels von Aladdins Namen. Ich weiß nicht viel über den Mann, den ich darstellen soll. Bloß das, was der Supervisor mich abfragen kann: Aladdins Dorf liegt am Fuße des Marmalgebirges, nicht weit entfernt von Mazar-i-Sharif. Er ist Paschtune, achtundzwanzig Jahre alt, im gleichen Alter wie ich, und ich bin Aladdin, verheiratet und dreifacher Vater. Ich lebe am Fuße des Marmalgebirges, mit meiner Frau, einem Sohn und zwei Töchtern. Ihre Namen bleiben mir fremd, die Züge meiner Frau sind verschleiert, und ich frage mich, ob Aladdins Kinder mir ähnlich sehen, weil Aladdin so aussieht wie ich. Er sieht immer so aus wie der Mann, der das Café am Ortsrand betreibt, und ich will versuchen, die Namen meiner Frau und der Kinder bald wieder vergessen zu haben, weil ich sie vor den Taliban und den Soldaten niemals aussprechen darf. Aladdin besitzt ein Stück Land. Fünf Hektar, auf denen ein Aprikosenhain steht. Im Krieg sind alle Papiere verloren gegangen, und seither gibt es Streit, den ich zusammen mit dem Café übernommen habe – von einem Mann, der ebenfalls Aladdin hieß. Er hat seine Kleider abgelegt, das Geld eingestrichen und das Dorf am Fuße des Marmalgebirges zurückgelassen, wie auch ich es bald zurücklassen werde. Alle sechs Wochen tauscht man uns aus, und nur die Flachbauten stehen hier seit Jahren, zwischen ein paar Giebelhäusern, den Überresten einer anderen Zeit, als unser Dorf noch auf dem Balkan lag, die Statisten andere Namen trugen und die Soldaten mit ihnen den Häuserkampf probten. Auch Faruk hat seinen Namen nicht mitgenommen. Im Dorf gebrauchen wir ihn noch, wenn wir von ihm sprechen, Faruk, ein Mann, den es außerhalb des Dorfes nicht gibt. Allein er soll die Verantwortung tragen, Faruk, ein Mann, den man außerhalb des Dorfes nicht anzeigen kann, und auch das zählt zu den Regeln des Spiels: Die Rolle bleibt hier, und mit ihr alles, was man erlebt hat. Wir haben eine Schweigeerklärung abgeben müssen, es gibt eine Unterschrift, aber noch bin ich hier und kann den Supervisor nach Faruk fragen: Ob auch der Soldat ihn nicht anzeigen wird, dem er den Finger gebrochen hat, und der Supervisor lacht, er lehnt sich zurück und sagt: Der kann sich höchstens ärgern, dass er Faruk nicht rechtzeitig erschossen hat! Damit man uns erschießen kann, tragen wir das Sensorgeschirr. Die Soldaten feuern aus Sturmgewehren, mit Platzpatronen und...


Lehn, Isabelle
Isabelle Lehn, geboren 1979, lebt in Leipzig. Sie wurde im Fach Rhetorik promoviert und arbeitet am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Ihre Texte wurden in diversen Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht und mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Prosanova-Publikumspreis 2014 und dem Edit-Essaypreis 2016. Binde zwei Vögel zusammen ist Isabelle Lehns Debüt.

Isabelle Lehn, geboren 1979, lebt in Leipzig. Sie wurde im Fach Rhetorik promoviert und arbeitet am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Ihre Texte wurden in diversen Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht und mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Prosanova-Publikumspreis 2014 und dem Edit-Essaypreis 2016.

Binde zwei Vögel zusammen ist Isabelle Lehns Debüt.



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