Lehmann Tragödie und Dramatisches Theater
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-89581-361-0
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 736 Seiten
ISBN: 978-3-89581-361-0
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was ist 'tragische Erfahrung' im Theater?Anknüpfend an seine früheren Studien zur antiken Tragödie - "Theater und Mythos" - und an sein in 19 Sprachen übersetztes Standardwerk "Postdramatisches Theater" entwirft Hans-Thies Lehmann, einer der bedeutendsten Theatertheoretiker Deutschlands, in seinem neuen Buch eine Theorie der Tragödie, die sich in Europa von der Antike bis in die postdramatische Gegenwart entwickelte. Dabei wird das Konzept der tragischen Erfahrung als einer strikt an Theatererfahrung gebundenen erläutert. Im Zentrum steht die neuzeitliche Tragödie seit der Renaissance und die Frage nach der Gegenwärtigkeit der Tragödie.
'Was genau ist (oder war) das ›Dramatische‹ am dramatischen Theater? Was kann Tragödie und das Tragische bedeuten, wenn man zwischen prädramatisch, dramatisch und postdramatisch organisierten Formen von Theatralität klar unterscheidet?' Hans-Thies Lehmann
'Hans-Thies Lehmann ist ein Theaterwissenschaftler, der viel gesehen hat; einer, der seine Überlegungen aus der konkreten sinnlich-ästhetischen Anschauung entwickelt und seine ästhetische Erfahrung zum Profil einer Theaterwissenschaft erklärt. Das ist gut und leider viel zu selten.' Jörg Wiesel, "Mykenae"
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Einleitung TRAGÖDIENTHEORIE UND THEATERERFAHRUNG Wer es heutigentags unternimmt, sich ein weiteres Mal auf das ebenso unübersichtliche wie vielbetretene Gelände der Tragödientheorie zu begeben, im Rücken eine gewaltige, kaum überschaubare Literatur zu diesem Thema, wird einleitend dem Leser über Motive und Terminologie (Tragödie, Tragik, tragische Erfahrung, Trauerspiel …) eine mindestens vorläufige Klarheit verschaffen und erläutern wollen, welche anders als bisher oder gar neu auszuleuchtende Aspekte des Themas verhandelt werden. Das erste Motiv dieser Untersuchung ist der Umstand, daß ein erheblicher Teil der vorliegenden Tragödientheorien ebensogut hätte so geschrieben werden können, wie sie dastehen, wenn es ein Theater der Tragödie überhaupt nie gegeben hätte. Dies gilt schon für Aristoteles, der bekanntlich ausdrücklich erklärt, die »Opsis« (also der sichtbare Teil der Aufführung) sei Nebensache und das Kunstloseste, Wertloseste an der Tragödie. Im Grunde gilt ihm die Aufführung als überflüssig. Seitdem gibt es für die europäische Denktradition eine Kleinigkeit am Theater, die stört, auch wenn Theater an sich als eine feine Sache gelten mag. Was am Theater stört, ist – das Theater. Aristoteles erklärt recht unumwunden, man brauche es eigentlich nur für die Dümmeren, die ungern von sich aus denken. Diese werden durch Mimesis – den kindlichen Spaß am Wiedererkennen – sozusagen zum Denken verführt, während der Denkende, der Philosoph, solcher Anreize nicht bedürftig ist: Das Lernen bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen (diese haben freilich nur wenig Anteil daran). Sie freuen sich also deshalb über den Anblick von Bildern, weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei, z. B. daß diese Gestalt den und den darstelle.1 Es geht in dieser Studie darum, die theatrale Dimension in die Diskussion der Tragödie zurückzuholen und sogar als ihr zentrales Element zu erweisen. Nicht zuletzt der von Anfang an virulente parti pris der Theorie für den Logos des Textes und gegen das Theater ist verantwortlich dafür, daß man die Bestimmungen der Tragödie und des Tragischen durchwegallein aus der Textdeutung der großen Werke tragischer Literatur abgeleitet hat. Wir haben es daher mit dem wahrhaft paradoxen Umstand zu tun, daß ungeachtet einer gewaltigen Literatur über Tragödie und das Tragische dennoch kaum im engeren Sinne theaterwissenschaftlich orientierte und argumentierende Tragödientheorie existiert. Dieser Umstand zwingt dazu, trotz der riesigen Forschungsliteratur zu diesem Thema in mancher Hinsicht Neuland zu betreten, wenn es darum geht, die Tragödie als ein Phänomen zu theoretisieren, von dem nicht nur abstrakt zu konzedieren, sondern konkret zu zeigen ist, daß und in welcher Weise es auf das engste an die Wirklichkeit einer Performanz gebunden ist, an einen in irgendeiner, wenngleich überaus verschiedenartiger Weise theatralen Vorgang. Angesichts der hohen Wertschätzung, die die tragische Dichtung traditionell genießt, ist dabei die Anmerkung nicht überflüssig, daß nicht nur tragisches Theater von höchstem Niveau sein kann. Tragödie ist gewiß, sonst würde sie nicht so ausdauernd das Interesse auf sich ziehen, ein besonders interessanter Fall. Und der Verfasser bekennt sich dazu, daß ihm manches Mal der Gedanke durch den Kopf ging, ob nicht doch die Tragödie in ihrer eigentümlichen Verbindung von affektiver und mentaler Erschütterung am Ende das Theater schlechthin sei. Doch sie soll hier nicht als der Gipfel der Kunst behauptet werden. Es gibt viel hervorragendes Theater, das nicht tragisch und dennoch große Kunst, komplex und »tief« ist. So existiert unter zeitgenössischen postdramatischen Theaterformen brillantes Theater der Dokumentation, Installations-Theater, Komödie, Theater des Politischen, Bilder-Theater, performancenahes Theater und vieles andere mehr, das keineswegs daran interessiert ist, Tragödie zu schaffen. Auf diese Feststellung ist besonderer Wert zu legen, da bei jeder Diskussion des Gegenwartstheaters ein Element der theaterästhetischen Wertschätzung interveniert und die vorliegende Untersuchung nach Möglichkeit vor dem Mißverständnis bewahrt sein soll, daß es dem tragischen Theater per se die Palme zuspricht. Die Reduktion der Tragödie auf Literatur ist allgegenwärtig. Neuere und neueste wichtige Publikationen tragen sie weiter,2 bedeutsame theoretische Studien beziehen Lyrik und Roman ein,3 philosophische Abhandlungen zur Tragödie, von denen man doch erwarten könnte, daß sie sich angesichts der unübersehbar gewordenen Entgrenzung der Künste nicht auf Literatur fixieren, sind diesem Modell immer wieder gefolgt. Ein vielzitiertes Werk über Tragödie und Philosophie von Walter Kaufmann aus dem Jahre 1980 definiert noch, Tragödie sei »(1) eine Form der Literatur, die (2) ein symbolisches Geschehen, von Schauspielern aufgeführt, darstellt …«,4 ohne den hier vollzogenen Übergang von einer Kunstsphäre in eine andere auch nur zu thematisieren. Der Grund für diese Schieflage der Literaturwissenschaft liegt nicht zuletzt darin, daß sie das Drama zwar als literarischen Text würdigt, aber verkennt, daß demgegenüber das Theater eine radikal anders geartete ästhetische und soziale Wirklichkeit darstellt, und so die Konzepte von Drama und Theater ungenau ineinanderschiebt.5 Aber auch eine Betrachtungsweise, die das Theatrale nur abstrakt und als solches einbezieht, bleibt unbefriedigend, würde sie doch zwar den Fehler der Einengung des Themas auf den Textbestand von Tragödien vermeiden, dennoch aber die radikalen historischen Wandlungen des Theaters außer acht lassen, in deren Kontext Tragödien sich allererst realisierten und realisieren. Antikes Theater und mittelalterliches Spiel, die – wie wir sagen werden: dramatische – Tragödie der Renaissance und des Barock, die Guckkastenbühne des bürgerlichen Theaters, die radikale Öffnung des Theaters in den historischen Avantgarden und das postdramatische und performancenahe Theater im Kontext der Medienkultur – immer wieder hat sich Theater in seiner Geschichte in so durchgreifender Weise neu erfunden, daß es nirgends zureicht, nur »das« Theater im Allgemeinen als Moment der Tragödie zu thematisieren. Nur eine Betrachtungsweise, die sich bewußt auf die Konvention fixieren wollte und die gewohnte, jedoch in Wahrheit mehr oder minder auf wenige Jahrhunderte in Europa beschränkte spezifisch dramatische Form von Theatralität als Norm unterstellt, kann es dabei bewenden lassen, von »dem« Theater der Tragödie zu sprechen. Damit ist das zweite Motiv angedeutet, dem diese Untersuchung ihre Entstehung verdankt, die Absicht des Autors, seine jahrzehntelange Beschäftigung mit dem Gegenstand Tragödie, die daraus entstandenen Reflexionen und Thesen6 einmal in der Weise zusammenhängend zur Diskussion zu stellen, daß die mittels der Herausarbeitung des im weitesten Sinne »postdramatischen« Charakters des Gegenwartstheaters gewonnene Perspektive für das Verständnis der im engeren Sinne »dramatischen« Tradition der Tragödie fruchtbar gemacht wird. Im Zusammenhang der historisch weiter ausgreifenden Fragestellung wird in diesem Buch der Begriff »postdramatisch« weiter gefaßt. Er bezeichnet hier nicht nur die experimentellen Theaterformen seit den 1960er Jahren, sondern auch diejenigen, die in Postdramatisches Theater als deren »Vorgeschichten« bezeichnet wurden.7 Dabei hat der Dreischritt der prädramatischen, dramatischen und postdramatischen Gestalt von Tragödie nichts mit einer wie auch immer hegelisch inspirierten Prozessualität zu tun. Er dient vielmehr der möglichst entschiedenen Hervorhebung des Ausnahmecharakters und zugleich der beschränkten Gültigkeit der dramatischen Form des Theaters, wie sie sich in Europa entwickelt hat. Weder vor ihrer Herrschaft, noch – so weit sich dies absehen läßt – nach ihr, noch auch in anderen Theaterkulturen hat es die Fixierung aufs dramatische Darstellen im Sinne des europäischen Theaters gegeben – wobei unbestritten bleibt, daß in dieser Tradition große Meisterwerke und tiefsinnige Reflexionen über die Kunst des Theaters und der Tragödie entstanden sind, die das Theater allerdings jederzeit erst wieder aus dem Konformismus des Betriebs zu befreien hat. Dann freilich gilt: Die dramatische Tragödie der Vergangenheit hält ein unabsehbares Potential für das postdramatische Theater bereit. Mit der historischen Perspektivierung ist der Versuch verbunden, dem noch immer weitverbreiteten Irrtum entgegenzuwirken, alles Theater sei im Grunde dramatisch und die Begriffsbildung »dramatisches Theater« mehr oder weniger ein Pleonasmus. Die quer durch die Epochen des europäischen Theaters wiederkehrende Motivik des Tragischen artikuliert sich, das ist eine der leitenden...