E-Book, Deutsch, 145 Seiten
Lehmann Die Affen von Cannstatt
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-944818-15-3
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 145 Seiten
ISBN: 978-3-944818-15-3
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Gefangen! »Am 6. Mai wird von einem Friedhofsgärtner ein winziger Schädel ausgehoben. Die Polizei sucht tagelang und findet drei weitere Skelette. Ein Pressefoto zeigt in Lappen geschlagene Haufen halb unter Gebüsch. Das sind die Leichen. Auf einem anderen sehe ich ein langgestrecktes Reihenhaus mit Birken. Ein weiteres Foto zeigt ein verschrecktes kleines Kind. Das soll ich sein.« Camilla Feh beteuert ihre Unschuld, obwohl sie bereits im Knast sitzt. Schreibend rekonstruiert sie ihr Leben und müht sich, Licht ins Dunkel zu bringen. Camillas Mutter wurde bezichtigt, vier ihrer Neugeborenen getötet zu haben. Kurz vor ihrer Verhaftung tauchte sie unter und wird seitdem per internationalem Haftbefehl gesucht. Camilla, ihr fünftes Kind, ist bei Pflegeeltern aufgewachsen. Ein Soziologiestudium brach sie nach einer Auseinandersetzung mit ihrem Professor ab, trennte sich von ihrem politisch aktiven Freund und vergrub sich, um ein stilles, unauffälliges Leben zu führen. Doch dann, fünf Jahre später, holt die Vergangenheit Camilla ein: Im gut gesicherten Bonobo-Gehege des Stuttgarter Zoos Wilhelma wird die zerfleischte Leiche ihres Exfreunds gefunden! Eine übergriffige Journalistin, die Camillas Vertrauen erschlichen hat, liefert sie prompt ans Messer, und wer glaubt schon der gehemmten Tochter einer gesuchten Kindsmörderin, dass sie unschuldig ist? Und wer ist verantwortlich für den Toten im Affenhaus? Hat Camilla den ihr zur Last gelegten Mord vielleicht doch begangen oder Anteil daran gehabt? Oder ist es der Schatten ihrer Vergangenheit, der den Ermittlern den Blick auf ihre Unschuld verstellt? Und Tag für Tag gärt in ihr der Hass auf »die Hyäne«, die ihr Vertrauen missbraucht und sie in diese Lage gebracht hat ... Christine Lehmanns neuer Roman erzählt von Affen und Menschen, von Verbrecherinnen und ihren Motiven sowie von Gefängnissen aller Art.
Christine Lehmann lebt in Stuttgart und Wangen (Allgäu), ist als Nachrichten- und Aktuellredakteurin beim SWR tätig und schreibt Romane, Kurzkrimis, Kriminalhörspiele (Radio Tatort) und Glossen.
Autoren/Hrsg.
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Fortsetzung Verteidigung Camilla Feh Die öffentliche Erinnerung an die Kindsmörderin vom Muckensturm verblasst im Lauf der Jahre. Ich merke, dass ich mich wohler fühle, wenn mich niemand beachtet. Ich werde unsichtbar. Meine ersten Jahre auf dem Kepler-Gymnasium in Cannstatt sind angenehm. Ich bin unauffällig gut in Mathe und Deutsch. Es fällt mir leicht zu lernen. Ich kann dem Schatten meiner Mutter ein Stück davonlaufen. Er holt mich nur ein, wenn meine Mitschüler mich fragen, warum ich anders heiße als mein Bruder Lukas und meine Eltern. Dann antworte ich, weil ich ein Pflegekind bin. Das hat so lange funktioniert, bis jemand sagt: Aber dann könnten sie dich doch adoptieren. Ja, warum haben sie mich nicht adoptiert? Muss man vorsichtig sein mit einer wie mir? Die Sexualaufklärung, die wir Mädchen getrennt von den Jungs erhalten, bringt mir die Erkenntnis, dass die Taten meiner Mutter eine Folge der menschlichen Sexualität sind, die allgemein da ist und mit der auch ich selbst eines Tages zu tun haben werde. Der biologischen Brutalität der Sexualität entgeht niemand. Die Lehrerin spricht von Zyklus, Eisprung und Verhütung. Wieso hat meine Mutter nicht gewusst, dass man nicht schwanger werden muss, wenn man es nicht will? Hat es früher keine Pille gegeben?, frage ich meine Mutter. Sie lacht selten, aber jetzt lacht sie. »Die Pille gibt es schon seit der Jugend meiner Mutter. Allerdings verträgt sie nicht jede. Und wenn man sie öfter vergisst, dann kann auch etwas passieren.« »Aber«, sage ich, »dann kann man es doch wegmachen lassen.« »Das ist keine leichte Entscheidung, Kind«, antwortet sie. Aber immer noch besser, denke ich, als neun Monate lang schwanger sein und das Neugeborene dann töten. Meine Pflegemutter merkt, warum ich frage. »Was deine Mutter getan hat, werden wir nie verstehen«, sagt sie. Das Phänomen der nicht wahrgenommenen Schwangerschaft kommt recht häufig vor, lese ich. Eine von knapp fünfhundert Schwangerschaften wird bis weit über den fünften Monat hinaus nicht bemerkt. Etliche Geburtshelfer haben schon Frauen entbunden, die nicht wussten, dass sie schwanger waren. Frauen mit mangelnder Körperwahrnehmung. Sie halten die Tritte des Embryos für Blähungen. Sie denken sich nichts, wenn die Tage ausbleiben, und manchmal gibt es Blutungen auch während der Schwangerschaft. Die Gewichtszunahme wird anders erklärt. Neben denen, die es nicht merken, gibt es Frauen, die ihre Schwangerschaft ignorieren, weiter trinken und rauchen und mit großer Unbefangenheit leugnen, falls jemand sie fragt. Sie fallen aus allen Wolken, wenn die Geburt einsetzt. Können sich das Geschehen nicht erklären, sind verwirrt und geschockt. Verleugnete Schwangerschaften, lese ich, können zum Neonatizid führen. Vor allem wenn die Persönlichkeit der Mutter Unreife und fehlende Krisenbewältigungsmechanismen aufweist. Hat meine Mutter gelebt wie eine Frau im Mittelalter, wo man die Schande der Wollust unter weiten Gewändern verbarg und im Wald niederkam? Ich schäme mich meiner dummen, gewissenlosen und feigen Mutter. Warum hat sie mich am Leben gelassen? Warum muss ich mit Abscheu und Scham leben? Einmal, mit fünfzehn oder sechzehn, bin ich oben in der Zuckerbergstraße gewesen, wo sie gewohnt hat. Man sieht die Häuser von unten, vom Neckar aus, über den Weinberg ragen, wo das Cannstatter Zuckerle angebaut wird. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Ständig warte ich auf Erlösung. Zu Hause habe ich behauptet, ich ginge mit Freundinnen in die Stadt. Aber ich bin mit der Straßenbahn in die Gegenrichtung gefahren. Ein Tunnel spuckt einen plötzlich oben aus. Ich muss raus, die Steinhaldenstraße hinunter. Hastig und mit Herzklopfen husche ich dann die Zuckerbergstraße entlang. Eine alte Frau kommt mir entgegen, vor der ich mein Gesicht verstecke. Denn womöglich erinnert sie sich an meine Mutter und ruft: »Dich kenn i doch. Du bisch die Tochter von dere mörderische Schlampe. Schämsch di net, hier zum auftauche?« Ich bleibe nicht stehen. Ohnehin weiß ich keine Hausnummer. Es sind vier langgestreckte Wohnblocks, die senkrecht zur Straße stehen. Waren auf dem Zeitungsfoto nicht Birken? Es gibt nur eine Garagenzeile, vor der Birken stehen. Dort also bin ich vermutlich geboren worden. Aus unbekannten Gründen habe ich überlebt. Auf der anderen Straßenseite liegt die Kleingartenanlage mit einem Zugangstor. Hier hat meine Mutter nachts ihre Bündel hineingetragen, diesen Weg, bis hinunter zum Hauptfriedhof. Ich kenne die genaue Stelle nicht, wo sie meine Geschwister vergraben hat. Ich würde sie nicht finden. Plötzlich habe ich auch keine Kraft mehr. Ich bin lahm wie meine Mutter. Ist es das, was jemanden zu solchen Taten bringt? Eine unüberwindliche innere Kraftlosigkeit? Die Unfähigkeit, die letzte Konsequenz in Augenschein zu nehmen? Meiner Pflegemutter fällt auf, dass ich mich abends am Esstisch kaum gerade halten kann. Sie fragt nicht. Sie haben nie gefragt. Sie rühren nicht gern an das Monstrum, das mich begleitet. Sie werfen mir nur besorgte Blicke zu. Als ob sie darauf warten, dass meine Mutter in mir ausbricht wie eine Krankheit, wie die Pest, die ganze Familien ins Grab bringt. Ich fühle mich an dem Abend, als wäre ich die Mörderin selbst, die es an den Ort des Verbrechens zurückgezogen hat. Indem ich meine Tat vom Nachmittag verheimliche, verheimliche ich das Verbrechen meiner Mutter und mache mich mit ihr gemein. In der Nacht überfällt mich Panik, wenn ich mir vorstelle, es hätte mich jemand erkennen können oder wissen wollen, wonach ich Ausschau halte, warum ich die Wohnungen mustere, ob ich sie ausspähe für einen Einbruch. Und dann hätte womöglich jemand die Polizei gerufen, und die hätte mich nach meinem Namen gefragt, den ich hätte nennen müssen. Wenn ich doch nur meinen Namen ändern könnte. Dann müsste ich nicht mehr fürchten, dass jemand in seinem Gedächtnis kramt, wenn er den Namen Tanner hört. »War da nicht mal was mit einer Kindsmörderin? Anfang der Neunziger?« Ja, wenn ich einen anderen Namen hätte, könnte meine Mutter nicht mitkommen in meine Zukunft. Solange ich minderjährig bin, kann ich allein und heimlich nichts ausrichten. Ich muss meinen Wunsch meinen Pflegeeltern anvertrauen. Mein Pflegevater eröffnet mir, dass sie miteinander besprochen haben, mir die Adoption anzubieten, sobald ich volljährig bin. Dann brauchen wir die Einwilligung meiner Mutter nicht mehr. Es gibt ja keinen Hinweis, dass sie nicht mehr am Leben ist. Im Oktober 2005 vollzieht das Amtsgericht meine Adoption. Ich bin frei und ich schreibe mich nach dem Abitur an der Uni Tübingen für ein Studium der Soziologie mit dem Nebenfach Erziehungswissenschaft ein. Aufgabe der Soziologie ist die methodisch kontrollierte Beobachtung und Analyse zwischenmenschlichen Verhaltens und Handelns. Am Institut für Soziologie der Universität Tübingen wird schwerpunktmäßig in den Bereichen Methoden der empirischen Sozialforschung und Sozialstrukturanalyse, Arbeits- und Wirtschaftssoziologie, Wissenschafts- und Techniksoziologie sowie Soziologie der Geschlechterverhältnisse gelehrt und geforscht. Prof. Schmaleisen (Grundlagen der Soziologie) rät uns, ein Lerntagebuch zu führen. Das Schreiben trage zu einer Vertiefung des Lernstoffs bei, indem man sich regelmäßig damit beschäftigt und seine eigenen Rollen und Standpunkte reflektiert. Also fange ich an zu schreiben. Das Studium überfordert mich nicht. Doch ich gehe auf brüchigem Eis. Ich fürchte Entlarvung. Manchmal fantasiere ich mitten im Seminar oder Kolloquium, gleich werde einer aufstehen und auf mich deuten: »Das ist Camilla Feh. Sie hat ihren Namen geändert, weil ihre Mutter in den achtziger Jahren vierfachen Neonatizid begangen hat. Wie fühlt man sich denn als Tochter einer Kindsmörderin?« Auch Professor Schmaleisen schaut mich manchmal so an, als werde er im nächsten Augenblick die zweite Person ansprechen, die hinter mir steht. Ich spiele mit dem Gedanken, ihm alles zu gestehen. Dann müsste ich nicht mehr fortwährend fürchten, dass meine Geschichte herauskommt. Aber meine Neigung zur Schweigsamkeit ist größer als die Versuchung. Ich weiß auch gar nicht, wie man über sich selbst redet. Ich mag die Gewalt der Gefühle nicht, die ich auslöse: Abscheu, Verachtung, Entsetzen, Mitleid. Sobald meine Mutter aus ihrem Schatten tritt und sich neben mich stellt, bin ich als Person nicht mehr da. Oder ein Monstrum. Aus meinem Lerntagebuch wird ein Tagebuch. Die Tötung von Kindern durch elterliche Hand hat es in allen Epochen der Menschheitsgeschichte gegeben, lese ich in Mutter Natur von Sarah Blaffer Hrdy. Das ist unser tierisches Erbe. Schon bei den Schimpansen wird ein Drittel der Kinder gleich nach der Geburt getötet. In China und Indien bringt man heute noch Mädchen nach der Geburt um. In China, weil dort nur ein Kind erlaubt ist und die Eltern einen Sohn brauchen, der Geld verdient und sie im Alter versorgen kann. In Indien, weil die Mitgift für Mädchen viel Geld kostet. Doch die Gesellschaft entgleist. Denn junge Männer ohne Aussicht auf Heirat und Familie schließen sich zu gewalttätigen Banden zusammen und vergewaltigen und entführen fremde Frauen. In Deutschland gibt es keinen materiellen oder sozialen Grund, Neugeborene zu töten. Es geschieht auch selten aus materieller Not, lese ich. Ungefähr dreißig Neugeborene werden dennoch jedes Jahr umgebracht, meist von ihren Müttern. In...