E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Leesch Der Donnerstagsmann
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-23612-0
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-641-23612-0
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Martha und Albert Gottwald waren ein Traumpaar. Sterne am Turniertänzerhimmel. Der langsame Walzer war ihr Tanz. Doch seit Marthas Tod fühlt sich Alberts Leben eher wie ein trauriger Finnischer Tango an. In seiner Verzweiflung bittet er Gott, an den er eigentlich gar nicht glaubt, um ein Zeichen. Dieses könnte eindeutiger nicht ausfallen. Sicher wäre es Albert gelungen, seinem Leben ein Ende zu setzen, hätte nicht seine Tochter Ina einen Komplott zu seiner Rettung geschmiedet: Sie schleust die Psychiaterin Hanne Hanken, in einen Anfänger- Tanzkurs, den ihr Vater leitet. So soll dieser unbemerkt therapiert werden. Dumm nur, dass Hanne hoffnungslos unbegabt ist, was das Tanzen betrifft.
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Der Finnische Tango
Als der Tango 1913 nach Finnland kam, wurden die Finnen von den Russen unterdrückt. Der Tanz offenbarte, worüber zu sprechen unmöglich war. Er wird meistens in Moll gespielt. Die Texte handeln stets von unglücklicher oder verloren gegangener Liebe.
Der Tag, an dem Albert Gottwald beschloss, sich ins Jenseits zu befördern, war kein besonderer. Er war der letzte in einer langen Reihe von Tagen, die nach immer demselben Schema abgelaufen waren, bevor sie in einem Meer aus Leere und Bedeutungslosigkeit versanken. In den Nächten wurde er von dunklen Träumen gequält, aus denen das Erwachen keine Erleichterung brachte.
Es war November. Die Welt vor dem Schlafzimmerfenster war matschig und grau wie überreife Pilze auf der Unterseite. Der Wind heulte und riss die letzten Blätter von den Ästen der Robinie im Garten.
»Verdammter Finnischer Tango«, stöhnte Albert und zog sich die Decke über den Kopf. Bis vor ein paar Jahren hatte er es geliebt früh aufzustehen, noch bevor die Stadt erwachte. Jetzt überlegte er, ob er nicht einfach liegen bleiben sollte. Niemandem würde auffallen, wenn er im Bett blieb. Ina kam erst nach 19 Uhr, würde also nichts merken. Marthas Duft wehte zu ihm herüber. Ihre Seite des Bettes war seit 1278 Tagen leer. Dennoch bezog er das Bettzeug jeden zweiten Samstag und sprühte Marthas Parfüm auf das Kissen.
Nein, er konnte nicht liegen bleiben. Das ging einfach nicht. Keine Krankheit, kein Fieber, nicht einmal die Flitterwochen hatten das geschafft. Sobald es hell wurde, musste er aufstehen. Tagsüber liegen zu bleiben fühlte sich für Albert so falsch an, wie … Autofahren in England.
Ächzend hievte er sich hoch und ging den Tag theoretisch durch. Freitag also. Nach der Morgentoilette würde er sich gewissenhaft kleiden. Er war immer gut angezogen. Es gab keinen Grund, damit aufzuhören. Anschließend würde er runtergehen in die Küche. Punkt 7 Uhr würde der Kaffee durch die Maschine blubbern und tröstlichen Duft im Haus verbreiten. Er würde Futter ins Vogelhäuschen streuen und nicht vergessen Wasser in der Tränke zu wechseln. Genau wie Martha es immer gemacht hatte.
Zum Frühstück würde er sich vor das Fenster zum Garten setzen und den Vögeln zusehen. Er würde keinen Appetit haben. In letzter Zeit schmeckte alles nach Seife, und beim Schlucken musste er neuerdings immer an die Gänse denken, die seine Mutter früher um diese Jahreszeit gestopft hatte, damit sie zu Weihnachten fett waren. Dennoch würde er sich zwingen zu essen, denn das hatte er Ina versprochen, und er hielt grundsätzlich, was er versprach.
Das Rotkehlchen würde als Erstes da sein. Albert mochte den kleinen Vogel mit den großen schwarzen Augen. Er weckte ihn bei Sonnenaufgang mit perlend langstrophigem Gesang. Überdies war er außerordentlich zutraulich. Sobald Albert in den Garten ging, hüpfte er unerschrocken um seine Füße, mitunter so nah, dass er befürchten musste draufzutreten. An einem sonnigen Morgen im April hatte Albert seine Jacke an die Schuppentür gehängt. Als er sie gegen Mittag abnehmen wollte, sah er sich vor vollendeten Tatsachen: Das Rotkehlchen hatte in seiner Tasche ein Nest gebaut. Er ließ die Jacke dort hängen, bis die Jungen flügge wurden.
Mit einigem Glück würde heute vielleicht das dicke Eichhörnchen vorbeikommen. Es sah komisch aus, wenn es sich ins Vogelhäuschen quetschte. Manchmal brachte es Albert zum Lachen.
Anschließend der tägliche Spaziergang. Fünfhundertsechsundzwanzig Schritte nach rechts, den Finkensteig runter, zweihundertvierundvierzig den Meisenweg entlang, achthundertsiebzehn den Waldhüterpfad zurück, der nur noch dem Namen nach etwas mit einem Wald zu tun hatte. Früher waren die Straßen hier rechts und links von Robinien gesäumt gewesen, von knorrigen Baumpersönlichkeiten mit verblüffend zartweißen Blütentrauben im Juni, die einen betörenden Duft verströmten. Süß, dabei nicht schwer. Später, wenn die Blüten herabschneiten, spazierte man auf einem weißen duftenden Teppich, bis der nächste Regen kam und alles verdarb.
Martha war überzeugt, dass der Duft der Robinie aphrodisierende Wirkung hat. Und tatsächlich wurden neun Monate nach der Robinienblüte mehr Kinder geboren als zu anderen Zeiten im Jahr. Auch Ina war so ein Robinienblütenkind. Albert jedenfalls hatte nie etwas Besseres gerochen als den Duft blühender Robinien. Von Martha einmal abgesehen, versteht sich.
Die alten Bäume waren verschwunden. Die alten Nachbarn auch. Alles hatte sich verändert, doch an guten Tagen konnte er die Straße sehen wie sie früher war, mit den Augen von vor zwanzig Jahren: die patente Frau Kaiser und ihren Gatten von schräg gegenüber. Täglich, Punkt 10, nach dem Waldspaziergang mit Wotan, ihrem Jagdhund, schlugen sie im Duett ihre Wanderschuhe aneinander, damit sich die Erde aus den Profilen löste.
Die Hofmanns aus 104 a waren Gott sei Dank vor zwei Jahren nach Mallorca ausgewandert. Man konnte nur hoffen, dass das Klima sie friedfertiger gemacht hatte.
Kemps, die beiden Doktoren mit ihren vier fabelhaften Kindern (zwei davon Robinienblütenkinder) aus 104 b waren weggezogen, weil ihnen, nachdem das fünfte unterwegs war, das Haus zu klein wurde. Schade. Albert vermisste das fröhliche Kinderlachen.
Doris, die alleinstehende Architektin, zwei Häuser weiter …Was wohl aus der geworden sein mochte? Eines Tages, nach Marthas Tod, war sie sang- und klanglos verschwunden.
Was dem alten Van de Vries von Gegenüber passiert war, wusste Albert ganz genau. Seine undankbare Brut hatte ihn in ein Heim gesteckt, damit sie das Haus, welches in der Niedrigzinsphase immens an Wert zugelegt hatte, verkaufen konnten. De Vries hatte immer den schönsten Garten von allen gehabt. Einen Garten wie eine Sinfonie. Martha und Albert waren oft am Zaun stehen geblieben und hatten die sorgfältig komponierte Pracht bewundert. Wenn beispielsweise die Tulpen welkten und sich deren Blätter unansehnlich gelbbraun verfärbten, wurden sie im de Vriesschen Garten bereits von einem strahlend blauen Vergissmeinnichtteppich überdeckt. Der alte Mann war ein Meister der Übergänge gewesen, nur sein letzter war ihm komplett missglückt. Dem Garten war es nicht besser ergangen. Dort, wo einst Tulpen und Vergissmeinnicht um die Wette blühten, parkten nun zwei SUV auf grauem Beton. Die neuen Nachbarn hatten sich nicht vorgestellt. Albert bekam sie selten zu Gesicht. Deren Sohn, ein Wesen mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze, sah er ab und zu. Der Bengel grüßte nie.
Die Dame vom Ende der Straße, die ihren blinden weißen Pudel dreimal täglich in einer Sportkarre spazieren geschoben hatte und an deren Namen sich Albert nicht erinnern konnte, lebte jedenfalls nicht mehr. Letztes Jahr, an Heiligabend, hatte der schwarze Kombi vom Beerdigungsschröder vor ihrem Haus gestanden. Was aus dem Pudel geworden war, wusste Albert nicht.
So viele Schicksale wie Namen. Kein Leben wie das andere, und doch liefen alle auf dasselbe hinaus.
Früher hatte man wenigstens auf die eine oder andere Art am Leben des anderen teilgehabt, hatte sich gegrüßt, geholfen, gemeinsam Zäune repariert oder Dachrinnen gereinigt. Man hatte Nachrichten, Romane und Zeitungen getauscht, sich ab und an ein Tässchen Zucker oder ein Ei geborgt, Geburtstage gefeiert, Hochzeiten und Beerdigungen. Man hatte gestritten, geneidet, getröstet, geklatscht, sich für den anderen gefreut oder war einfach mal so vorbeigekommen auf eine belanglose Tasse Kaffee. Heute war jeder für sich.
Eigentlich ganz gut, dachte Albert, der noch immer auf der Bettkante hockte. Was hatte er mit den Neuen schon abzumachen? Den lieben langen Tag waren sie auf Achse, wuselten umher wie geschäftige Ameisen, deren Bahnen einer nicht nachvollziehbaren Choreografie folgten, ohne erkennbaren Rhythmus, dabei stets in Eile. Sie waren Fremde und würden es für immer bleiben.
Früher hatten die Kinder auf der Straße Himmel und Hölle gespielt oder Federball, heute konnte man von Glück sagen, wenn man heil auf die andere Seite kam. Jedes einzelne Kind wurde von seinen Eltern zur Schule, zum Kindergarten, zum Sportplatz geshuttelt und anschließend wieder abgeholt. Kolonnen von Autos waren das Resultat.
Früher war Ina mit Horden Gleichaltriger den ganzen Tag draußen unterwegs gewesen. Hatte jemand Hunger, fand sich immer ein gnädiger Nachbar, der eine Stulle aus dem Fenster reichte. Kein Mensch hatte sich um Pädophile Sorgen gemacht. Das Wort war vermutlich nicht mal erfunden.
Früher hatte Albert jeden Morgen seine Zeitung vom Kiosk geholt und frische Brötchen vom Bäcker. Der Bäcker hatte dichtgemacht. Dort, wo der Zeitungskiosk gestanden hatte, war ein blaues Raumschiff gelandet, eine Tankstelle, deren grelles Licht in das Schlafzimmer der Gottwalds flutete. Früher schien da nur der Mond hinein.
Albert konnte sich noch gut erinnern, wie er Martha beim Aufhängen der schweren Übergardinen behilflich war, die es auch nicht schaffen sollten, das Licht fernzuhalten.
»Die Welt wird immer hässlicher«, hatte er geklagt. Martha aber hatte nur mit den Achseln gezuckt und gesagt: »Sie verändert sich, Schatz, und wir können nichts dagegen tun.«
Nie hatte sie sich über irgendetwas beschwert. Nicht ein einziges Mal. Das war gar nicht ihre Art.
Eine Weile hatte Albert seinen guten Willen gezeigt und wie alle anderen in der Tankstelle Zeitungen und Brötchen gekauft, obwohl er das ausgesprochen kulturlos fand. Seit es Martha nicht mehr gab, kaufte er dort, mal abgesehen von Benzin, nichts mehr. Was auch nicht nötig war, denn...