Leeb | Don Quijotes Schwester | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 220 Seiten

Leeb Don Quijotes Schwester

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-86913-603-5
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 220 Seiten

ISBN: 978-3-86913-603-5
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine fantasievolle, von Gerechtigkeitssinn und Hilfsbereitschaft beseelte Studentin, ein weiblicher Don Quijote - das ist AnnaRosa. Sie kämpft jedoch nicht gegen Windmühlen, sondern dafür. Mit oft skurrilen Aktionen tritt sie wie ihr großer literarischer Bruder für Gerechtigkeit ein und gegen Missstände an, die bisweilen nur von ihr selbst wahrgenommen werden: Sie befreit Schweine, heiratet den Bruder eines libanesischen Attentäters, veranstaltet eine Demonstration mit Kindergartenkindern und versucht sich mit Mailing-Aktionen und Blogs in die internationale Politik einzumischen, unterstützt von ihrer Mitbewohnerin Kerstin, ihrem Sancho Pansa. So kennt AnnaRosas heroischer Idealismus keine Grenzen, Realität und Vision verschwimmen, sie taucht oder hebt ab, in Gefilde, in die ihr andere oft nicht folgen können. Und bewegt sich dabei manchmal am Abgrund ihrer Kräfte, strauchelt, stürzt und richtet sich immer wieder auf. Sie, die die Welt retten will, scheint selbst nicht zu retten zu sein. Doch im Gegensatz zu ihrem legendären Vorbild erfährt sie eine leidenschaftliche Liebe ...

Ein Roman um eine mutige junge Frau und ihren Traum, die Welt zu retten und gleichzeitig die Geschichte einer Freundschaft die sich immer wieder in verrückten Visionen und Aktionen bewährt.

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Autoren/Hrsg.


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  1 Manchmal endet eine Spanne Zeit mit einem Geräusch wie dem leisen Platzen einer Seifenblase oder, etwas lauter, dem Schnalzen der flachen Zunge am Gaumen. Und manchmal sind in dieser Zeit Dinge geschehen, die lange erinnert werden, die Eindrücke, manchmal tiefe Narben hinterlassen. Zwanzig Jahre waren vergangen, und Annarosa hatte nichts vergessen. Auch ich war erwachsen geworden, hatte mein Studium abgeschlossen und arbeitete in der psychiatrischen Klinik der Universität. Ich war jedoch oft in der Stadt, in der Annarosa noch studierte, nie ganz zufällig. Auch wenn ich immer so tat, als ob. Ihr Studium würde noch dauern, sie war vier Jahre jünger als ich, und sie wollte den Dingen auf den Grund gehen. Sie muss zu der Zeit schon diese ganzen Bücher gelesen haben, die dann viel, viel später zu mir, auf mich (wenn man die Belastung in Betracht zieht) gekommen sind. Dicke Wälzer über Zivilisationsgeschichte, Kulturgeschichte, Wirtschaftskritik, Das Prinzip Verantwortung und im Gefolge diese utopischen Weltrettungsmodelle. Was studiert man, wenn man die Welt retten will? Annarosa hatte sich nach einigen Umwegen, die sie selbst sicher nicht so bezeichnet hätte, für Ethnologie entschieden, im Hauptfach. Sie würde die Menschen, nein, die Menschheit kennenlernen, meinte sie, wenn sie möglichst viele Völker verstand und erforschte. Ihr Professor war Universalienforscher und sah genau darin ein friedenstiftendes Potenzial. Annarosa war natürlich sofort überzeugt. Als Nebenfach (Luxus, wie sie sagte) hatte sie Archäologie gewählt. Auch da suchte sie nach Universalien, wollte etwas finden, das allen gemeinsam war. Nicht nur, was die Menschen der Gegenwart an verschiedenen Orten machten und wie sie es machten, wollte sie wissen, sondern dazu, im Vergleich, wie die Menschen früher gelebt hatten. Vielleicht, sagte sie, gebe es doch eine Verbindung zwischen uns allen, und wir hätten mehr Gemeinsames als Trennendes. Ich nickte nur. Warum ich Psychologin geworden war, verstand jeder, der unsere Familie kannte. »Problematisch« ist wohlwollend formuliert. Schon vonseiten der mütterlichen Familie, den Nielsens, hatten wir ein gewaltiges Maß, mindestens eine Tonne, an Belastung und krankhaften Störungen vererbt bekommen. Ich konnte also gar nicht anders, als nach Erklärung und Heilung zu suchen. Das entwickelt sich manchmal wie bei einer Gewitterfront, die Probleme kumulieren wie Wolken, türmen sich auf, bis es kracht. Ich hätte der erlösende Platzregen sein sollen, der alles reinigt. Aber es fehlte der Temperaturunterschied. Wir waren uns zu ähnlich, und so war ich selbst oft nur Blitz und Donner, war Begleitmusik ohne Erlösung. Ich heiße Melissa. Mit dem Namen hatte ich noch Glück, verglichen mit Annarosa. Auch wenn er nur durch das Unglück einer anderen auf mich kam. Die ältere Schwester der Mutter, nein, sie war nicht meine Tante, sie hatte nicht so lange warten können, hatte sich Jahre vor meiner Geburt das Leben genommen. Siebzehn war sie damals gewesen. Dass sie dadurch umgehend zur Familienheiligen werden würde, hatte sie sicher nicht geahnt oder gar beabsichtigt. Jeder fühlte sich ihr gegenüber schuldig. Ihre jugendlichen Depressionen, heute würde man sie wahrscheinlich als Bipolare Störungen diagnostizieren, nahm niemand ernst, und dann hat sie es allen gezeigt. Und ausgerechnet meine Mutter, die zu der Zeit ja noch niemandes Mutter war und einfach Linda hieß und die als Jüngste wirklich nichts hätte tun können, erkaufte sich später ihre Absolution, ihren Ablass, indem sie ihrer Erstgeborenen, also mir, den Namen dieser Schwester gab. Melissa, nicht übel – solange man die Geschichte dahinter nicht kennt. Nur unsere Mutter, nach Aussagen anderer selbst von Anfang an alles andere als stabil, war nach der ganzen Geschichte ängstlich und versteckte sich, als wir dann auf die Welt kamen, hinter einer Fassade aus Stärke und Strenge und beobachtete genau, ob auch alles richtig lief, wir alle »normal«, gesund und glücklich waren. Der Vater übernahm seinen Teil und war also doppelt besorgt, um seine Frau, deren Gefährdung ihm bekannt war, und um uns, seine Töchter. Ich konnte mich durch die Wahl meines Berufes befreien, war zur Fachfrau für die seelische Gesundheit meiner Familie aufgestiegen. Ich würde mich ja jetzt auskennen, dachten sie und strichen mich aus ihrem Sorgenkinder-Fürbittenverzeichnis. Spätestens ab da blieb alles an Annarosa hängen. Kein Wunder, dass sie schlechte Karten hatte. Alle Ängste, alle Fürsorge konzentrierten sich auf sie. Aber sie hatte mich. Ich habe meine kleine Schwester schon als Kind nur dann beschützt, wenn sie das wollte, und später, als sie meinen Schutz nötig hatte, aber nicht mehr darum bitten konnte (warum auch immer), habe ich gelernt, es sie nicht spüren zu lassen. Jetzt ist das vorbei. Ich kann sie nicht mehr beschützen. Mit ihrem Namen hatte Annarosa mehr Pech. Bei ihr stritten die beiden Großmütter derart eifersüchtig um die Vererbung ihres Namens, dass unsere Eltern sich für einen Kompromiss entschieden und aus Anna und Rosalind kurzerhand Annarosa komponierten. Was wir Mädchen beide sehr schrecklich fanden. Aber Annalind oder Rosanna wäre noch furchtbarer gewesen, in unseren Augen. Annarosa hat dann an sich gearbeitet. An ihrem Mut und an ihrem Namen. Wenn man Annarosa hieß, gab es nur eine Rettung. Anna alleine war schön, klang nach Blau, war aber zu häufig und würde zu Verwechslungen führen, fanden wir. Rosa kam überhaupt nicht in Frage. Würde nach kleine Mädchen, zickig und Weichspüler klingen, sagte meine Schwester. Keine Frau mit einem Funken Verstand würde sich freiwillig Rosa nennen. Ein schwuler Mann, ja, um ein Zeichen zu setzen, so wie eine lesbische Frau sich vielleicht Lila nennt. Ihr blieb nur diese eine Möglichkeit. Das große R in der Mitte. AnnaRosa. Ich fand das gut. So konnte sie die von den Eltern erzwungene Verbindung der beiden Großmütter zwar nicht aufheben, aber am Schnittpunkt sichtbar machen. Alle stolperten darüber, und ihr machte es Spaß. Sonst hatte sie nicht viel zu lachen, es war eher so, dass die anderen über sie lachten, über ihre Sicht der Welt und ihre Art, die Probleme des Daseins, die diese anderen gar nicht oder anders sahen, zu bekämpfen. Deshalb war es gut, dass ich da war. Vor Jahren, als unsere Eltern eines Tages nicht mehr über sie lachen konnten, sie AnnaRosas Sicht der Welt nicht mehr lustig fanden, steckten sie das Mädchen, sie war damals knapp fünfzehn, in eine Nervenheilanstalt. Was aber nichts änderte. Oder vielleicht doch. Irgendwie war AnnaRosa danach erst richtig wunderlich geworden. Vielleicht hatte das aber auch mit dem darauffolgenden Umzug zu tun. Wenn man ihren Namen hörte, kam man nicht auf die Idee, dass AnnaRosa noch jung war. Fünfundzwanzig Jahre. Auch wenn sie sprach, vor allem mit Fremden, legte sich ihrem Gegenüber das Wort gesetzt auf die Zunge. Ihre Ansichten, ihre Vorlieben, ihr Lebensstil ließen sie wie ein Relikt aus einem anderen Jahrhundert erscheinen, ein Fossil. Und ich selbst kam mir manchmal vor wie eine sehr viel jüngere Schwester. Wer kannte schon eine Frau, die mit fünfundzwanzig noch nie in einem Club gewesen war. Noch nie in einem Fitnesscenter. Die keine laute Musik mochte und keine Schnelligkeit, die abschätzig, ja ablehnend auf die vielen elektronischen Geräte schaute, die unser Leben erleichtern und bunt machen (sie selbst wählte sehr genau, was sie für ihre Zwecke benützte). Die genau drei Eskapaden, wie sie es nannte, mit Männern hinter sich hatte, glücklicherweise, wie sie betonte. Eine Frau, deren Lebensmotto lautete: brauch ich nicht, mach ich alleine, kann ich selbst am besten. Was sichtlich nicht stimmte. Man musste nur einen Blick auf ihre selbst gestrickten Pullover, ihre gewebten und genähten Röcke und vor allem auf ihre in Wochenendworkshops hergestellten Schuhe werfen. Sie sah aus wie die Bewohnerin eines Flüchtlingscamps oder wie einem Flyer entsprungen, der zur Rettung indigener Völker aufruft. Alles Natur, Wolle, Baumwolle, echt Leder, sehr schöne Farben – aber nichts passte ihr, alles schlotterte, flatterte, wirkte grob, vor allem die Schuhe. Wir haben uns in der Familie oft über ihr Aussehen lustig gemacht, ja, sie manchmal direkt ausgelacht. Andere dachten wohl einfach: Schade um diese schöne junge Frau. Denn tatsächlich war sie eine hübsche junge Frau. Was ich erst jetzt überdeutlich sehe. Sie hat mir einen Karton mit Fotografien hinterlassen. Jemand (dieser B. vielleicht?) muss eine ganze Serie Aufnahmen von ihr gemacht haben. Nahaufnahmen in Schwarz-Weiß von ihrem Gesicht, der Augen­partie. Wie eine Landschaft mit glasklarem See, tiefes Schwarz in der Mitte, der Schwung des Augenlids die Wiederholung der gewölbten Braue. Auf anderen Bildern meine Schwester in irgendeiner Stadt als elegant anmutende Frau, in einem (für ihre Verhältnisse) engen Rock mit feminin geschnittener Bluse. Und noch ein Bild, meine Schwester im Bikini! Mit nassen, nach hinten fließenden Haaren. Sie lächelt glücklich (verliebt?) in die Kamera. Man sieht ihr Grübchen auf der linken Wange. Sie hatte nur eines, und das nicht von Geburt an, sondern von mir. Das hatte eine eigene Geschichte. Ich drehte das Bild um. Für meine Amorosa, aha, dachte ich, also doch. Für AnnaRosa war jede Geschichte ein Geschenk (für das Drehbuch des Lebens, wie sie einmal lachend sagte), also das Beste, was einem Menschen passieren konnte, selbst wenn sie schlecht ausging. Für mich jedenfalls war diese Geschichte mit dem Grübchen damals nur schrecklich. Sie war elf Jahre alt, ich gerade...


Root Leeb, 1955 in Würzburg geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Sozialpädagogik. Sie arbeitete zwei Jahre als Deutschlehrerin für Ausländer, danach sechs Jahre als Straßenbahnfahrerin in München. Heute lebt sie als Autorin, Malerin und Zeichnerin in Rheinland-Pfalz. Bei ars vivendi erschien 2001 Mittwoch Frauensauna, 2003 folgte Tramfrau. Aufzeichnungen und Abenteuer der Straßenbahnfahrerin Roberta Laub, 2012 ihr Roman Hero. Impressionen einer Familie und 2013 Die dicke Dame und andere kurze Geschichten.



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