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E-Book

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

Lee High Dive

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-16352-5
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

ISBN: 978-3-641-16352-5
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Brighton, Südengland 1984: Moose, ein ehemaliger Spitzensportler, der seine besten Zeiten längst hinter sich hat und nun als Hotelmanager im hiesigen Grand Hotel arbeitet, kann sein Glück kaum fassen: Das Grand wurde ausgewählt, Regierungschefin Margaret Thatcher sowie ihr gesamtes Kabinett für ein paar Tage zu beherbergen. Alles soll reibungslos klappen bei Ankunft der eisernen Lady in 24 Tagen. Mooses Tochter Freya, die gerade die Pubertät hinter sich hat und an der Rezeption sitzt, wird bis dahin ihre Manieren entdeckt, der Portier seinen Bourbonkonsum im Griff, und der Koch ein paar französische Gerichte auf der Pfanne haben, die gerade so en vogue sind, hofft Moose. Was er nicht ahnt: Soeben hat ein Mann unter dem Namen Roy Walsh in Zimmer 629 eingecheckt und dort eine Bombe platziert, die genau in 24 Tagen detonieren soll ... Jonathan Lee verwebt Fakten und Fiktion, Komödie und Tragödie zu einem eindringlichen Roman um Gewalt, Gewissen und Loyalität - von großer Aktualität.

Jonathan Lee, geboren 1981 in Surrey, studierte englische Literatur, lebte eine Zeitlang in Südamerika und arbeitete in einer Anwaltskanzlei in London City. 2007 wurde er nach Tokio versetzt. Zurück in England ließ er sich beurlauben und schrieb 'Wer ist Mr Satoshi?', der Leser und Presse gleichermaßen begeisterte. Inzwischen lebt Jonathan Lee in New York City. Seine Texte und Geschichten erscheinen unter anderem in A Public Space, Granta, Tin House & Narrative, im Guernica Magazine und The Paris Review Daily. Der Guardian nennt Jonathan Lee 'eine bedeutende neue Stimme der englischen Literatur'.
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Als Dan achtzehn war, holte ihn ein Mann, den er nicht kannte, zu einem Ausflug über die Grenze ab. Es war 1978, in der letzten Juniwoche, sechs Tage, nachdem die britische Armee an der Ballysillan Road drei Katholiken erschossen hatte. Im Auto roch es nach Essig von Fish and Chips, und der Mann mit der narbigen Glatze hatte zwei Witze auf Lager, einen über Brits und einen über Priester. Er schien Dan irgendwo in die Nähe von Clones zu bringen. Seine mächtigen, eckigen Finger trommelten aufs Lenkrad, und in seinen Augen blitzte manchmal Überraschung auf, wenn die Straße sich ihren Weg suchte. Er hatte ein enorm hässliches Blumenkohlohr, das er beim Fahren öfter berührte. Die dicht stehenden grauen Häuser des protestantischen Ulster machten Platz für Licht und Farbe. Hier konnte man den Wind spüren und das Gras riechen. Aus Fenstern von Bussen voller Derry-Fans flatterten rot-weiße Schals. Grün-weiß-goldene Fahnen hingen in Bäumen.

Der glatzköpfige Mann ließ einen prachtvollen Rülpser los, als er auf einen Feldweg abbog. Der Feldweg führte zu einer von Ulmen umgebenen Wiese. Dan sah Gänseblümchen, Heuballen. Das Glitzern einer Colaflasche im Unkraut. Jenseits der Flasche, in einem Schattenstreifen, parkte ein Land Rover.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte der Glatzkopf. »So ein Auto hält keiner an. Zu Weihnachten gönnt er sich vielleicht sogar einen Saracen.«

Dan schaffte es zu lächeln. »Dann ist das …«

»Was denn?«

»Das ist Mr McCartland, oder?«

»Oh«, sagte der Glatzkopf, »würd ich doch mal annehmen.« Den Gurt noch immer umgelegt, kramte er jetzt in seiner Jeanstasche, wobei sich sein bulliger Körper wand, als wäre er auf einem Folterstuhl gefangen. Doch alles, was seine Hand zutage förderte, war ein platt gedrücktes Päckchen Kaugummi. Er sah Dan an und lachte. »Hätte dir eine Dose Bier spendieren sollen, was? Hilft immer gegen Hose-voll-Scheißeritis.«

An diesem Vormittag herrschte reinstes Bilderbuchwetter. Große gelbe Sonne. Gleichmäßig blauer Himmel. Eine einzige weiße Wolke, wie von einem Kind gemalt. Es sah nach einem Tag aus, an dem nichts Ernsthaftes passieren konnte. Ein Tag, um acht Pints zu trinken und sich einen Sonnenbrand zu holen. Ein irisches Jahr hatte nicht viele solcher Tage, deshalb wollte jeder in Erinnerung bleiben. Der Glatzkopf und er traten mit ihren Stiefeln scharfkantiges Gras nieder, als sie auf den Land Rover zugingen. In dieser Gegend standen verstreute Cottages, einzelne Häuser mit schiefen Zaunpfählen, offenen, niedrigen Toren, in müden Angeln hängenden Fensterläden. Häuser, die die Idee geschützter Privatsphäre vermittelten, aber der Schutz war nur symbolisch, und auch er fühlte sich ungeschützt, offen. Furchtbar schlecht vorbereitet. Niemand hatte ihm angekündigt, dass er abgeholt werden würde. In seinem Kreuz sammelte sich bereits Schweiß. Seine Lederjacke war kühl, aber schwer. Er hatte so viele Geschichten über diese Initiationen gehört: Was man durchstehen musste, bevor sie einen richtig aufnahmen. Aber er wusste auch, dass Lügengeschichten zum Belfaster Leben gehörten, dass das Wahre oft mit Erfundenem angereichert wurde.

Ein dünner Typ stieg aus dem Land Rover. Er trug eine Brille und ein adrettes Hemd, sandfarbene Hosen. War das wirklich Dawson McCartland? Er sah aus wie ein Buchhalter. Er zog zwei große Hunde an einer langen Doppelleine aus dem Rover. Der eine war golden, der andere braun. »Guten Morgen«, sagte er in näselndem, gleichförmigem Ton und nickte, wie um zu zeigen, dass er es ernst meinte.

In Erwartung eines Händedrucks ging Dan auf ihn zu. Stattdessen bekam er die Hundeleine. »Ich bin Dan.«

»Ah«, sagte Dawson und nahm die Brille ab, »da bin ich ja froh.« Seine formlosen Augenbrauen waren zusammengewachsen, ein Sims, unter dem er hervorblickte. In den Augen ein flimmerndes Funkeln. Die Mundwinkel nach oben gezogen. Mit einem Taschentuch putzte er seine Brille. Die Hunde bellten und zerrten an der Leine. Er sah aus, als bemühte er sich, ein rätselhaftes Amüsement über die Welt im Zaum zu halten, und blickte jetzt seufzend auf seine Hunde hinab. »Sind schon ganz verrückt, die beiden. Ich liebe sie mehr als meine Frau, diese Tiere. Ist das falsch? Die Tiere mehr zu lieben als sie?«

»Hundeliebhaber«, sagte Dan.

»Gibt’s noch mehr davon?«

»Mehr?«

»In Irland, Leute, die ihre Hunde lieben. Klang, als meinten Sie’s als Kategorie.«

Dan wartete kurz. »Ist nur so ein Ausdruck«, sagte er.

»Insgesamt halte ich uns eher für Katzentypen, Dan. Unabhängig. Die Loyalisten sind die Hunde. Haben Sie Haustiere?«

»Ich?«

»Du.«

»Nein.«

»Kein Kaninchen oder was?«

»Nein.«

»Chinchilla vielleicht? Wellensittich? Wird schwer, dich als Volunteer aufzunehmen, ganz ohne irgendwas. Freiheitskämpfer brauchen ein Maskottchen.«

Lange Pause.

»Ich ziehe dich nur auf, Dan. Du bist hier unter Freunden. Dieses Aufnahmegespräch wird sehr informell verlaufen.«

Der Glatzkopf gähnte zufrieden, wobei sein Blick verrutschte und in die Bäume ging, und die nervösen Krämpfe in Dans Magen ließen etwas nach. »Ist kein großer Redner, der Junge, Dawson.«

»Was Sie nicht sagen«, sagte Dawson. »Dann vielleicht eher ein Macher?« Er zog ein Päckchen Newport aus der Tasche. »Auch eine, Dan? Ich bin sehr fürs Schweigen.«

»Nein, danke.«

»Sie?«

Der Glatzkopf kaute Kaugummi. »Hab doch damit aufgehört.«

»Zu leben?«

»Zu rauchen.«

Dawson zündete sich eine an und tat einen Zug. »Ein und dasselbe, würde ich sagen.« Er stand da und rauchte, knisternd von diesem eigentümlichen Charisma, jener Art Selbstsicherheit, die vorzutäuschen Dan erst vor Kurzem gelernt hatte. Jede Bewegung mit der Zigarette war elegant, bewandert, wohlüberlegt und effizient, wie dafür bestimmt, Gerüchte zu entkräften, er sei womöglich ein grausamer Unmensch. Mit allem Feingefühl klopfte Dawson ein wenig Asche ab, während Dan sich in den Wind zurücklehnte, und ließ dann Rauch durch ein Lächeln entweichen. »Also«, sagte er zu dem Glatzkopf. »Zur Sache. Erzählen Sie mir von unserem jungen Freund Dan. Was hat er zu bieten, außer seinem hübschen Gesicht und seiner Größe? Wer hat ihn empfohlen?«

»Mad Dog«, sagte der Glatzkopf.

»Aber welcher Mad Dog?«

Jetzt kicherte der Glatzkopf. Paddy war still, zierlich, immer darauf aus, Dinge zu verstehen, ein Mann mit einem sorgfältig getrimmten Schnurrbart und kleinen blauen Augen, die die Gabe hatten, ruhig und stet zu bleiben. Er war zehn Jahre älter als Dan, und wenn er wirklich Mad Dog genannt wurde, musste es ein Witz sein, dachte Dan. Wie wenn man einen besonders kleinen Mann Big Tony nannte. Oder einen Weiberhelden Gay Sam.

Dawson sagte: »Du musst entschuldigen, Dan. Die besten Spitznamen werden zu oft verwendet. Wie in jeder Armee. Man vergisst die Entstehungsgeschichte, und dann ist da dieser Mangel an Fantasie. Ein Mangel, an dem die ganze Welt leidet. Woher kennst du Paddy Magee?«

»Vom Einsammeln der Kugeln«, erklärte Dan.

»Ach?«

»Ja.«

Er hatte Cousins, die ganz in der Nähe von Ballymurphy wohnten. Als die RUC dort auf Republikaner schoss, kamen Nachrichtenteams aus aller Welt zum Zuschauen. Italiener, die im Europa Hotel wohnten, zahlten fünf US-Dollar für ein Plastikgeschoss. Sie wollten einem zuerst Lire geben, aber dann lachte man und sagte, so eine große Tasche habe man nicht; sie mochten dieses Geplänkel. Die Amerikaner zahlten über zehn. Wenn die Geschosse noch warm waren, konnte man Namen einritzen, was den Japanern gefiel – Souvenirs von einem gefährlichen Trip, dem aufregenden Abenteuer, Gewalt aus nächster Nähe mitzuerleben. Ein personalisiertes Geschoss, auf Bestellung für einen Asiaten besorgt und wunschgemäß graviert, brachte bis zu fünfzehn Dollar. Andererseits konnte der Auftraggeber leicht verschwinden, und dann blieb man auf unverkäuflicher Ware sitzen. Dans Freund Cal hatte seine halbe Jugend damit verbracht, nach einem zweiten Haruto Ausschau zu halten. Von Ballymurphy aus sah man den Black Mountain, tausend Schattierungen von Grün, die durch den Regen dunkel wirkten.

»Kein schlechtes Geschäft, würde ich meinen, Dan.«

»War ganz okay. Bin aber kaum noch dabei.«

»Nein?«

»Ich konzentriere mich jetzt auf Gelegenheitsjobs, Elektrik.«

»Das habe ich gehört. Du und ein anderer Bursche, richtig? Von der Geschosssammelei?«

»Ja.«

»Jemand, den ich kenne?«

»Cal.«

Dawson legte den Kopf schief. »Hat er auch einen Nachnamen, dieser Cal, oder hält er’s wie Cher, weil sie eure Eier zum Vibrieren bringt?«

Dan lachte. »Von Cher hat er echt nichts, Mr McCartland.«

»Dawson.«

»Er heißt Cal Doherty.«

Dawson betrachtete den Himmel. »Klingelt nichts«, sagte er. »Ich bin unkeuschen Bildern von singenden Engeln erlegen, das ist es.«

»Er leidet an –«

»Oh, ich kenne Cal. Netter Bursche, alles in allem. Gesicht wie eine Ladung Hämorrhoiden, aber trotzdem nett, oder? Ich bin hübschen Burschen gegenüber äußerst misstrauisch, Dan, ich sag’s dir ehrlich. Ein hübscher Bursche oder ein hübsches Mädchen hat immer was, worum er oder sie fürchtet, verstehst du? Meine Frau ist prima – du wärst froh, sie um dich zu haben, Dan –, aber sie hat nur ein Auge, das ist der Punkt.« Er ging in die Hocke, um seine Zigarette am Boden auszudrücken. Er packte die Kippe...


Lee, Jonathan
Jonathan Lee, geboren 1981 in Surrey, studierte englische Literatur, lebte eine Zeitlang in Südamerika und arbeitete in einer Anwaltskanzlei in London City. 2007 wurde er nach Tokio versetzt. Zurück in England ließ er sich beurlauben und schrieb »Wer ist Mr Satoshi?«, der Leser und Presse gleichermaßen begeisterte. Inzwischen lebt Jonathan Lee in New York City. Seine Texte und Geschichten erscheinen unter anderem in A Public Space, Granta, Tin House & Narrative, im Guernica Magazine und The Paris Review Daily. Der Guardian nennt Jonathan Lee »eine bedeutende neue Stimme der englischen Literatur«.

Holfelder-von der Tann, Cornelia
Cornelia Holfelder-von der Tann, geb. 1950, Studium der Germanistik, Romanistik und Anglistik, wurde mit diversen Stipendien ausgezeichnet und ist die Übersetzerin von u. a. William Gibson, Maria Semple, Kathryn Stockett und Tad Williams.



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