E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Lee Das Herz von Auschwitz
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-33194-8
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine wahre Geschichte von Liebe und Überleben
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-641-33194-8
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als Darcy Lee in einem alten Kleiderschrank auf eine mysteriöse Kiste stößt und darin Bilder und Briefe ihrer Großeltern, beide Überlebende des Holocaust, findet, beschließt sie, dass die Geschichte von Genie und Feliks nicht in Vergessenheit geraten darf.
Also beschreibt sie Genies Angst, als diese ihre Heimat Krakau verlassen muss und im Deportationszug in eine ungewisse Zukunft rollt, und berichtet vom Schrecken Auschwitz-Birkenaus.
Aber auch davon, wie man selbst an den dunkelsten Orten Licht finden kann, erzählt Darcy: Feliks, der nach Dachau deportiert wurde, schnitzt Genie als Symbol seiner unerschütterlichen Liebe ein Herz aus dem Leder seines Schuhs, welches Genie auf verschlungenen Wegen erreicht. Für beide steht fest: Sie müssen für den anderen am Leben bleiben – Tag für Tag.
Das berührende Schicksal einer großen Liebe in den dunklen Zeiten des Nationalsozialismus.
80 Jahre nach Kriegsende erfahren Antisemitismus, Rassismus und Populismus alarmierenden Zuwachs. Die bewegende Geschichte von Genie und Feliks erinnert uns eindrücklich: Nie wieder ist jetzt!
Weitere Infos & Material
Keine Angst vor dem Drachen
1938
»Nein, ich kann nicht! Ich muss üben. Du verstehst das einfach nicht.«
»Ob ich das verstehe?! Bitte, bitte, lass mich nicht mit Jurek alleine.«
»Ich habe es gehört.«
Genie zwinkerte ihrer kleinen Schwester Halinka so zu, dass ihr Bruder es nicht sehen konnte. Sie liebte ihre beiden Geschwister innig, aber besonders verbunden fühlte sie sich mit Halinka. Wer konnte ihr das schon vorwerfen? Genie hatte bei der Geburt ihrer Schwester selbst den Namen für sie ausgesucht. »Tat, meinst du wirklich, das geht? Dieses Kleid sieht nicht so aus, als könnte Esther es tragen«, meinte Genie zu ihrem Vater.
Sie glättete das hellblau gepunktete Kleid und stand auf, um es schwingen zu lassen, während Tat schmunzelnd einen Schritt zurücktrat.
»Wahrscheinlich liegt das daran, dass du heute Abend gar nicht Königin Esther spielen wirst, Liebling. Das ist erst in ein paar Monaten. Aber heute … heute Abend feiern wir Jom Kippur. Hörst du nicht schon die Trompeten? Komm, setz dich. Ich will mit deinen Haaren fertig werden.«
Halinka wackelte aus dem Zimmer, wahrscheinlich suchte die kleine Schwester Mama, während ihr Bruder sich nicht von der Stelle rührte; er lag schräg über das Bett ausgestreckt. Er hörte auf, seinen Ball in die Luft zu werfen, und streckte Genie die Zunge heraus. Sie erwiderte die Grimasse, während Tat sich neben sie setzte und anfing, ihre dunklen hüftlangen Haare zu bürsten.
Jurek war ja nur eifersüchtig. Aus der ganzen Oberschule war sie ausgewählt worden, um beim Schultheater Königin Esther zu spielen. Dabei war sie gerade erst neu auf der Oberschule! Sie würde alle Juden retten und die umjubelte Heldin sein.
Außerdem würden ihre Freunde Irina, Henka, Rutka und Mietek dabei sein und zusehen, wie sie im elegantesten Kleid und mit funkelnder Krone auf der Bühne stand. Nun, mit Henka und Rutka würde sie noch reden müssen, damit sie Mietek auch wirklich mitbrachten. Er sie einfach in der Rolle der Königin sehen. Und wer wusste schon, vielleicht könnte sie die Krone sogar zu ihrer Hochzeit tragen. Mietek würde durch seine schiefen Zähne grinsen und seine bernsteinbraunen Locken schütteln, während er ihr ewige Liebe schwor. Genie würde ihn anlächeln, und das alles unter den Augen ihrer Familie …
»Eugenia!«
Genie fuhr auf, als Kogut sich mit in die Hüften gestemmten Händen vor ihr aufbaute.
»Du bist vierzehn, Eugenia. Du bist jetzt eine junge Dame, da solltest du nicht so viel bei deinem Vater herumlungern. Du übrigens auch nicht, Jurek. Warum ihr beide immer eurem Vater in seinem Schlafzimmer zur Last fallt, ist mir ein Rätsel. Ich dachte, wir hätten abgemacht, dass ihr nur samstags hier seid. Komm, ich mache deine Haare fertig, und du liebe Güte … wer hat dich denn in dieses alberne Kleid gesteckt?«, schnaubte Kogut.
»Das war Tat. Gefällt es dir nicht?«
»Nein.«
Genies Augen verengten sich, und seufzend ließ sie sich von Kogut aus dem Zimmer ziehen.
Sie warf Jurek einen letzten kurzen Blick zu. Der beschwerte sich schon bei ihrem Vater über das Dienstmädchen, erntete aber nur Schelte dafür, weil er sie wieder Kogut nannte. Genie verkniff sich ein Grinsen. Kogut, »Gockel« – das war doch ein ziemlich passender Spitzname.
Genie zappelte pausenlos herum, während Kogut ihr die Haare flocht. Sie mochte die Dienstbotenkammer nicht, weil sie so klein war, aber immerhin musste sie so nicht in ihr eigenes Zimmer hinauf.
Endlich hatte Kogut Genies Haare zu zwei Zöpfen gebändigt, und sie rannte in den ersten Stock. Lächelnd blickte sie auf die Rückwand ihres Zimmers, die ganz hinter Puppen und Spielsachen verschwand. Nicht ein Zoll Platz war auf den Regalbrettern, obwohl die nur einen Teil ihres Besitzes bargen.
Auch wenn Genie jetzt älter war, konnte Kogut sie nie überzeugen, die Sachen wegzuräumen. Ohnehin wollte sie sie für Halinka aufheben. Halinka war noch ein bisschen zu klein für Genies kostbare Spielsachen und Puppen, aber eines Tages sollten sie ihr gehören.
Genie setzte sich auf ihr Bett und nahm sich eine ihrer Lieblingspuppen: eine Porzellanpuppe aus Wien. Sie fuhr mit den Fingern über die kristallblauen Augen und lächelte. Zum Schlafen brauchte sie nur dann eine Puppe, wenn sie den Albtraum hatte, es nicht ins Konservatorium zu schaffen. Das Klavierspielen ging Genie über fast alles, und sie hatte vor, es zu ihrem Beruf zu machen. Könnte sie jede Sekunde jedes Tages am Klavier verbringen, würde sie glücklich sterben.
Genie hörte Kogut aus dem Wohnzimmer rufen. Sie verdrehte die Augen und setzte die Puppe zurück ins Regal. Auf der Treppe trödelte sie, so viel sie konnte, hüpfte jede Stufe einzeln herunter. Sie schnappte sich einen Apfel aus der Fruchtschale auf dem Mahagonitisch und ließ sich auf das Sofa plumpsen. Mama tanzte und sang wie üblich zu , sie trug schon ihr Kleid für den Abend, das Kogut auf dem Weg in die Küche mit einem bewundernden Blick bedachte.
»Kannst du nicht aufhören, in deinem perfekten Deutsch zu singen, und lieber persische Musik auflegen? Ich muss für meine Königin Esther üben«, bettelte Genie.
Genie stöhnte, sprang aber an den Flügel und versuchte sich damit darüber hinwegzutrösten, dass sie längst nicht so gut Deutsch sprach wie Mama. Andererseits wusste Genie nicht, warum sie es ausgerechnet jetzt lernen sollte.
Das Gerede über den Krieg war für sie alle ein fast schon ständiges Hintergrundgeräusch. Schon 1938 hatte das ganze Jahr über die reinste Paranoia geherrscht. Dabei ging es ihnen doch gut. Die schlauen Menschen im Radio sagten, Polen werde die Ostsee nicht aufgeben und sie würden gewinnen, weil Deutschland doch nur Papppanzer habe. Dann stellten sie lächelnd auf einen Sender um, der Chopin spielte, das war schließlich viel geschmackvoller.
Sie spielte gerade einen ihrer liebsten Chopin-Walzer, als Halinka über sie herfiel. Sie riss sie von den Tasten los und schleppte sie zum Rest der Familie. Sie lachten über Jurek in seinem dämlichen Leinengewand, dann zogen sie den Kopf ein, als Kogut sich umdrehte und ihnen einen vernichtenden Blick zuwarf. Schützend legte sie Jurek die Hand um die Schulter und führte ihn hinter Mama durch die Haustür.
Genie nahm Halinkas Hand, und gemeinsam folgten sie ihrem Bruder. Bis sie von einem breiten Lächeln aufgehalten wurden, das schon längst nicht mehr verärgert war.
»Kommt her, meine Mädchen.«
Halinka warf Genie einen fragenden Blick zu, bevor sie hinter ihrem Vater in die Laube traten. Tat setzte sich, und sie folgten ihm. Es war ein schöner Abend. Die Straßenbeleuchtung erhellte die Blumen in ihrem kleinen Paradies. Die Laube stand mitten in ihrem Garten, und Genie wusste, wenn sie auf einen der Bäume klettern würde, könnte sie wahrscheinlich am anderen Flussufer den Wawel sehen. Die abendliche Feier war schon so laut, dass sie sich beinahe vorstellen konnte, wie unten am Burghügel der schnaubende Drache aus der Legende das Schloss bewachte, von dem er sich niemals trennen würde.
»Nun, ihr beiden, keine Streiche mehr heute. Es ist Jom Kippur, eine Zeit der Freude. Bitte macht Jadwiga nicht das Leben schwer. Für unsere Familie zu arbeiten, ist wahrscheinlich schon schwierig genug. Und hört auf, sie Kogut zu nennen, zumindest solange sie euch hören kann.«
»Aber Tat! Sie will nicht, dass ich bei dir bin. Sie findet, ich bin zu groß dafür«, jammerte Genie.
»Das mag sein. Aber lasst uns zumindest heute Abend die Zeit genießen, Kinder, junge Damen und Erwachsene zusammen. Was meint ihr, Mädchen?«
Genie und Halinka nickten begeistert, und Tat gab ihnen beiden einen Kuss auf die Wange. Er nahm Halinka auf den Arm und legte Genie den anderen um die Schultern, als sie zwischen den Beeten an der Haustür vorbeigingen. Und als sie auf die Straße traten, merkte Genie, dass Tat vorhin recht gehabt hatte. Jetzt hörte auch sie die Trompeten.
***
Bei ihrer Fahrt durch die Straßen winkte Genie den Ladenbesitzern zu. Sie grüßte ihren Lieblingsbäcker, er lächelte zurück. Krakau war mehr Touristenattraktion als moderne Großstadt, weshalb sie mit dem Fahrrad zur Schule fuhr. Es war ungefährlich, und ihre Eltern waren zu sehr mit ihrem Geschäft beschäftigt, um sie bringen zu können.
Sie beeilte sich, damit sie nicht zu spät kam. Zu Genies Unmut hatte Kogut heute mit dem Frühstück länger gebraucht. Obwohl Mama ihr das Kochen und die wichtigsten Hausarbeiten beigebracht hatte, tat sie sich immer noch schwer. Genie fuhr am Fluss entlang und lächelte über seinen Gleichmut. Am anderen Ufer erhob sich der Wawel. Er war hübsch mit seinen Backsteintürmen, den roten Ziegeldächern und seinen vielen Fenstern. Doch heute hatte Genie keine Zeit, die Burg zu bewundern. Sie dachte an die Legende vom Drachen, der darin hauste. Sie stellte sich ein wildes, schuppiges Geschöpf vor, das den Kopf aus dem Turm herausstreckte, und ein hellgrünes Auge, das sie anstarrte. Mit einem leichten Gruseln trat Genie in die Pedale.
An der Schule angekommen, sprang sie vom Fahrrad und mischte sich unter die Schüler, die in das große Gebäude strömten. Sie freute sich, als sie Mietek mit seinen Eltern entdeckte. Genie stellte ihr Fahrrad ab und ging zu ihnen hinüber.
»Guten Morgen, Mietek. Hast du diese Matheaufgabe fertigbekommen?«
»Ja, natürlich. Du etwa nicht? Warum nur wundert mich das nicht?...