E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Lecoat Die Übersetzerin
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7517-0984-2
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-7517-0984-2
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jersey, 1940. Als Hedy eine Stelle als Übersetzerin für die deutschen Besatzer der Kanalinsel antritt, weiß niemand, dass die junge Frau Jüdin ist. Während sie durch heimliche Akte des Widerstands versucht, gegen die Nazis aufzubegehren, verliebt sie sich ausgerechnet in den deutschen Wehrmachtssoldaten Kurt, der ihre Gefühle erwidert. Doch Hedys Identität bleibt nicht lange verborgen. Gemeinsam mit Kurt und einer guten Freundin schmiedet Hedy einen mutigen Plan, um ihren Verfolgern zu entkommen ...
Jenny Lecoat kam in Jersey zur Welt, nur fünfzehn Jahre nach der Besatzung der Kanalinseln durch die Nazis. Im Anschluss an ihr Schauspielstudium an der Universität von Birmingham zog sie nach London und arbeitete als Moderatorin und Zeitschriften-Kolumnistin, bevor sie 1994 vollberuflich Fernsehautorin wurde. Hedy's War ist ihr erster Roman.
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1
Jersey, Kanalinseln
Sommer 1940
Die Sonne brannte nicht mehr gar so unbarmherzig, und die Möwen kreisten zu ihrem letzten Fang für diesen Tag über dem Meer, als die Sirene ertönte. Ihr an- und abschwellendes Heulen schallte über die dicht gedrängten Schieferdächer und die Kirchtürme der Stadt und das unregelmäßige Muster der Kartoffelfelder dahinter. In der Bucht von St. Aubin, wo die Wellen an den Strand plätscherten, drang die Warnung schließlich auch Hedy ans Ohr und riss sie aus ihrem Schlummer an der Ufermauer.
Träge, wie im Zeitlupentempo, rappelte sie sich auf und suchte den Himmel ab. Jetzt hörte sie auch ein schwaches, jaulendes Geräusch im Osten. Sie versuchte, ruhig durchzuatmen. Vielleicht nur wieder falscher Alarm? In den letzten beiden Wochen waren die Sirenen fast zur Routine geworden, doch jedes Mal waren die deutschen Aufklärungsflugzeuge am Himmel gekreist und mit einem Haufen verwackelter Aufnahmen von Durchgangsstraßen und Hafenmauern in ihren Kameras wieder über dem Meer verschwunden. Doch das hier war anders. Aus dem Motorengeräusch war eiskalter Vorsatz herauszuhören, und im nächsten Moment tauchten auch schon am fernen blauen Horizont mehrere winzige schwarze Punkte auf. Aus dem Jaulen wurde Brummen und aus dem Brummen lautstarkes Dröhnen. Da wusste sie es. Das war keine Aufklärungsmission. Das war der Anfang.
Schon seit Tagen beobachteten die Inselbewohner die Rauchwolken, die an der französischen Küste aufstiegen, sich ausbreiteten, und spürten die Erschütterung der fernen Detonationen noch in den Eingeweiden und in den Knochen. Die Frauen hatten Stunden damit zugebracht, in ihren Speisekammern die Dosenvorräte zu zählen, während die Männer vor den Banken Schlange standen, um die Familienersparnisse abzuheben. Unter lautstarkem Protest wurden Kindern Gasmasken über den Kopf gezerrt. Inzwischen hatten sie alle Hoffnung fahren lassen. Hier gab es niemanden, der sich den Angreifern hätte entgegenstellen können, zwischen den Aggressoren und ihrer verlockenden Trophäe lag nichts als glitzerndes blaues Wasser und ein leerer Himmel. Und nun waren die Flugzeuge auf dem Weg. Jetzt konnte Hedy sie schon deutlich sehen, immer noch ein Stück entfernt, aber den Umrissen nach wohl Stukas, Sturzkampfbomber.
Sie wirbelte herum und suchte nach einer Zuflucht. Bis zum nächsten Strandcafé war es fast eine Meile. Sie schnappte sich ihre Korbtasche und war mit wenigen Sätzen an der Steintreppe zur Promenade, die sie mehrere Stufen auf einmal nahm. Oben angekommen, sondierte sie die Lage: Ein paar hundert Meter Richtung First Tower befand sich ein kleiner Unterstand, mit nichts weiter als vier Holzbänken an den offenen Seiten, doch das musste genügen. Hedy hastete hinüber und warf sich unter die nächstgelegene Bank, ohne darauf zu achten, dass sie sich dabei das Schienbein aufschürfte. Schon Sekunden später bekam sie Gesellschaft von einer in Panik aufgelösten jungen Mutter, wahrscheinlich kaum älter als sie selbst, die einen kleinen Jungen mit bleichem Gesicht am Handgelenk hinter sich herzog. Inzwischen hatten die Flieger bereits den Hafen von St. Helier erreicht; einer aus der Formation kam in einem Bogen über die Bucht in ihre Richtung, und der Motorenlärm wurde so ohrenbetäubend laut, dass er die Schreie des Jungen übertönte, den die Frau auf den Boden drückte. Als mehrere Geschosse in die Deichmauer einschlugen und in sämtliche Richtungen zischten, versetzte ihr das Ratata des Maschinengewehrfeuers Stiche im Ohr. Eine Sekunde später erschütterte eine ferne Explosion den Unterstand so heftig, dass Hedy jeden Moment mit dem Einsturz des Dachs rechnete.
»War das eine Bombe?« Unter ihrer Sonnenbräune war das Gesicht der Frau aschfahl.
»Ja. In der Nähe des Hafens, glaube ich.«
Die Frau musterte sie einen Moment lang mit einem erstaunten Blick. Natürlich war es der Akzent – selbst in einem Augenblick wie diesem sonderte er Hedy aus und gab sie als Fremde zu erkennen. Doch die Aufmerksamkeit der Frau richtete sich sofort wieder auf ihr Kind.
»O mein Gott«, murmelte sie, »was haben wir bloß getan? Mein Mann hat gesagt, wir hätten uns evakuieren lassen sollen, als es noch ging.« Ihre Augen starrten in den Himmel. »Glauben Sie, wir hätten lieber weggehen sollen?«
Hedy sagte nichts, sondern folgte nur dem Blick der Frau. Sie dachte an ihre Arbeitgeber, die Mitchells, wie sie mit ihrem schreienden Kind diesen dreckigen, abgewrackten Frachter bestiegen hatten, mit nichts als ein bisschen Unterwäsche zum Wechseln und etwas Proviant in einem braunen Karton. In diesem Moment, mit dem beißenden Geruch von Treibstoff in der Nase, hätte sie alles darum gegeben, jetzt bei ihnen zu sein. Ihre Fingerknöchel um die Latte der Bank färbten sich gelb. In Korkenzieherspiralen schwebte der Rauch von verkohltem Holz über die Bucht, und sie hörte den kleinen Jungen schluchzen. Hedy schluckte und konzentrierte sich auf die Fragen, die ihr im Kopf herumschwirrten. Wie lange würde es bis zur Landung der Deutschen dauern? Würden sie wahllos Menschen einfangen, um sie an die Wand zu stellen und zu erschießen? Und wenn die nun sie in die Finger bekamen, was dann? Es brachte nichts, den Gedanken zu Ende zu führen. Anton, der einzige Mensch auf der Insel, den sie als Freund bezeichnen konnte, wäre nicht in der Lage, ihr zu helfen. Wieder erzitterte der Unterstand und machte ihr klar, wie lächerlich wenig Schutz er bot.
Ohne sich zu rühren, horchte Hedy auf die Bomber, wie sie ihre Schleifen zogen und im Sturzflug ihre Last abwarfen, auf das Krachen der Detonationen eine Meile entfernt, bis nach einer gefühlten Ewigkeit das Motorengeräusch in der Ferne verebbte. Ein älterer Herr mit zerzaustem weißem Haar stolperte auf sie zu, blieb stehen und sah sie an.
»Die Flieger sind weg«, rief er. »Versuchen Sie, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen! Wird nicht lange dauern, bis sie zurückkehren.« Hedy starrte auf sein Jackett, das mit Staub und Blut bedeckt war. »Keine Sorge, ist nicht meins«, beruhigte sie der Mann, als er ihren Blick sah. »Ein alter Mann, der in der Nähe des Hafens unterwegs war, hat eine Kugel ins Bein abgekriegt – wir mussten ihn ins Krankenhaus bringen.«
»Gibt es viele Verletzte? Oder …?« Hedy warf einen vielsagenden Blick auf den Jungen und sprach ihre letzte Frage nicht aus.
»Ein paar, ja«, antwortete der Mann mit wackeliger Stimme, und in Hedy stieg eine Woge der Angst auf. Er drückte sich die Faust an den Mund und schluckte wieder, bevor er fortfuhr: »Sie haben eine Reihe Kartoffellaster bombardiert, die zum Abladen Schlange standen. Ich meine, was soll das, zum Teufel?« Er schüttelte den Kopf und deutete auf den Heimweg. »Und jetzt beeilen Sie sich.«
Der Mann hastete davon. Hedy kam zitternd auf die Beine, wünschte der Frau alles Gute und lief auf der Promenade Richtung Stadt, während sie sich fragte, wie um alles in der Welt sie zum Haus der Mitchells zurückkommen sollte – vorausgesetzt, es stand noch. Sie versuchte zu rennen, doch sie fühlte sich noch zu schwach. Im Geist sah sie ihren Kater Hemingway im Wohnzimmer allein auf dem Sofa kauern, das graue Fell vor Angst aufgestellt. Ein wenig bereute sie es schon, Mr Mitchells Anweisung, ihn einschläfern zu lassen, missachtet zu haben. An der Tür zur Tierarztpraxis hatte sie dem treuherzigen Blick des Katers nicht widerstehen können. Jetzt wusste sie nicht einmal, ob sie selbst genug zu essen haben würde, geschweige denn, genug für ein Haustier.
Als sie die ersten Häuser von St. Helier erreichte, hörte sie schon das Bimmeln der Krankenwagen und die Rufe einiger Männer, die verzweifelt versuchten, ihre Bemühungen zu koordinieren. An diesem windstillen Sommerabend stieg der Rauch in kompakten Säulen von Booten und Gebäuden auf; kreuz und quer waren Fahrzeuge auf den Straßen liegengeblieben. Ein paar wenige Leute waren unterwegs – einige auf der Suche nach Vermissten, andere, die ziellos umherwanderten, und ein altes Paar, das schluchzend auf einer Bank saß. Hedy lief weiter, sie zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich dabei Schritt für Schritt der Realität zu stellen. Rings um die Insel wimmelte es unter Wasser wahrscheinlich schon von U-Booten. Nicht lange, und sie wäre wieder von diesen graugrünen Uniformen umgeben und müsste das Gebrüll ihrer Befehle ertragen. Sie hörte schon das Hämmern an der Tür, spürte Wehrmachtshände, die sie an den Ellbogen packten, um sie – das schmutzige Geschirr noch auf dem Tisch – aus dem Haus zu zerren. Von jetzt an war alles möglich. Sie erinnerte sich nur allzu gut daran, wie sich die Deutschen in Wien benommen hatten.
Besonders gegenüber Juden.
Sie drängte vorwärts und setzte ihre ganze Willenskraft daran, einfach nur nach Hause zu kommen. Sie musste zu Hemingway und ihn in die Arme nehmen.
*
»Was anderes als die hier habe ich nicht. Aber könnte die uns in Schwierigkeiten bringen?«
Anton stand in der Tür zu seinem Schlafzimmer und hielt eine ursprünglich weiße, inzwischen graue, gerippte Baumwollunterhose hoch. Selbst von ihrem Fensterplatz aus konnte Hedy sehen, dass sie nicht gewaschen war. Unwillkürlich huschte ihr bei dem Wort »Schwierigkeiten« ein Lächeln über die Lippen; Anton konnte zuweilen so vorsichtig sein wie zu anderen Zeiten übertrieben optimistisch. Vor Sorge und Erschöpfung war sein Gesicht nicht anders als ihr eigenes, wie sie zufällig im Spiegel sah: kreideweiß. Anton lebte allein, und Hedy vermutete, dass auch er die letzten vier Nächte dagesessen, schlaflos auf die verlassenen Straßen gestarrt und in banger Erwartung die Sperrstunden...