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E-Book, Deutsch, Band 1, 432 Seiten
Reihe: The Last Bloodcarver
Le Verlorenes Herz (The Last Bloodcarver, Band 1)
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-03880-230-3
Verlag: Arctis ein Imprint der Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 1, 432 Seiten
Reihe: The Last Bloodcarver
ISBN: 978-3-03880-230-3
Verlag: Arctis ein Imprint der Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vanessa Le ist eine vietnamesisch-amerikanische Autorin aus dem Pazifischen Nordwesten. Sie hat einen Abschluss von der Brown University mit dem Schwerpunkt 'Health and Human Biology' und liebt wissenschaftlich inspirierte Fantasy. Am liebsten schreibt sie, wenn sie eigentlich gerade lernen sollte.
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Eins
Jemand wie Nhika, mit ihrem nervösen Lächeln und der ausgefransten Tasche voller falscher Wunderöle, gehörte nicht auf diese Straßen.
Im Dog Borough in der Nähe des Hafens wäre sie in dieser Aufmachung niemals aufgefallen, weder mit den abgeschnittenen Ärmeln noch mit den nackten Händen. Dort trug man Leinen und Wolle statt Seide und die Zahnräder der Automatons ächzten vor Rost und eingetrocknetem Meersalz. Hier im Horse Borough jedoch wickelten sich Frauen in enge Seidenkleider und Männer in weite Gewänder, verbargen jedes Stückchen Haut unter langen Handschuhen und hohen Kragen. Das war die Mode hier, geboren aus der Angst vor Menschen wie Nhika.
Beziehungsweise vor dem Mythos von ihnen.
Die Leute musterten Nhika im Vorbeigehen – diesen kleinen Rußfleck in einer Stadt aus Silber und Blau –, doch die Blicke verweilten nicht lange auf ihr; man gab ihr so viel Platz, wie sie wollte. Verkaufsautomatons hoben die Arme – so blitzsauber, dass Nhikas verzerrte Spiegelung ihr bronzen entgegenblickte – und boten Zeitungen an. Die heutige Schlagzeile galt dem Tod des Gründers von Congmi Industries. Obwohl die Nachricht selbst schon Wochen alt war, blieb sie in Theumas Gesprächsthema Nummer eins. Dieses Schmierblatt hatte mit aller Macht versucht, dem Geschehen mehr Bedeutung zu geben, indem es der Schlagzeile einen Hauch von Skandal hinzufügte: UNFALL ODER MORD?
Nhika prüfte erneut das Stück Papier in ihrer Hand, aus Angst, sich zu verlaufen. In einem angelegten Stadtstaat wie Theumas hätte sie sich darüber eigentlich keine Gedanken machen müssen. Jede Straße war nummeriert, die Querstraßen alphabetisch benannt, aber wenn sie vor der falschen Tür auftauchte, würde sie erst recht aussehen wie ein bedauernswerter Sack Lumpen mit einer Tasche voller Tinkturen.
Hier im Horse Borough war die Stadt flacher, weitläufiger. Nicht so überladen – keine kastenförmigen Häuser, die aufeinander gestapelt wurden. Jedes Gebäude verlangte seinen eigenen Raum, sie alle waren groß und angestrichen, die Vordächer im Stil der Pagoden gebogen. Es war nicht schwer, das Haus ihres Kunden zu finden: eines von vielen Stadthäusern, die alle gleichermaßen glatt und identisch waren, sodass nur die schmiedeeiserne Nummer über der Tür sie voneinander unterschied. Sie waren auf einfache Art elegant, mit dem Ziegeldach, mehreren Stockwerken und einem Balkon ganz oben. Nhika atmete tief durch, bevor sie an die Tür klopfte.
Es kam keine unmittelbare Antwort. Nhika sah links und rechts die Straße hinunter, sie fühlte sich entblößt auf der Türschwelle. Also wartete sie so, wie die Menschen es hier taten, verschränkte die Arme, klopfte mit dem Fuß auf den Boden und versuchte, so auszusehen, als hätte sie – mit einer Dusche, einem Haarschnitt und komplett neu eingekleidet vielleicht – hierher gehören können.
Schließlich ging die Tür auf, nur einen Spalt, aufgehalten von einer Türkette. Dahinter musterte sie ein Mann aus zusammengekniffenen Augen. Er wusste auf den ersten Blick, wer sie war, und bat sie hastig herein. Zweifellos wollte er sie genauso sehr von seiner Türschwelle weghaben, wie sie von dort wegwollte.
»Wir haben einen Hintereingang«, murmelte er. Seine Stimme troff vor Verachtung.
Nhika hatte eine ganze Menge an Erwiderungen, die sie ihm entgegenbringen könnte, doch eine scharfe Zunge hatte ihr noch nie einen einzigen Chem eingebracht. Nein, dafür hatte sie andere Talente.
»Verzeihung«, sagte sie und schob sich an ihm vorbei.
Falls er den Sarkasmus bemerkt hatte, ließ er sich nichts anmerken. Sie tauschten keine Namen aus. Ihre Interaktion erforderte es auch nicht.
Sein Haus war innen kleiner, als es von außen ausgesehen hatte, die Möbel waren aus dunklem, lackiertem Holz und mit Perlmutt versetzt. Nhika bemerkte sogar eine Wählscheibe an der Wand. Nur die wenigsten waren reich genug, um sich ein eigenes Haustelefon leisten zu können. Als sie die zweifache Ausstattung musterte, die zwei Sessel, die zwei Paar Schuhe an der Tür, verstand sie, warum das Haus so klein war, obwohl der Mann so offensichtlich Geld hatte. Sie verstand, warum er verzweifelt genug war, jemanden wie sie um Hilfe zu bitten.
Es war ein Zuhause für zwei und die zweite Person musste auf dem Sterbebett liegen.
»Wo ist die Patientin?«, fragte sie und hob die Tasche voller Tinkturen vor die Brust, als wäre sie eine Ärztin auf Hausbesuch.
»Oben«, sagte der Mann und rieb sich den dünnen, rauen Bart an seinem Kinn. »Folgen Sie mir.«
Nhika stieg hinter dem Mann die Treppe hinauf, Fläschchen klirrten in ihrer Tasche aneinander.
»Sie sollten wissen, dass ich nicht an diesen homöopathischen Unsinn glaube«, sagte er mit fester Stimme, während sie nach oben gingen; jede Treppenstufe ächzte unter ihren Füßen. »Was auch immer Sie verwenden, Ihre Salben und was sonst so … Ich will die Erklärungen.«
Sie hatte diese Aussage von ihrer Kundschaft bereits in allen möglichen Variationen gehört. Nhika konnte es ihnen nicht verübeln – in einer technokratischen Stadt wie Theumas musste man Homöopathie natürlich als veraltete Pseudomedizin abtun. Aber – ihre Lippen verzogen sich zu einem herablassenden Lächeln – sie wusste nur zu gut, dass er, irgendwo, tief in seinem Innern, doch daran glaubte. Er hätte sonst nicht nach ihr gerufen.
Oder vielleicht hatten die Ärzte diese Patientin bereits abgeschrieben und er war verzweifelt genug zu hoffen, dass Ingwer und Ginseng auch nur das Geringste gegen den Tod ausrichten könnten.
Aber natürlich konnten sie das nicht.
Das war Nhikas Geheimnis – na ja, eins von vielen. Sie glaubte auch nicht an diesen homöopathischen Unsinn.
Sie betraten ein Schlafzimmer im obersten Stock, wo die geöffneten Vorhänge den Blick auf den Balkon freigaben. Eine Frau schlief allein in einem großen Bett, gut zugedeckt unter einer schweren Decke. Mit ihrem skelettartigen Körper und den Schläuchen und Kabeln, die überall an ihr hingen, glich sie beinahe einem Automaton in der Herstellung. Auf der gegenüberliegenden Seite des Bettes befand sich eine kastenförmige Maschine, deren Zahnräder langsam arbeiteten und Infusionen und Medikamente durch die Zugänge der Frau pumpten. Das schwere Keuchen aus dem Inneren der Maschine erfüllte den gesamten Raum.
Nhika näherte sich dem Bett und der Mann sog Luft durch die Zähne ein, als wollte er seine Meinung doch noch ändern und sie wieder aus der Tür drängen. Vielleicht hatte er erst jetzt ihre yarongesischen Züge bemerkt: ihre goldbraune Haut, die dunklen Augen und die Haare, die eher der Farbe von Kaffee als von Tinte glichen. Die Tatsache, dass sie in Theumas aufgewachsen war, hatte etwas vom Einfluss der Insel verwässert, aber das hielt die Kundschaft nicht von ihrer Paranoia ab. Nhika blickte zu ihm zurück und wartete auf sein Urteil, doch schließlich bedeutete er ihr, näher zu treten.
Nhika blieb neben dem Bett stehen und betrachtete die Frau. Die Patientin hatte einen friedlichen Ausdruck, ihre Augen waren geschlossen und man hätte meinen können, sie würde nur schlafen – wäre da nicht die marmorierte Haut. Selbst für eine Theuma war sie ungewöhnlich blass.
Dieser Anblick war Nhika seltsam vertraut – eine jahrealte Erinnerung stieg in ihr auf: sie neben dem Bett, ihre Mutter unter einem dünnen Tuch. Allerdings waren da nicht so viele Kabel und Maschinen, nur ihre ineinander verschlungenen Hände – und ihre Mutter hatte nie so bleich ausgesehen, nicht einmal im Tode.
Nhika blinzelte und verdrängte die Gedanken. »Was ist passiert?«
»Es hat mit Schmerzen in der Brust angefangen und eines Tages ist sie zusammengebrochen. Seitdem ist sie nicht mehr dieselbe – schwach, hat Schmerzen. Sie schläft jetzt von all den Medikamenten, aber die Ärzte sagen, die sollen es ihr nur angenehm machen. Sie nicht heilen. Sie sagen, es gibt keine Hoffnung mehr, aber …« Er ließ den Blick über die Frau wandern, ein verlorener Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Ich glaube das nicht. Wir hatten Pläne. Es ist noch nicht vorbei.«
Nhika beugte sich über die Frau. »Und was denken die Ärzte, was es ist?«
»Eine Blutkrankheit, vermutlich mütterlicherseits vererbt. Aber ihre Mutter hatte das nie.« Der Mann strich sein Gewand glatt und räusperte sich übertrieben wie ein Gelehrter. »Wenn ich raten müsste, würde ich auf diese unsichtbaren Mikromen tippen, die ihr Herz angreifen. Wir waren gerade von einer Reise außerhalb der Stadt zurückgekehrt. Vielleicht hat sie sich dort etwas eingefangen.«
Er klang überheblich, aber Nhika erkannte sofort, dass er nicht die geringste Ahnung von der Mikromentheorie hatte. Er wiederholte bloß das, was er in der Zeitung gelesen oder vielleicht von den Ärzten aufgeschnappt hatte. Nhika konnte ihm erzählen, was sie wollte, er würde ihr sehr wahrscheinlich glauben.
Nhika ließ die Schultern kreisen. Das würde einfach werden.
»Ich werde nun meine eigenen Untersuchungen durchführen«, sagte sie.
»Ohne Handschuhe?«, fragte er und seine gekräuselten Lippen verrieten sein Misstrauen. Er hätte diese Frage nicht gestellt, wenn sie eine Theuma wäre, aber die Berührung einer Yarongesin galt unter den Abergläubischen als etwas Gefährliches.
»Ich kann durch das Leder keinen Puls fühlen und wie Sie vielleicht bemerkt haben, bin ich kaum in der Position, mir Seide leisten zu können«, sagte Nhika. Sie verkniff sich die Bitterkeit, er war nicht der Erste, der ihre nackten Hände kommentierte.
Mit einem zögerlichen Nicken...