E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
le Carré Unser Spiel
Version 1.V01
ISBN: 978-3-8437-0850-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0850-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
John le Carré wurde 1931 in Poole, Dorset geboren. Nach einer kurzen Zeit als Lehrkraft in Eton schloss er sich dem britischen Geheimdienst an. 1963 veröffentlichte er Der Spion, der aus der Kälte kam. Der Roman wurde ein Welterfolg und legte den Grundstein für sein Leben als Schriftsteller. Die Veröffentlichung von Tinker, Tailor, Soldier, Spy markiert den nächsten Höhepunkt seiner Karriere. Seine Figur des Gentleman-Spions George Smiley ist legendär. Nach Ende des Kalten Krieges schrieb John le Carré über große internationale Themen wie Waffenhandel, die Machenschaften der Pharmaindustrie und den Kampf gegen den Terror. Der in Deutschland hochgeschätzte Autor wurde mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet. John le Carré verstarb am 12. Dezember 2020. johnlecarre.com
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2
Ich gerate nicht so leicht in Panik, aber noch nie war ich so nah daran wie in dieser Nacht. Auf wen von uns hatten sie es abgesehen – auf Larry oder mich? Oder auf uns beide? Wieviel wußten sie von Emma? Warum hatte Tschetschejew Larry in Bath besucht, und vor allem: wann? Wann? Diese Polizisten waren nicht auf der Suche nach irgendeinem linken Dozenten, der mal für ein paar Tage abgetaucht war. Sie verfolgten eine Spur, sie witterten Blut, sie jagten jemanden, der ihre aggressivsten Instinkte weckte.
Aber für wen hielten sie ihn – Larry, meinen Larry, unseren Larry? Was hatte er getan? Dieses Geschwätz von Geld und Russen und Tschetschejew, von mir und Sozialismus und noch einmal von mir – wie konnte Larry irgend etwas anderes sein als das, was wir aus ihm gemacht hatten: ein zielloser englischer Revolutionär aus dem Mittelstand, ein ewiger Dissident, ein Amateur, ein Träumer, ein ständiger Verweigerer; ein zäher, hilfloser, lüsterner, verkommener, halbwegs kreativer Versager, der zu klug war, ein Argument kaputtzumachen, zu störrisch, sich mit einem fehlerhaften zufriedenzugeben?
Und für wen hielten sie mich – diesen alleinstehenden pensionierten Staatsbeamten, der seine Fremdsprachen mit sich selber spricht, Wein produziert und in seinem reizvollen Weingarten in Somerset den guten Samariter spielt? Sie sollten sich einen Hund halten, also wirklich! Wie kamen sie darauf, nur weil ich allein lebte, könnte mir etwas fehlen? Verfolgten sie mich, nur weil sie Larry oder Tschetschejew nicht zu fassen bekamen? Und Emma – meine zarte oder nicht so zarte verschwundene Herrin von Honeybrook –, wie lange noch, bis auch sie den beiden ins Visier geriet? Ich ging nach oben. Nein, falsch. Ich rannte nach oben. Das Telefon stand neben meinem Bett, aber als ich den Hörer abnahm und wählen wollte, wußte ich zu meiner Demütigung plötzlich die Nummer nicht mehr, etwas, das mir selbst bei den heikelsten Operationen meines ganzen geheimen Lebens nie passiert war.
Aber wieso war ich überhaupt nach oben gegangen? Unten im Salon stand ein einwandfrei funktionierendes Telefon, ein weiteres im Arbeitszimmer. Warum war ich nach oben gerannt? Ich erinnerte mich an einen fanatischen Dozenten, der uns während der Ausbildungszeit mit Vorträgen über Fluchtstrategien gelangweilt hatte. Wenn Menschen in Panik geraten, hatte er gesagt, fliehen sie nach oben. Treppen, Aufzüge, Rolltreppen, alles wird benutzt, Hauptsache, es geht rauf und nicht runter. Wenn das Haus gestürmt wird, sind alle, die nicht vor Schreck erstarrt sind, auf dem Dachboden.
Ich setzte mich aufs Bett. Ließ die Schultern sinken und versuchte sie zu lockern. Befolgte den Rat irgendeines Gurus aus einem bunten Prospekt zum Thema Selbstmassage und ließ den Kopf kreisen. Ich spürte keine Erleichterung. Ich ging über die Galerie zu Emmas Seite des Hauses, blieb vor ihrer Tür stehen und horchte, worauf, war mir selbst nicht klar. Das Klappern ihrer Schreibmaschine, wie es wahllos einen hoffnungslosen Fall nach dem anderen erfaßte? Ihr verliebtes Geflüster am Telefon, bis ich es nicht mehr an mich heranließ? Ihre Stammesmusik aus dem tiefsten Afrika – Guinea, Timbuktu? Ich drückte die Klinke. Die Tür war abgeschlossen. Von mir. Ich horchte noch einmal, ging aber nicht hinein. Fürchtete ich mich vor ihrem Geist? Vor ihrem offenen, anklagenden, allzu unschuldigen Blick, mit dem sie mir sagte: Bleib draußen, ich bin gefährlich, ich habe mir selbst angst gemacht, und jetzt mache ich dir angst? Auf dem Rückweg zu meiner Seite blieb ich vor dem hohen Fenster am Treppenabsatz stehen und blickte auf die fernen Umrisse der Gartenmauer, die vom fahlen Licht der Treibhäuser beleuchtet wurde.
Ein warmer Spätsommertag auf Honeybrook. Wir sind seit sechs Monaten zusammen. Am Morgen stehen wir als erstes Schulter an Schulter im Abfüllraum, und Cranmer, der große Weinbauexperte, mißt atemlos den Zuckergehalt unserer Madeleine-Anjou-Trauben, auch so eine von Onkel Bobs fragwürdigen Anschaffungen. Die Madeleine ist so kapriziös wie jede andere Frau, hatte mir einmal ein französischer Fachmann unter viel Zwinkern und Kopfnicken versichert: heute reif und willig, morgen alt und ungenießbar. Ein sexistischer Vergleich, den ich Emma wohlweislich verschweige. Ich hoffe inständig auf siebzehn Prozent, aber schon sechzehn würden eine gute Ernte verheißen. Im sagenhaften Weinjahr 1976 kam Onkel Bob auf erstaunliche zwanzig Prozent, bevor die englischen Wespen sich über die Trauben hermachten und der englische Regen den Rest besorgte. Emma sieht zu, wie ich das Refraktometer nervös ans Licht halte. »Knapp achtzehn Prozent«, verkünde ich schließlich mit einer Stimme, die einem berühmten General am Vorabend der Schlacht besser angestanden hätte. »In zwei Wochen beginnen wir mit der Lese.«
Jetzt sitzen wir träge hinter der Gartenmauer zwischen unseren Rebstöcken und reden uns ein, wir könnten durch unsere Anwesenheit auf das letzte Stadium des Reifungsprozesses einwirken. Emma sitzt im Schaukelstuhl und trägt – auf meine Anregung hin – ein Kleid im Watteau-Stil: breiter Hut, langer Rock, die Bluse zum Sonnenbad aufgeknöpft; sie nippt an ihrem Pimm’s und liest Partituren, und ich sehe ihr dabei zu und möchte für den Rest meines Lebens nichts anderes mehr tun. Vorige Nacht haben wir miteinander geschlafen. Heute morgen nach der Zeremonie der Zuckerbestimmung haben wir noch einmal miteinander geschlafen, was ich, wie ich mir einbilde, noch am Glanz ihrer Haut und dem verträumten Ausdruck ihrer Augen erkennen kann.
»Wenn wir eine vernünftige Mannschaft zusammenbekommen, dürften wir das Ganze an einem Tag schaffen«, erkläre ich kühn.
Sie schlägt lächelnd eine Seite um.
»Onkel Bob hat den Fehler gemacht, dazu Freunde einzuladen. Das bringt nichts. Reine Zeitverschwendung. Richtige Landbewohner schaffen sechs Fässer am Tag. Oder sagen wir fünf. Auch wenn wir hier nicht mehr als drei haben, bestenfalls.«
Sie hebt lächelnd den Kopf, sagt aber nichts. Woraus ich schließe, daß sie meine landwirtschaftlichen Hirngespinste mit leisem Spott bedenkt.
»Wir könnten Ted Lanxon und die beiden Toller-Mädchen bekommen, und Mike Ambry, falls er nicht pflügen muß, und vielleicht noch Jack Taplows zwei Söhne aus dem Kirchenchor, falls sie nach dem Gottesdienst Zeit haben – natürlich als Gegenleistung für unsere Hilfe beim Erntefest.«
Ein zerstreuter Ausdruck erscheint auf ihrem jungen Gesicht, und ich fürchte, daß ich sie langweile. Sie furcht die Stirn, sie hebt eine Hand, um die Bluse zu schließen. Gleich darauf bemerke ich erleichtert, es ist bloß irgendein Geräusch, das sie gehört hat und ich nicht, denn ihr Musikergehör ist viel feiner als meins. Dann höre ich es auch: das Quietschen und Rattern eines gräßlichen Autos, das nun auf der Auffahrt anhält. Und ich weiß sofort, wessen Auto das ist. Ich brauche nicht zu warten, bis ich die vertraute Stimme erkenne, die nie laut wird, aber auch nie so leise ist, daß man sie nicht hören kann.
»Timbo. Cranmer, um Gottes willen. Wo zum Teufel steckst du, Mann? Tim?«
Und dann, denn Larry findet einen immer, fliegt die Tür in der Gartenmauer auf und steht er da, schlank wie eine Gerte in seinem nicht sehr weißen Hemd, der ausgebeulten schwarzen Hose und den erbärmlichen Wildlederstiefeln, die Pettifer-Stirnlocke kunstvoll überm rechten Auge. Und ich weiß, daß er, mit fast einem Jahr Verspätung, gerade als ich zu glauben beginne, daß ich ihn niemals wiedersehen werde, gekommen ist, um das erste der von mir versprochenen sonntäglichen Mittagessen einzufordern.
»Larry! Phantastisch! Du liebe Zeit!« rufe ich. Wir schütteln uns die Hände, dann, zu meinem Erstaunen, umarmt er mich und reibt seine Designerstoppeln an meiner frischrasierten Wange. Er hat mich nie umarmt, solange er mein Joe war. »Wunderbar. Endlich hast du’s geschafft. Emma, das ist Larry.« Ich halte ihn jetzt am Arm. Auch das ist für mich etwas Neues. »Gott hat uns beide nach Winchester und dann nach Oxford geschickt und seitdem hab ich ihn nicht mehr loswerden können. Stimmt’s, Larry?«
Zunächst scheint er unfähig, sie offen anzublicken. Er ist bleich wie unter der Guillotine und ein wenig böse: sein finsteres Lubjanka-Gesicht. Seinem Atem nach zu urteilen, ist er noch betrunken, wahrscheinlich hat er mit den Uni-Hausmeistern die ganze Nacht durchgesoffen. Anzusehen ist ihm aber wie üblich nichts davon. Er sieht aus wie ein eifriger empfindsamer Duellant, der allzu jung sterben soll. Er steht vor ihr, legt prüfend den Kopf zurück und mustert sie. Er fährt sich mit den Knöcheln übers Kinn. Er zeigt sein durchtriebenes, selbstkritisches Lächeln. Auch sie lächelt durchtrieben, ihre obere Gesichtshälfte wird vom Schatten des Sonnenhuts in geheimnisvolles Dunkel getaucht, eine Tatsache, deren sie sich vollkommen bewußt ist.
»Mensch, also wirklich!« erklärt er zufrieden. »Was für eine Schönheit. Wer ist das, Timbo? Wo zum Teufel hast du die gefunden?«
»Unter einem Giftpilz«, antworte ich stolz, was, so unbefriedigend es sein mag, bei Larry wesentlich besser ankommt als »an einem verregneten Freitagabend im Wartezimmer eines Physiotherapeuten in Hampstead«.
Dann begegnet sich beider Lächeln und leuchtet einander an – ihres leicht spöttisch, und seins, vielleicht wegen ihrer Schönheit, vorübergehend nicht ganz so seiner Wirkung bewußt wie sonst. Auf jeden Fall aber ein beiderseitiges Lächeln des Erkennens, auch wenn noch nicht klar ist, was da erkannt wird.
Aber mir ist es klar.
Ich bin der Makler, der Mittelsmann der beiden. Über zwanzig Jahre lang habe ich Larrys Suchen geleitet. Jetzt leite ich...