E-Book, Deutsch, Band 2, 185 Seiten
Reihe: Ein Smiley-Roman
le Carré Ein Mord erster Klasse
13001. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8437-0844-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Smiley-Roman
E-Book, Deutsch, Band 2, 185 Seiten
Reihe: Ein Smiley-Roman
ISBN: 978-3-8437-0844-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
John le Carré wurde 1931 in Poole, Dorset geboren. Nach einer kurzen Zeit als Lehrkraft in Eton schloss er sich dem britischen Geheimdienst an. 1963 veröffentlichte er Der Spion, der aus der Kälte kam. Der Roman wurde ein Welterfolg und legte den Grundstein für sein Leben als Schriftsteller. Die Veröffentlichung von Tinker, Tailor, Soldier, Spy markiert den nächsten Höhepunkt seiner Karriere. Seine Figur des Gentleman-Spions George Smiley ist legendär. Nach Ende des Kalten Krieges schrieb John le Carré über große internationale Themen wie Waffenhandel, die Machenschaften der Pharmaindustrie und den Kampf gegen den Terror. Der in Deutschland hochgeschätzte Autor wurde mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet. John le Carré verstarb am 12. Dezember 2020. johnlecarre.com
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2
Das Donnerstag-Gefühl
Es war Donnerstagabend, und die »Christliche Stimme‹ war gerade in Druck gegangen. In der Fleet Street war dies kaum ein historisches Ereignis. Der picklige Boten junge, der den zerzausten Stoß von Umbruchseiten mitnahm, zeigte sich nicht dienstwilliger, als unbedingt nötig war, um seine Weihnachtsgratifikation nicht zu gefährden. Und selbst in dieser Hinsicht hatte er gelernt, daß die weltlichen Journale von ›Unipress‹ mehr materielle Wohltat versprachen als die »Christliche Stimme‹; Wohltat stand nämlich genau im Verhältnis zum Absatz.
Miss Brimley, die Herausgeberin der Zeitschrift, rückte das Luftkissen unter sich zurecht und zündete sich eine Zigarette an. Ihre Sekretärin und Redakteurin – die Anstellung schloß beide Verantwortungen ein – gähnte, ließ ihr Aspirinfläschchen in die Handtasche fallen, kämmte ihr gelbliches Haar und sagte Miss Brimley gute Nacht, wie üblich einen Geruch stark parfümierten Puders und einen leeren Papiertücherkarton zurücklassend. Miss Brimley hörte zufrieden das scharfabgehackte Echo ihrer Schritte den Korridor hinunter verklingen. Es gefiel ihr, daß sie endlich, endlich allein war, und sie genoß die plötzliche Leere. Sie mußte sich immer wieder über sich selbst wundern, wie jeder Donnerstagmorgen, wenn sie das riesige ›Unipress‹-Gebäude betrat und etwas lächerlich, gleich einem farblosen Bündel auf einem Luxusdampfer, auf einer Rolltreppe nach der anderen stand, dasselbe leichte Unbehagen mit sich brachte. Jeder wußte, sie hatte die ›Stimme‹ vierzehn Jahre lang herausgebracht, und es gab Leute, die sagten, daß ihr Layout das beste sei, was ›Unipress‹ mache. Und doch verließ sie dieses Donnerstag-Gefühl nie, nie die wache Sorge, daß sie eines Tages, vielleicht schon heute, nicht fertig sein würde, wenn der Botenjunge kam. Sie überlegte oft, was dann wohl passieren würde. Sie hatte von Fehlschlägen anderswo in diesem riesigen Konzern gehört, von Sonderartikeln, die mißbilligt, und von Redakteuren, die getadelt worden waren. Ihr war es ein Rätsel, warum sie die ›Stimme‹ überhaupt beibehielten, mit dem teuren Büro im siebenten Stock und einer Auflage, die, soweit Miss Brimley wußte, kaum die Büroklammern bezahlte.
Die ›Stimme‹ war um die Jahrhundertwende von dem alten Lord Landsbury gleichzeitig mit einer nonkonformistischen Tageszeitung und der ›Temperenz-Gazette‹ gegründet worden. Aber die Tageszeitung und die ›Gazette‹ waren seitdem längst eingegangen, und Landsburys Sohn war vor nicht so langer Zeit eines Morgens aufgewacht, um zu erfahren, daß seine ganze Firma, jeder Mann und jede Frau darin, jedes Möbelstück, die gesamte Tinte und jede Büroklammer von ›Unipress‹ aufgekauft worden war.
Das war vor drei Jahren gewesen, und jeden Tag hatte sie auf ihre Entlassung gewartet. Aber die kam nie – keine Anweisung, keine Frage, kein Wort. Und da sie eine vernünftige Frau war, machte sie genauso weiter wie zuvor und hörte auf, sich zu wundern.
Und sie war glücklich. Es war leicht, über die ›Stimme‹ die Nase zu rümpfen. Jede Woche bot sie, demütig und ohne Fanfaren, Beweise für das Eingreifen des Herrn in das Weltgeschehen, erzählte sie in einfachen und ziemlich unwissenschaftlichen Wendungen die Frühgeschichte der Juden und versah in einer Rubrik unter einem Phantasienamen jeden, der deswegen schreiben oder danach fragen mochte, mit mütterlichem Rat. Die ›Stimme‹ befaßte sich kaum mit den rund fünfzig Millionen der Bevölkerung, die nie von ihr gehört hatten. Sie war eine Familienangelegenheit, und anstatt die zu verunglimpfen, die nicht zu ihr gehörten, tat sie lieber ihr Bestes für die, die dazugehörten. Für diese war sie gütig, optimistisch und informativ. Wenn in Indien eine Million Kinder an der Pest starben, konnte man sicher sein, daß der Leitartikel der Woche von der wunderbaren Errettung einer Methodistenfamilie in Kent aus Feuersnot berichtete. Die ›Stimme‹ beriet einen nicht, wie man die zunehmenden Fältchen um die Augen beseitigen oder die sich ausdehnende Figur kontrollieren könne; sie entmutigte einen, wenn man alt war, nicht durch ihre eigene ewige Jugend. Sie gehörte selbst zum mittleren Alter und zur Mittelklasse, sie riet den Mädchen zur Vorsicht und allen Menschen zur Nachsicht. Nonkonformismus ist die konservativste aller Gewohnheiten, und Familien, die die ›Stimme‹ 1903 abonniert hatten, abonnierten sie auch 1960 weiter.
Miss Brimley war nicht ganz das Abbild ihrer Zeitschrift. Das Kriegsgeschick und die Launen der Arbeit in der militärischen Abwehr hatten sie mit dem jüngeren Lord Landsbury zusammengebracht, und in den sechs Kriegsjahren hatten sie tüchtig und unauffällig in einem namenlosen Gebäude in Knightsbridge gearbeitet. Die Wechselfälle des Friedens machten sie beide arbeitslos, doch Landsbury war nicht nur so klug, sondern auch so großzügig, Miss Brimley einen Posten anzubieten. Die ›Stimme‹ hatte während des Krieges ihr Erscheinen eingestellt, und niemand schien erpicht darauf, sie wieder herauszugeben. Zuerst hatte Miss Brimley sich etwas beschämt gefühlt, eine Zeitschrift wiederzubeleben und herauszugeben, die in keiner Weise ihren eigenen vagen Gottesglauben ausdrückte; aber sehr bald, als die rührenden Briefe eintrafen und die Auflage sich erholte, entwickelte sie eine Zuneigung zu ihrer Arbeit – und zu ihren Lesern –, die ihre früheren Bedenken überwog. Die ›Stimme‹ war ihr Leben, und ihre Leser waren ihre Hauptbeschäftigung. Sie bemühte sich, ihre kuriosen, besorgten Fragen zu beantworten, suchte Rat von anderen, wenn sie ihn nicht selbst geben konnte, und wurde mit der Zeit unter einer Handvoll von Decknamen wenn nicht ihr Philosoph, so doch ihre Führerin, Freundin und Mädchen für alles.
Miss Brimley machte ihre Zigarette aus, räumte geistesabwesend Büroklammern, Schere und Klebstoff in die rechte obere Schublade ihres Schreibtischs und raffte die Nachmittagspost aus ihrem Eingangskörbchen zusammen, die sie, weil Donnerstag war, unberührt gelassen hatte. Darunter waren einige an Barbara Fellowship adressierte Briefe, unter welchem Namen die ›Stimme‹ seit ihrer Gründung die vielen Leserzuschriften beantwortet hatte. Sie konnten bis morgen warten. Sie hatte Freude an der »Problem-Post«, aber diese wurde am Freitagvormittag gelesen. Sie öffnete den kleinen Ablageschrank, der knapp neben ihr stand, und ließ die Briefe in einen kleinen Ablagekasten vorn im Schrank fallen. Dabei drehte einer sich um, und sie bemerkte überrascht, daß die gesiegelte Klappe mit einem eleganten blauen Delphin geprägt war. Sie nahm den Umschlag aus dem Schrank und besah ihn neugierig, ihn mehrfach umwendend. Er war aus hellgrauem Papier, ganz schwach liniiert. Teuer – vielleicht handgeschöpft. Unter dem Delphin befand sich ein winziges Schriftband, auf dem sie die Inschrift gerade noch erkennen konnte: Regem defendere, diem videre. Der Poststempel war Carne, Dorset. Das mußte das Schulwappen sein. Aber warum war ihr Carne vertraut? Miss Brimley war stolz auf ihr Gedächtnis, das ausgezeichnet war, und es ärgerte sie, wenn es sie im Stich ließ. Deshalb öffnete sie den Umschlag mit ihrem Papiermesser aus vergilbtem Elfenbein und las den Brief.
»Sehr geehrte Miss Fellowship,
ich weiß nicht, ob Sie wirklich existieren, aber das spielt keine Rolle, weil Sie immer so liebe, gütige Antworten geben. Ich habe letzten Juni über die Kuchenmischung geschrieben. Ich bin nicht verrückt, und ich weiß, daß mein Mann versucht, mich zu töten. Könnte ich wohl bitte kommen und Sie, sobald es Ihnen paßt, besuchen? Ich bin sicher, Sie werden mir glauben und erkennen, daß ich normal bin. Könnte es wohl bitte so bald wie möglich sein, ich fürchte mich so sehr vor den langen Nächten. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Ich könnte es mit Mr.Cardew im Bethaus versuchen, aber er würde mir nicht glauben, und Vater ist zu praktisch eingestellt. Ebensogut könnte ich tot sein. Irgend etwas an meinem Mann ist nicht ganz in Ordnung. Manchmal bei Nacht, wenn er glaubt, ich schlafe, liegt er jetzt da und starrt in die Dunkelheit. Ich weiß, es ist falsch, solche häßlichen Dinge zu denken und Angst im Herzen zu haben, aber ich kann es nicht ändern. Ich hoffe, Sie bekommen nicht viele Briefe wie diesen.
Hochachtungsvoll
Stella Rode (geb. Glaston)«
Einen Augenblick saß sie ganz still an ihrem Schreibtisch und betrachtete die Adresse in hübscher blauer Gravur am Kopf der Seite: »North Fields, Carne School, Dorset.« In diesem Moment des Schocks und des Staunens drängte sich ein Satz in ihr Gedächtnis: »Der Wert einer Nachricht hängt von ihrer Herkunft ab.« Das war John Landsburys Lieblingswort. Ehe man nicht die Abstammung einer Information kennt, kann man einen Bericht nicht auswerten. Ja, das pflegte er zu sagen. »Wir sind nicht demokratisch. Wir verschließen die Tür vor Nachrichtenmaterial ohne gute Abkunft.« Und sie pflegte zu antworten: »Ja, John, aber selbst die besten Familien mußten irgendwo anfangen.«
Stella Rode kam jedoch aus einer guten Familie. Miss Brimley erinnerte sich jetzt an alles. Stella war das Glaston-Mädchen. Das Mädchen, über dessen Heirat im Leitartikel berichtet worden war, das Mädchen, das das Sommerpreisausschreiben gewonnen hatte; Samuel Glastons Tochter, aus Branxome. Über die gab es eine Karte in Miss Brimleys Kartei.
Abrupt stand sie auf, den Brief noch immer in der Hand, und ging zum vorhanglosen Fenster. Unmittelbar vor ihr war ein moderner Blumenkasten aus geflochtenem Weißeisendraht. Merkwürdig, überlegte sie, daß sie es nie fertigbrachte, in diesem Blumenkasten etwas zum Wachsen zu bringen. Sie blickte zur Straße hinab, eine...