E-Book, Deutsch, 639 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
le Carré Ein blendender Spion
Version 1.V01
ISBN: 978-3-8437-0856-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 639 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0856-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
John le Carré wurde 1931 in Poole, Dorset geboren. Nach einer kurzen Zeit als Lehrkraft in Eton schloss er sich dem britischen Geheimdienst an. 1963 veröffentlichte er Der Spion, der aus der Kälte kam. Der Roman wurde ein Welterfolg und legte den Grundstein für sein Leben als Schriftsteller. Die Veröffentlichung von Tinker, Tailor, Soldier, Spy markiert den nächsten Höhepunkt seiner Karriere. Seine Figur des Gentleman-Spions George Smiley ist legendär. Nach Ende des Kalten Krieges schrieb John le Carré über große internationale Themen wie Waffenhandel, die Machenschaften der Pharmaindustrie und den Kampf gegen den Terror. Der in Deutschland hochgeschätzte Autor wurde mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet. John le Carré verstarb am 12. Dezember 2020. johnlecarre.com
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Ein schwarzer und düsterer Tag war das damals Tom, wie fast jeder Sabbat in dieser Gegend. Ich hab als Kind meinen Teil davon gesehen, und an einen sonnigen Sabbat erinnere ich mich nicht. Ich erinnere mich auch kaum an die freie Natur, außer wenn ich wie ein kindlicher Verbrecher zur Kirche geschleppt wurde. Aber ich greife vor, denn an diesem Tag war Pym noch nicht geboren. Die Zeit der Handlung liegt das ganze Leben deines Vaters plus ein halbes Dutzend Monate zurück, der Ort eine Küstenstadt, nicht sehr weit von dieser hier, nur an einem steileren Hang gelegen und mit einem dickeren Kirchturm – aber der hier tut’s auch. Ein zugiger, nasser, schicksalhafter Vormittag, wie ich wohl behaupten darf, und ich, wie gesagt, ein noch ungeborener Geist, nicht bestellt, nicht ausgetragen und gewiß nicht bezahlt: ein taubes Mikrophon, sozusagen, gepflanzt aber inaktiv in jedem außer im biologischen Sinn. Altes Laub, alte Tannennadeln und altes Konfetti kleben auf den nassen Kirchenstufen, als die bescheidene Prozession von Betern einzieht, um ihre wöchentliche Dosis von Verdammnis oder Erlösung zu empfangen, obwohl ich zwischen beidem nie besonders viel zu wählen sah. Und ich selber, ein stummer und herankeimender Spion, der unbewußt seinen ersten Auftrag erfüllt, an einem Ort, der normalerweise keine Ziele bietet.
Außer, daß heute irgend etwas in der Luft liegt. Eine Unruhe geht um, und ihr Name ist Rick. Ein unheiliger Funke, den die frommen Beter nicht ersticken können, und er kommt aus ihrem Inneren, aus dem schwelenden Zentrum ihrer dunklen kleinen Welt, und Rick ist sein Herr und sein Ursprung und sein Anstifter. Man kann es überall ablesen: am drohenden, gewichtigen Schritt des braungekleideten Diakons, am Flattern und Schnaufen der behüteten Damen, die atemlos hereinstürzen, weil sie glauben, zu spät zu kommen, und dann dasitzen und unter dem weißen Puder erröten, weil sie zu früh gekommen sind. Alles gespannt, alles auf Zehenspitzen, und eine erstklassige Sitzauslastung, wie Rick voll Stolz gesagt hätte, vermutlich sogar hat, denn er liebte ein volles Haus, was immer auf dem Programm stand, und wäre es seine eigene Hinrichtung. Ein paar von ihnen kamen im Auto – in den Wundern jener Zeit wie Lanchesters und Singers –, andere mit dem Bus und ein paar zu Fuß; und Gottes Seeregen hat ihnen in ihren billigen Fuchsstolen Frostbärte wachsen lassen, und Gottes Seewind schneidet durch den abgetragenen Stoff ihres Sonntagsstaats. Dennoch ist keiner unter ihnen, wie immer er hierher kam, der dem Wetter nicht noch eine Sekunde länger trotze, um vor dem Anschlagbrett stehenzubleiben und zu glotzen und mit eigenen Augen bestätigt zu sehen, was ihm der Buschtelegraf schon seit Tagen mitteilt. Zwei Plakate sind angeschlagen, beide vom Regen verwaschen, beide für die Passanten so fad wie kalter Tee. Doch denen, die den Code kennen, übermitteln sie ein elektrisierendes Signal. Das erste, orangerote, ist der Fünftausend Pfund Spendenaufruf des Baptistischen Frauenbundes zur Einrichtung eines Lesesaals – obwohl alle wissen, daß dort niemand je ein Buch lesen wird, daß es dort nur selbstgebackene Kuchen und Fotos von aussätzigen Kindern im Kongo geben wird. Ein Sperrholz-Thermometer, von Ricks besten Künstlern gefertigt, und am Geländer befestigt, zeigt an, daß der erste Tausender schon erreicht ist. Die zweite Bekanntmachung in grün besagt, die heutige Ansprache werde vom Gemeindepfarrer gehalten, jedermann sei willkommen. Aber diese Information war berichtigt worden. Eine förmliche Verlautbarung ist darübergeklebt, ganz in unheilverkündenden Großbuchstaben getippt, wie ein amtlicher Aushang:
AUFGRUND UNVORHERGESEHENER UMSTÄNDE WIRD SIR MAKEPEACE WATERMASTER, FRIEDENSRICHTER UND LIBERALER PARLAMENTSABGEORDNETER DIESES WAHLKREISES, DIE HEUTIGE BOTSCHAFT VERKÜNDEN. DAS SPENDEN-KOMITEE WIRD GEBETEN, ANSCHLIEßEND ZU EINER AUßERORDENTLICHEN VERSAMMLUNG ZU BLEIBEN.
Makepeace Watermaster persönlich? Und sie wissen, warum. In einem anderen Land sammelt Hitler seine Kräfte, um die Welt in Brand zu stecken, in Amerika und Europa breiten sich die Drangsale der Depression wie eine unheilbare Seuche aus, und Jack Brotherhoods Vorgänger schüren sie oder nicht, je nach der Tages-Doktrin, die in den abgelegeneren Korridoren Whitehalls gilt. Doch die Gemeinde erdreistet sich nicht, über diese Aspekte von Gottes unerforschlichem Ratschluß eigene Meinungen zu hegen. Sie sind Kinder der Nonkonformistischen Kirche, und ihr zeitlicher Oberhirte ist Sir Makepeace Watermaster, der größte Prediger und Liberale, der je geboren ward, und einer der Höchsten im Land, der ihnen aus eigener Tasche dieses Haus erbaut hat. Hat er natürlich nicht. Sein Vater Goodman hat es erbaut, aber seit Makepeace seinen Titel ergatterte, vergißt er geflissentlich, daß es seinen Vater je gab. Der alte Goodman war Waliser, ein predigender, singender, verwitweter, elender Töpfer mit zwei Kindern, fünfundzwanzig Jahre im Alter auseinander, von denen Makepeace das ältere ist. Goodman kam hierher, nahm Lehmproben, schnupperte die Seeluft und errichtete eine Tonwarenfabrik. Ein paar Jahre danach baute er zwei weitere Fabriken und importierte billige Arbeitskräfte, zuerst arme Waliser wie er und später noch billigere und noch ärmere verfolgte Iren. Goodman ließ sie in seinen werkseigenen Cottages wohnen, an seinen Hungerlöhnen fast krepieren und bläute ihnen von seiner Kanzel aus die Furcht vor der Hölle ein, ehe er selber ins Paradies abberufen wurde, wie sein bescheidenes zweitausend Meter hohes Denkmal bezeugt, das bis vor ein paar Jahren im Vorhof der Fabrik stand, ehe der ganze Komplex abgerissen wurde, um für eine Bungalow-Siedlung Platz zu machen, kein Verlust.
Und heute steigt AUFGRUND UNVORHERGESEHENER UMSTÄNDE unser Makepeace, Goodmans einziger Sohn, von seiner hohen Warte herab – obwohl die Umstände von jedem außer ihm vorhergesehen wurden, so mit Händen zu greifen sind wie die Kirchenbänke, in denen wir warten, so unverrückbar wie die Watermaster-Fliesen, an denen die Bänke festgeschraubt sind, so schicksalsträchtig wie die mißtönende Glocke, die in ihrem Turm nach jedem Schlag ächzt und quiekt wie eine sterbende Sau, die sich gegen das gräßliche Ende wehrt. Stell dir vor, wie trübselig alles war: die jungen niedergehalten und angeödet, alles verboten, was sie erregte und interessierte – von den Sonntagszeitungen bis zum Papismus, von der Psychologie bis zu den Künsten, von dünner Unterwäsche bis zu gehobener und zu gedrückter Stimmung, von Lieben bis Lachen und wieder zurück, ich glaube nicht, daß es einen Winkel des Mensch-lichen gab, in den die Mißbilligung nicht reichte. Denn wenn du diese Trübseligkeit nicht begreifst, dann begreifst du die Welt nicht, aus der Rick fortstrebte, oder die Welt, der er zustrebte, oder den kitzelnden Reiz, der an diesem dunklen Sabbat wie ein Floh in jeder demütigen Menschenbrust kribbelt und juckt, während die letzten Glockentöne sich mit dem Trommeln des Regens mischen und das erste große Gerichtsverfahren in Ricks jungem Leben beginnt. »Rick Pym hat sich endlich den Strick gedreht«, heißt es. Und könnte ein furchtbarerer Henker als Makepeace persönlich, der Höchste im Land, Friedensrichter und liberaler Abgeordneter, ihm die Schlinge um den Hals legen?
Mit dem letzten Ton der Glocke verstummen auch die Klänge des Orgelsolos. Die Gemeinde hält den Atem an und beginnt, bis hundert zu zählen, während sie ihre Lieblingsschauspieler aufs Korn nimmt. Die beiden Damen Watermaster sind früh erschienen. Sie sitzen Schulter an Schulter in der Honoratiorenbank direkt unter der Kanzel. An fast jedem anderen Sonntag würde Makepeace dort zwischen ihnen thronen, mit seinen ganzen einsneunzig, den langen Kopf seitwärts geneigt, und mit seinen feuchten kleinen rosigen Ohren dem Orgelsolo lauschen. Aber nicht heute, denn heute ist ein Sonderfall, heute ist Makepeace in den Kulissen und konferiert mit unserem Pfarrer und ein paar besorgten Treuhändern des Spenden-Fonds.
Mrs. Makepeace, genannt Lady Nell, ist noch keine fünfzig, aber schon bucklig und verschrumpelt wie eine Hexe, und hat die Gewohnheit, unversehens den ergrauenden Kopf herumzuwerfen, als wehre sie Fliegen ab. Und an ihrer Seite – eine winzige ernste Statue neben Nells Ruckeln und Stumpfsinn – sitzt Dorothy, genannt Dot, eine untadelige Handvoll Dame, jung genug, Nells Tochter und nicht Makepeaces Schwester zu sein – und sie betet, betet zu ihrem Schöpfer, sie preßt die winzigen verkrampften Fäuste auf die Augen, während sie Ihm ihr Leben und ihren Tod zu weihen gelobt, wenn Er sie nur erhört und alles wieder zum Guten lenkt. Baptisten knien nicht vor Gott, Tom. Sie kauern. Aber meine Dorothy hätte sich flach auf die Watermasterschen Bodenfliesen geworfen und an jenem Tag die große Zehe des Papstes geküßt, wenn Gott sie noch einmal hätte davonkommen lassen.
***
Ich habe ein einziges Foto von ihr, und es gab Zeiten – obwohl sie für mich, das schwöre ich, nicht mehr tot ist –, da hätte ich meine Seele für ein zweites gegeben. Ich fand es in einer alten zerlesenen Bibel, als ich in Toms Alter war, in einem Vorstadthaus, das wir in großer Hast räumten. »Für Dorothy in aller erdenklichen Liebe, Makepeace«, lautete die Widmung auf der Innenseite der Bibel. Eins auf der ganzen Welt. Ein sepiabraunes fleckiges Foto ist alles, wie zur Rast auf einer Flucht steigt sie aus dem Taxi, Zulassungsnummer nicht im Bild; sie umklammert ein selbstgebundenes Sträußchen aus kleinen Blumen, Feldblumen vielleicht, und aus ihren großen Augen blickt mehr als unserem Seelenfrieden...