le Carré | Der wachsame Träumer | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

le Carré Der wachsame Träumer


Version 1.V01
ISBN: 978-3-8437-0843-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-0843-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Alle Romane von John le Carré jetzt als E-Book! - Mit 'Der wachsame Träumer' verlässt John le Carré die Welt des Spionageromans und erzählt ein großes Abenteuer des Lebens und des Liebens: In der Hoffnung, endlich das Glück zu finden, löst sich ein Mann aus allen Sicherheiten seiner bisherigen Existenz - eine Entscheidung, die nicht nur für ihn dramatische Folgen hat. »Eine grandiose Satire« FAZ Große TV-Doku 'Der Taubentunnel' ab 20. Oktober 2023 auf Apple TV+

John le Carré wurde 1931 in Poole, Dorset geboren. Nach einer kurzen Zeit als Lehrkraft in Eton schloss er sich dem britischen Geheimdienst an. 1963 veröffentlichte er Der Spion, der aus der Kälte kam. Der Roman wurde ein Welterfolg und legte den Grundstein für sein Leben als Schriftsteller. Die Veröffentlichung von Tinker, Tailor, Soldier, Spy markiert den nächsten Höhepunkt seiner Karriere. Seine Figur des Gentleman-Spions George Smiley ist legendär. Nach Ende des Kalten Krieges schrieb John le Carré über große internationale Themen wie Waffenhandel, die Machenschaften der Pharmaindustrie und den Kampf gegen den Terror. Der in Deutschland hochgeschätzte Autor wurde mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet. John le Carré verstarb am 12. Dezember 2020. johnlecarre.com
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HAVERDOWN


1


Cassidy fuhr wohlgemut durch den abendlichen Sonnenschein, sein Gesicht war so nah an der Windschutzscheibe, wie der Sicherheitsgurt es zuließ, der Fuß wechselte rastlos zwischen Gaspedal und Bremse, der Blick spähte die schmale Straße entlang nach verborgenen Gefahren. Auf dem Nebensitz lag, säuberlich in einer Plastikhülle verwahrt, eine Generalstabskarte von Mittel-Somerset. Ein Ölbasis-Kompaß neuesten Typs war mittels einer Saugvorrichtung am Walnußpaneel befestigt. In einer Ecke der Windschutzscheibe, gerade noch innerhalb seines Blickfeldes, steckte ein Exemplar des Angebots der Maklerfirma mit dem klingenden Briefkopf Firma Grimble & Outhwaite, Mount Street W., in einer von Cassidy selber erfundenen Aluminium-Halterung. Er fuhr, wie immer, mit größter Konzentration, und von Zeit zu Zeit summte er mit der verschämten Treuherzigkeit vor sich hin, die unmusikalischen Personen zu eigen ist.

Er fuhr jetzt über ein Moor. Dünner Bodennebel zog über Gräben und Weidenbäume, glitt in kleinen Schwaden über die funkelnde Kühlerhaube seines Wagens, doch der Himmel über ihm war hell und wolkenlos, und die Frühlingssonne verwandelte die nahenden Hügel in Smaragde. Durch einen Hebeldruck ließ er das elektrisch gesteuerte Fenster herab und lehnte die eine Kopfhälfte in den Luftstrom. Sofort stieg ihm kräftiger Torf- und Silogeruch in die Nase. Über das beflissene Schnurren des Motors hinweg hörte er Geräusche von weidenden Herden und den Ruf eines Hirten, der seine Tiere freundschaftlich schmähte.

»Eine Idylle«, erklärte er laut. »Eine perfekte Idylle.« Mehr als das, es war eine sichere Idylle, denn in der ganzen schönen weiten Welt war Aldo Cassidy der einzige Mensch, der wußte, wo Aldo Cassidy sich aufhielt.

Jenseits seines akustischen Bewußtseins antwortete in einer abgeschlossenen Kammer seiner Erinnerung ein Echo auf die unbeholfenen Akkorde eines angehenden Pianisten. Sandra, Aldos Ehefrau, pflegt ihre künstlerischen Ambitionen.

»Gute Nachricht aus Bristol«, sagte Cassidy in die Musik hinein. »Sie haben vielleicht ein passendes Grundstück für uns. Wir werden es natürlich erst planieren lassen müssen.«

»Gut«, sagte Sandra und korrigierte sorgfältig ihre Handhaltung über den Tasten.

»Liegt eine Viertelmeile von der größten Grundschule und sechshundert Meter von der höheren Schule entfernt. Die Gemeinde sagt, wenn wir die Planierung übernehmen und die Umkleidekabinen stiften, würden sie höchstwahrscheinlich einen Fußgängerübergang über die Umgehungsstraße errichten.«

Sie spielte einen abgerissenen Akkord.

»Hoffentlich keinen häßlichen, Aldo. Stadtplanung ist etwas unendlich Wichtiges, Aldo.«

»Ich weiß.«

»Kann ich mitkommen?«

»Du hast doch deine Anstalt«, erinnerte er sie mit einem Versuch zur Strenge.

Ein weiterer Akkord.

»Ja. Ja, ich habe meine Anstalt«, pflichtete sie bei, und ihre Stimme trällerte leicht kontrapunktisch. »Also mußt du allein hin, nicht wahr? Armer Pailthorpe.«

Sie hatte ihm den Namen Pailthorpe gegeben, es war ihm entfallen, warum. Pailthorpe der Bär, vermutlich; ihre Fauna beschränkte sich vorwiegend auf Bären.

»Tut mir leid«, sagte Cassidy.

»Du kannst ja nichts dafür«, sagte Sandra. »Es hängt vom Bürgermeister ab, nicht wahr?«

»Vom bösen Bürgermeister«, sagte Cassidy. »Sie sollten ihn absägen.«

»Absägen, absägen«, sagte Sandra vergnügt und versuchte, die Schatten aus ihrem Gesicht zu verscheuchen.

Er war blond, achtunddreißig und in entsprechendem Licht betrachtet ein gutaussehender Mann. Wie sein Wagen war er mit liebevoller Eleganz ausstaffiert. Vom linken Reversknopfloch bis zur Brusttasche seines tadellosen Jacketts zog sich eine dünne Goldkette, die offensichtlich einem bestimmten, jedoch nicht bestimmbaren Zweck diente. Ästhetisch harmonierte sie vollendet mit dem dezenten Nadelstreifen des darunterliegenden Stoffes; als Teil der Takelage verband sie den Kopf des Mannes mit dem Herzen, wobei offenblieb, welchem Ende der Vorrang gebührte. In Bau und Aussehen hätte er als architektonischer Prototyp des gutbürgerlichen Engländers dienen können, der zwischen den beiden Weltkriegen eine Privatschul-Erziehung genossen hatte; der gerade noch den Pulvergeruch, nie aber den Kugelregen kennenlernte. Er war gedrungen, kurzbeinig, ganz auf Landjunker angelegt, und die knabenhaft trotzigen Züge, die zugleich reif und zurückgeblieben wirkten, ließen noch immer einen Rest von Hoffnung zu, daß der Herr Papa für die Vergnügungen des Herrn Sohnes aufkommen werde. Nicht daß er weibisch gewirkt hätte. Zugegeben, der Mund schob sich deutlich aus dem Gesicht vor, und die Unterlippe war besonders ausgeprägt. Zugegeben auch, daß er sich beim Fahren gewisse Manieriertheiten erlaubte, die in die weibliche Richtung wiesen, zum Beispiel eine Haarsträhne aus der Stirn streichen oder den Kopf zurücklehnen und die Augen schließen, als hätte ein Migräneanfall einen brillanten Gedankengang jäh unterbrochen. Doch wenn diese Mätzchen überhaupt etwas bedeuteten, so spiegelten sie eine sympathische Empfindlichkeit gegenüber einer Welt, die gelegentlich zu schrill für ihn war, ein ebenso väterliches wie kindliches Einfühlungsvermögen und nicht irgendwelche unerfreulichen Neigungen, die aus der Internatszeit übriggeblieben waren.

Spesenlokale kannte er sichtlich nicht nur von außen. Eine schwer abzuschätzende Fülligkeit zeigte sich an der Gürtellinie (er hatte zur größeren Sicherheit und Bequemlichkeit den obersten Hosenknopf geöffnet) und zwischen den weißen Manschetten, die seine Hände von jeglicher manuellen Tätigkeit ausschlossen; Nacken und Teint strahlten bereits jenen glatten und satten Glanz aus, fast eine Politur, eher flambé als sonnenverbrannt, wie ihn nur Ballongläser, Rechauds und der Rauch von crêpes suzettes naturgetreu wiederzugeben vermögen. Trotz dieses evidenten körperlichen Wohlbefindens oder vielleicht als Ausgleich dazu besaß der äußere Cassidy auf rätselhafte Weise die geradezu gebieterische Fähigkeit, andere aufzuscheuchen. Obgleich er nicht im geringsten hilflos wirkte, hatte er etwas an sich, das Aufmerksamkeit erregte und Beistand heischte. Irgendwie vermochte er die Überzeugung zu wecken, daß die wuchernden Pfunde noch nicht die Macht des Geistes erdrückt hatten.

Als hätte auch der Wagen die Beschützerrolle akzeptiert, die Cassidy unbewußt seiner Umgebung aufdrängte, war das Innere mit zahlreichen wichtigen Extras ausgestattet, die ihm die verhängnisvollen Folgen eines Zusammenstoßes ersparen sollten. Nicht nur, daß Wände, Dach und Türen üppig mit mehreren Schichten Steppbezug ausgekleidet waren; das Steuerrad, die ohnehin tief in köstlichen Filzmulden versenkten Türgriffe mit Sicherungsklinke, das Handschuhfach, die Handbremse, sogar der diskret verborgene Feuerlöscher, alles war noch eigens in handgestepptes Leder verpackt und mit einer molligen fleischartigen Masse gepolstert, die auch den härtesten Aufprall zu einem bloßen Streicheln dämpfen mußte. Am Rückfenster hing ein elektrisch zu bedienendes und mit kleinen Seidenpompons gesäumtes Rollo, jederzeit bereit, den Nacken des braven Mannes vor einer übereifrigen Sonne oder seine Augen vor der Blendung durch fremde Scheinwerfer zu schützen. Und das Armaturenbrett war eine wahre Reiseapotheke voll technischer Vorbeugungsmittel: von Signal-Lampen bis zum Glatteis-Detektor, von der Reservebatterie bis zum Reserve-Ölvorrat, vom Safari-Tank bis zu einem zusätzlichen Kühlungssystem fanden sich dort Schalter zur Verhütung jeglicher der Natur und den einschlägigen Firmen bekannten Katastrophe. In Cassidys Wagen fuhr man nicht, man wurde getragen; wie in einem Mutterleib, aus dessen gepolsterter, geglätteter Höhlung der Insasse erst noch seinen Weg in eine härtere Welt würde antreten müssen.

»Wie weit ist’s noch bis Haverdown, bitte?«

»Was?«

»Haverdown.« Sollte er es buchstabieren? Höchstwahrscheinlich war der Bursche Analphabet. »Haverdown. Das große Haus. Das Gut.«

Der blöde Mund öffnete sich, schloß sich teilweise, als er lautlos den Namen nachformte; ein schmutziger Arm wies nach dem Hügel. »Geradeaus rauf und drüben runter.«

»Und wie weit noch, so ungefähr?« fragte Cassidy laut, als spräche er zu einem Schwerhörigen.

»Keine fünf Minuten nicht mehr, in dem da.«

»Tausend Dank. Mach’s gut, mein Sohn.«

Im Spiegel starrte ihm das braune Gesicht des Dorfdeppen mit einem Ausdruck komischer Ungläubigkeit nach, bis er außer Sicht war. Nun, dachte Cassidy, heute hat der Junge ein Stück von der Welt gesehen, und von den zwei Shilling wird er sich nicht betrinken. Alles Lebende schien aufgeboten, um an seiner Durchreise Anteil zu nehmen. In Bauerngärtchen ließen umhertollende Kinder ihre uralten Spiele sein und drehten sich um, um ihn anzuglotzen, als er vorüberglitt. Wie pastoral, dachte er; wie ursprünglich, wie vital. Aus Bäumen und Hecken brachen mit jahreszeitlich bedingter Kraft Knospen in verschiedenen Grüntönen, während sich auf den Feldern wilde Narzissen mit anderen Blumen mischten, die er nicht identifizieren konnte. Er verließ das Dorf und fuhr hügelan. Der steile Hang wich sanft abfallenden lichten Wäldern. Unter ihm entschwanden Gehöfte, Felder, Kirchen und Flüsse am fernen Horizont. Von solch reizender Aussicht besänftigt, gab er sich dem Nachsinnen über sein Streben hin.

»Streben wonach?« quengelte eine Stimme in seinem Innern. »Ein Hinstreben oder ein Wegstreben?«

Mit einer lässigen Bewegung des Kopfes schüttelte Cassidy...


le Carré, John
John le Carré, 1931 geboren, schrieb über sechs Jahrzehnte lang Romane, die unsere Epoche ausloten. Als Sohn eines Hochstaplers verbrachte er seine Kindheit zwischen Internat und Londoner Unterwelt. Mit sechzehn ging er an die Universität Bern (Schweiz), später dann nach Oxford. Nach einer kurzen Zeit als Lehrkraft in Eton schloss er sich dem britischen Geheimdienst an. Während seiner Dienstzeit veröffentlichte er 1961 seinen Erstlingsroman Schatten von Gestern. Der Spion, der aus der Kälte kam, sein dritter Roman, brachte ihm weltweite Anerkennung ein, die sich durch den Erfolg seiner Trilogie Dame, König, As, Spion, Eine Art Held und Agent in eigener Sache festigte. Nach dem Ende des Kalten Krieges weitete le Carré sein Themenspektrum auf eine internationale Landschaft aus, die den Waffenhandel ebenso umfasste wie den Kampf gegen den Terrorismus. Seine Autobiografie Der Taubentunnel erschien 2016, Das Vermächtnis der Spione, der abschließende Roman um George Smiley, 2017. John le Carré verstarb am 12. Dezember 2020.

John le Carré, 1931 geboren, studierte in Bern und Oxford. Er war Lehrer in Eton und arbeitete während des Kalten Kriegs kurze Zeit für den britischen Geheimdienst. Seit nunmehr fünfzig Jahren ist das Schreiben sein Beruf. Er lebt in London und Cornwall.



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