E-Book, Deutsch, 431 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
le Carré Das Rußlandhaus
Version 1.V01
ISBN: 978-3-8437-0854-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 431 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0854-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
John le Carré wurde 1931 in Poole, Dorset geboren. Nach einer kurzen Zeit als Lehrkraft in Eton schloss er sich dem britischen Geheimdienst an. 1963 veröffentlichte er Der Spion, der aus der Kälte kam. Der Roman wurde ein Welterfolg und legte den Grundstein für sein Leben als Schriftsteller. Die Veröffentlichung von Tinker, Tailor, Soldier, Spy markiert den nächsten Höhepunkt seiner Karriere. Seine Figur des Gentleman-Spions George Smiley ist legendär. Nach Ende des Kalten Krieges schrieb John le Carré über große internationale Themen wie Waffenhandel, die Machenschaften der Pharmaindustrie und den Kampf gegen den Terror. Der in Deutschland hochgeschätzte Autor wurde mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet. John le Carré verstarb am 12. Dezember 2020. johnlecarre.com
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2
Ganz Whitehall war sich einig, daß keine Geschichte jemals wieder so beginnen dürfe. Unterrichtete Minister gerieten in Harnisch. Sie setzten einen furchtbar geheimen Untersuchungsausschuß ein, der ermitteln sollte, was da falsch gelaufen war: Zeugen sollten vernommen, Namen genannt, niemand verschont, Schwachstellen aufgezeigt, Lücken geschlossen, einer Wiederholung vorgebeugt, ich zum Vorsitzenden ernannt und ein Bericht entworfen werden. Ob und zu welchen Schlüssen unser Ausschuß kam, bleibt das höchste Geheimnis aller, besonders der Ausschußmitglieder. Denn wie wir alle wissen, besteht die Funktion solcher Ausschüsse darin, mit großem Ernst daherzureden, bis der Staub sich gelegt hat, und sich dann selbst wieder in Staub aufzulösen. Und genau das tat auch unser Ausschuß vorschriftsmäßig, wie die verstimmte Cheshire Cat in Alices Wunderland; wir hinterließen nichts als unser furchtbar geheimes Stirnrunzeln, einen bedeutungslosen Zwischenbericht und einen Haufen geheimer Anhänge dazu in den Archiven des Schatzministeriums.
Gleich am Anfang wurde, um mich der weniger rücksichtsvollen Ausdrucksweise von Ned und seinen Kollegen im Rußlandhaus zu bedienen, ein ganz gewaltiger Scheiß gebaut, als zwischen fünf und halb neun an einem warmen Sonntagabend ein gewisser Nicholas P. Landau, Handelsvertreter und Steuerzahler in guten Verhältnissen, polnischer Abstammung, aber unbescholten, am Eingang von nicht weniger als vier verschiedenen Ministerien in Whitehall vorsprach und um ein dringendes Gespräch mit einem Beamten der, wie er sich auszudrücken beliebte, britischen Geheimdienstbranche ersuchte, nur um ausgelacht, abgewimmelt und in einem Fall physisch mißhandelt zu werden. Ob die beiden Aushilfspförtner des Verteidigungsministeriums allerdings so weit gingen, Landau an Kragen und Hosenboden zu packen, wie er behauptete, und so vor die Tür schleppten, oder ob sie ihm, wie sie es formulierten, bloß auf die Straße zurückhalfen, ist eine Frage, in der wir keine Übereinstimmung erzielen konnten.
Aber wieso, fragte unser Ausschuß streng, fühlten sich die beiden Pförtner überhaupt verpflichtet, ihm diese Hilfe angedeihen zu lassen?
Mr. Landau verweigerte uns einen Blick in seine Aktentasche, Sir. Ja, er bot an, wir könnten die Tasche in Verwahrung nehmen, während er wartete, vorausgesetzt, er behielt so lange den Schlüssel, Sir. Aber das war gegen die Vorschrift. Und, ja, er schüttelte sie vor unseren Augen, klopfte sie ab, schaukelte sie hin und her, offenbar, um uns zu demonstrieren, daß nichts darin sei, wovor wir Angst zu haben brauchten. Aber auch das war gegen die Vorschrift. Und als wir versuchten, ihm besagte Aktentasche mit einem Minimum an Gewalt abzunehmen, widersetzte sich dieser Gentleman – wozu Landau während ihrer Aussage verspätet geworden war – unseren Bemühungen, Sir, und begann laut und ruhestörend mit ausländischem Akzent herumzubrüllen.
Aber was brüllte er denn? fragten wir, entsetzt von der Vorstellung, daß jemand an einem Sonntag in Whitehall herumbrüllte.
Nun, Sir, soweit wir ihn in seinem erregten Zustand verstehen konnten, schrie er, diese seine Aktentasche enthalte hochgeheime Papiere, Sir. Die ihm von einem Russen anvertraut worden seien, Sir, in Moskau.
War doch bloß ein wildgewordener kleiner Pole, Sir, hätten sie noch hinzufügen können. An einem warmen Kricket-Sonntag in London, Sir, und wir sahen im Hinterzimmer das Wiederholungsspiel der Pakistanis gegen Botham.
Selbst im Außenministerium, diesem eiskalten Herd der offiziellen britischen Gastfreundlichkeit, wo der verzweifelte Landau endlich und höchst widerstrebend vorstellig wurde, gelang es ihm nur mit Hilfe von flehentlichen Appellen und einigen waschechten Slawentränen, das exklusive Gehör des Ehrenwerten Palmer Wellow zu finden, Verfasser einer anspruchsvollen Liszt-Monographie.
Und ohne eine neue Taktik hätten Landau wohl auch die Slawentränen nichts geholfen. Denn diesmal stellte er die Aktentasche offen auf den Schalter, so daß der Pförtner, ein junger, aber skeptischer Mann, seinen Pomadenkopf an das kürzlich installierte Panzerglas recken, mißmutig einen trägen Blick hineinwerfen und sich selbst davon überzeugen konnte, daß sie keine Bomben, sondern lediglich ein Bündel schmutziger alter Notizbücher und einen braunen Umschlag enthielt.
»Kommen-Sie-Montag-um-zehn-vor-fünf-wieder«, sagte der Pförtner über den wunderbar neuen Lautsprecher, als riefe er eine walisische Bahnstation aus, und verschwand wieder im Dunkel seiner Loge.
Das Tor stand halb offen. Landau sah den jungen Mann an, sah an ihm vorbei und erblickte die große Säulenhalle, die man vor hundert Jahren gebaut hatte, um die aufsässigen Radschas einzuschüchtern. Und schon hatte er seine Tasche geschnappt und wetzte, sämtliche scheinbar undurchdringlichen, zur Abwehr genau solcher Attacken errichteten Verteidigungsanlagen überwindend, mit einem Affenzahn – »wie ein verflixter Springbock, Sir« – über den geheiligten Hof und die Treppe zu der gewaltigen Vorhalle hinauf. Und er hatte Glück. Palmer Wellow, was immer er sonst sein mochte, gehörte zur Beschwichtigungsabteilung des Außenministeriums. Und Palmer hatte an diesem Tag Dienst.
»Hallo, hallo«, brummte Palmer, als er die breite Treppe hinunterkam und Landaus zerzauste Gestalt zwischen zwei kräftigen Sicherheitsbeamten keuchen sah. »Sie sind ja ganz schön aufgelöst. Mein Name ist Wellow. Ich bin der Sekretär vom Dienst.« Er hielt die linke Faust an seiner Schulter, als ob er Hunde verabscheute. Aber seine rechte Hand war zur Begrüßung vorgestreckt.
»Ich will keinen Sekretär«, sagte Landau. »Sondern einen hohen Beamten oder gar nichts.«
»Ein Sekretär ist schon ziemlich hoch«, versicherte ihm Palmer bescheiden. »Sie lassen sich von dem Ausdruck irritieren.«
Es wurde zu Recht vermerkt – auch von unserem Ausschuß –, daß an Palmer Wellows Aufführung bis dahin nichts auszusetzen war. Er war drollig, aber effektvoll. Er machte keinen falschen Schritt mit seinen gewichsten Schuhen. Er führte Landau in ein Besucherzimmer und bat ihn sehr höflich, Platz zu nehmen. Er bestellte ihm auf den Schrecken eine Tasse Tee mit Zucker und bot ihm einen Keks an. Mit einem teuren Füllfederhalter, dem Geschenk eines Freundes, notierte er sich Landaus Namen und Adresse und die der Firmen, die seine Dienste in Anspruch nahmen. Des weiteren die Nummer von Landaus britischem Paß sowie Ort und Jahr seiner Geburt, Warschau 1930. Er erklärte mit entwaffnender Aufrichtigkeit, daß er mit Geheimdienstsachen nichts zu tun habe, nahm es aber auf sich, Landaus Material an »kompetente Leute« weiterzuleiten, die ihm zweifellos die verdiente Aufmerksamkeit zuteil werden lassen würden. Und da Landau wiederholt darauf bestand, improvisierte er auf einem blauen Bogen Konzeptpapier des Außenministeriums eine Quittung für ihn, unterzeichnete sie und ließ den Pförtner Zeit und Datum dazustempeln. Er sagte ihm, falls noch etwas zu besprechen wäre, würden sich die zuständigen Stellen sehr wahrscheinlich, wohl per Telefon, mit ihm in Verbindung setzen.
Jetzt erst reichte Landau sein schmuddeliges Päckchen über den Tisch und sah es mit anhaltendem Bedauern in Palmers träger Hand verschwinden.
»Aber warum geben Sie es nicht einfach Mr. Scott Blair?« fragte Palmer, nachdem er den Namen auf dem Umschlag studiert hatte.
»Herrgott, ich hab’s ja versucht!« platzte Landau in erneuter Verzweiflung heraus. »Wie gesagt. Ich habe überall nach ihm telefoniert. Ich habe nach ihm rumtelefoniert, bis ich ganz blau im Gesicht war, das sag ich Ihnen. Er ist nicht zu Hause, er ist nicht in seiner Firma, er ist nicht in seinem Club, er ist nicht nirgendwo«, beteuerte Landau, dem in seiner Frustration die Grammatik durcheinandergeriet. »Ich hab’s vom Flughafen aus versucht. Naja, an einem Samstag.«
»Aber heute ist Sonntag«, wandte Palmer mit nachsichtigem Lächeln ein.
»Also war gestern Samstag, oder? Ich versuch’s bei seiner Firma. Bloß ein elektronischer Pfeifton. Ich seh ins Telefonbuch. In Hammersmith gibt’s einen. Nicht komplett, aber immerhin einen Scott Blair. Meldet sich eine wütende Lady und sagt, ich soll mich zum Teufel scheren. Ich kenne einen Vertreter, Archie Parr, bereist für ihn Westengland. Ich frage Archie: ›Archie, um Himmels willen, wie komm ich schnell an Barley ran?‹ – ›Der ist getürmt, Niki. Wieder mal verduftet. Ist seit Wochen nicht mehr im Laden gesichtet worden.‹ Ich versuch’s mit der Auskunft. London, die Home Counties. Kein Bartholomew verzeichnet. Wäre ja auch seltsam, wenn er wirklich ein –«
»Wenn er ein was?« sagte Palmer interessiert.
»Sehen Sie, er ist verschwunden, ja? Er ist auch früher schon mal verschwunden. Dafür könnte es doch Gründe geben. Gründe, von denen Sie nichts wissen, weil Sie dazu nicht befugt sind. Könnte sein, daß Menschenleben auf dem Spiel stehen. Und nicht nur seins. Es ist absolut dringend, hat sie mir gesagt. Und streng geheim. Nun machen Sie schon. Bitte.«
Am selben Abend – abgesehen von einer langweiligen Krise am Golf und einem elenden Fernsehskandal über Geld und Soldaten in Washington war es ziemlich still an der Weltfront – ging Palmer zu einer ganz netten Party am Montpellier Place, die von einer Gruppe ehemaliger Mitstudenten in Cambridge veranstaltet wurde – Junggesellen wie er selbst, aber recht lustig. Auch davon bekam unser Ausschuß zu hören.
»Kennt übrigens einer von euch einen gewissen Scott Blair?« fragte Wellow sie zu später Stunde, als Landau ihm, während er ein paar Takte Chopin auf dem Klavier spielte, zufällig wieder ins Gedächtnis kam. »Hatten wir damals...