E-Book, Deutsch, 108 Seiten
Lazar Die Vergiftung
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7557-1934-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 108 Seiten
ISBN: 978-3-7557-1934-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Maria Lazar: Die Vergiftung - Neu lektorierte 2021er Ausgabe / Ruth, eine junge Frau Anfang 20, rebelliert gegen das verstaubte Spießertum der großbürgerlichen Gesellschaft in Wien kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der Zorn äußert sich im expressionistisch drängenden Staccato des mitreißenden Textes von Maria Lazar, die ihn im Alter von nur 20 Jahren zu Papier brachte. - Die fiktive Ruth, die reale Maria, sie schreien ihre Wut heraus. Gegen die tyrannische Mutter, die verkommene Verwandtschaft, den ignoranten älteren Liebhaber, der, wie sie herausfindet, vor langen Jahren eine Affäre mit ihrer Mutter hatte und ihr Vater sein könnte. Alle haben sie, saturiert und träge, ohne Ansporn, ihr Leben vergeudet - so sieht es Ruth. Sie ist Rebellin, ein Punk aus gutem Hause. »Und unter dem Bett lag, staubdick geschichtet, wehrlose Wut.« © Redaktion AuraBooks, 2021
Maria Lazar (1895-1948) war zu ihrer Zeit keine Unbekannte, im Gegenteil schon früh vernetzt in Künstlerkreisen. Befreundet mit Helene Weigel, bekannt mit Elias Canetti, Adolf Loos, Egon Friedell. Portraitiert von Oskar Kokoschka, rezensiert von Thomas Mann und Robert Musil - und dennoch bis vor wenigen Jahren so gründlich vergessen, wie kaum eine andere Schriftstellerin der 20er und 30er Jahre. Geschuldet dürfte dies wohl auch der männlich dominierten Literaturkritik in der frühen Bundesrepublik sein. - Dieser Roman ist die Wiederentdeckung der letzten zehn Jahre, in einer berauschenden, radikalen Sprache von heute. Kaum zu glauben, dass dies Werk einer Zwanzigjährigen vor rund einhundert Jahren erschienen ist.
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Mittagessen
BEVOR MAN ZU TISCH GING, rückte Mutter alle Teller noch einmal zurecht und die Stühle mit den ledergepressten Lehnen. Dann stand alles schief. Ruth hasste unaufgeräumte Zimmer. Wie schmutziges Wasser, Ungeziefer, weggeworfene Zahnstocher. Ihr war jeden Morgen übel. Sie konnte nie das Frühstück essen. Immer empfand sie eine dumpfe Verantwortung in sich: mach’ es gut, mach’ es rein, mach’ es hell. Aber der Widerwille ihrer braunen Kinderfinger, die sich weiche Öle wünschten, hinderte sie an jedem Handgriff. Wenn das Mädchen dann aufgeräumt hatte, fand sie alles kalt, leer und fremd. Mutter sagte: – Warum hilfst du nie mit? – Sie gab mit ihren ungemessenen Bewegungen der Wohnung ›den letzten Anstrich‹, wie sie es nannte. Und dann – nun dann stand eben alles schief. Aus den Dingen heraus kroch eine seltsame verborgene Unruhe. Alle Ecken wurden zu lang, Ruths Gestalt zu schmal, zu knochig in den hohen Räumen – tastend und auch schon verzeichnet. Wie hatte Onkel Gustav gesagt: – nimm dich in Acht! Vor wem, vor Mutter – vor Onkel Gustav – dunklen Zimmern – dämmernden Spätsommergärten – vor ihrem eigenen flüchtenden Spiegelbild – vor wem? Was war geschehen? Mutter rückte heute die Teller zurecht. Die große Speisezimmeruhr, mit ihrem lichtmetallisch harten Klang streckte den langen Zeiger auf fünf bis vier Minuten vor Eins. Also genau wie immer. Sie, Ruth, stand beim Fenster, die Zeitung in der Hand, die sie doch nie las – genau wie immer. Kann man denn da gar nichts machen? Die breite, bürgerlich grüne Hängelampe zerschlagen, etwas in sie hineinwerfen. Am liebsten die eigene lebendige Faust. Oder die dummen Suppenlöffel neben den geduldigen Suppentellern. Etwas machen, das hineinfährt, wie ein Blitz, wie ein Schrecken, wie eine Erlösung in dieses Wie-immer. Und sie hatte es ja nie gewusst. Sie saß dort an dem großen Familientisch, immer an demselben Platz. Viele Jahre hindurch. Und war klein und zart und viel zu jung – ganz wie immer. Sie hatte es nie gewusst. Als Kind hatte sie geweint in der Frühlingsdämmerung. Und sich geekelt, wenn Mutter beim Essen über die schlechte Köchin gejammert hatte. Aber dann kam das große, das einzige Gefühl. Noch lag der Druck der grauen Alltäglichkeit tief in ihr eingegraben in weichem Grund. Aber hoch darüber hinaus jauchzte eine selige Hingabe. Was sonst um sie vorging, ließ sie ruhig, kostbar verantwortungslos ruhig. Ihr Leben war ein Rahmen geworden, der sich fest und unwillkürlich krampfhaft um das seine schloss, zärtlich, ohne nachdenken zu müssen, kostbar verantwortungslos. Wer hat ihr jetzt eine Maschine in den Kopf gesetzt? Die arbeitet und wühlt, denkt, denkt, denkt. Aus müdem Halbdunkel herausgerissen, sieht sie alles mit lichtgepeinigten Augen, grell, schreiend grell, laut. Höhnend scharfe, wilde Konturen, zu lange Ecken, zu runde Bogen – Es ist ein Verbrechen begangen worden. Etwas Schlimmeres. Etwas noch nie Geschehenes. Ein Mensch hat sich verloren und sucht sich. Und weiß es und denkt das durch, ganz durch ... Noch einmal ging Mutter um den Tisch und rückte die Teller zurecht und die ledergepressten Stühle. Und alles stand schief. Sie, Ruth, lehnte am Fenster. Sie wusste es. Und wusste, warum Onkel Gustav nichts weiter geworden war, als ein trauriger Narr. Wusste, dass sie selbst, wenn sie jetzt mithelfen wollte bei den Tellern, es genau so machen müsste wie Mutter, so ungeschickt und doch selbstzufrieden. Dass sie Mutters ungeduldige Nasenflügel hatte, Mutters dunkle Brauen. Sie fürchtet Mutter maßlos. Sie fürchtet sich. Sie möchte sich schlagen, weil sie Mutters Kind ist. Onkel Gustav war da. Wie jeden Samstag. Er hatte einen Freund mitgebracht. Der war so unscheinbar, dass Ruth ihn erst nach der Suppe bemerkte und auch da nur, weil Mutter gar so höflich war. Man nannte ihn von und dann etwas mit ›-berg‹. Gustav sagte Norbert und du. Er hatte tadellos gepflegte Nägel und einen festgeklebten hellbraunen Scheitel. Richard erzählte vom Geschäft. Die geringste Kleinigkeit war wichtig und wurde mit Aufmerksamkeit angehört. Draußen fällt ein grauer, dünner Regen. So sitzen jetzt an jedem Mittagstisch die Männer und erzählen ihre Wichtigkeiten. Am Abend gehen sie in das Kaffeehaus und erzählen sie ihren Freunden. Das ist alles. Onkel Gustav sollte den Kopf nicht so vorsichtig zur Seite legen. Das ist eine Gemeinheit. Wie sagte er vorgestern: Nimm dich in Acht. Das hat er gewagt. Er hat es gewagt, sie zu durchschauen. Dumm wie er ist. Und jetzt schielt er nur so mitleidig auf sie her. Sie senkt den Kopf tief über den Teller. Sinkt ganz in sich zusammen. Und isst irgendwas, das schmeckt wie graugrüner Kohl. Ist aber etwas anderes. Sie hört das Klappern der Bestecke und das sinnlose, etwas faule Durcheinander der anderen über sich. Sodass sie wieder fühlt, sie ist ganz klein und krank und liegt im Nebenzimmer in Mutters riesigem Bett. Die Tür ist offen, damit man sie schreien hört, wenn sie etwas braucht. Sie wundert sich über das Aufschlagen der Gabeln in dem Porzellan, das die kaum verständlichen Redebrocken drinnen begleitet. Sie möchte schreien und etwas verlangen und traut sich doch nicht. Sie fragte Onkel Gustav, ob er letztes Mal gut nach Hause gekommen sei. Es war doch zu gemütlich im Park. Überdies hätte sie einen Haufen Knochen für seinen Terrier gesammelt. Er solle sie nur vor dem Fortgehen daran erinnern. Sie wird ihm auch ein Buch zeigen – Sie fragte Martha, was die Schneiderin von ihrem neuen Kleid gesagt habe. Ob es bald fertig sei. Und wie es aussehe so auf dem Kleiderhaken. Ob es ihr schon ein bisschen ähnlich sehe – Sie erzählte Richard, dass sein Buch, das er gestern gesucht habe, in ihrem Zimmer liege, sie wisse selbst nicht wieso – Sie bat Mutter, nicht zu vergessen, die Konzertkarten holen zu lassen – Sie fragte den neuen Gast, ob er gern Kartoffelsuppe esse. Und ob er noch Gemüse haben wolle – Sie wusste: Wenn ich jetzt schweige, hört man mein Besteck allein auf dem Teller. In was für einem hässlichen Rhythmus es darauf klopft. Gefräßig. Deshalb muss ich reden. Alle reden. Wäre es nicht besser, man würde mit den Füßen strampeln? Der neue Gast spricht von seiner Braut. Das heißt, Onkel Gustav spricht von ihr. Aber es ist klar, dass er eine Braut hat. So jemand hat immer eine Braut. Und dann kommt die Hochzeit mit Myrte und Schleier. Was ist dort oben, nahe der Decke und doch tief unten – Ist es der Rauch aus Onkel Gustavs ewig ausgehender Zigarre. Aber nein, der raucht ja doch nicht. Man ist erst bei der Mehlspeise. Große, gelbe Patzen, glitschig in einer lichten Eier-Soße. Nein, es ist nicht Rauch, aber grau und massig, ineinander überlaufend, ohne Grenzen. Schwergewichtig und doch oben schwebend. Zu bleich, um es wirklich sehen zu können. Und doch da. Verbunden mit allen Adern, allen Sehnen, durch die Fingerspitzen hindurch – Es steigt auf aus Richards kühlen, vorsichtigen Gelenken, wie er langsam die Mehlspeise zerlegt. Aus den hundetreu furchtsamen Augen des Fremden. Aus Marthas abgetragener Samtbluse. Aus Onkel Gustavs rundem Rücken, aus Mutters lauten Reden. Es steigt auf aus ihr selbst, aus Ruth, aus ihrem farblos schlafsuchenden Vormittag. Und dort oben ist es eng hineingefügt, schlangenartig umwickelt von all dem anderen, festgebissen. Hier um den Tisch herum glaubt jeder, dass er etwas für sich ist. Richard vor allem, der so klug ist, dass Mutter immer sagt, er muss Bankdirektor werden oder Finanzminister. Aber das ist gar nicht wahr. Richard gehört dazu, genau so wie alle anderen, die hier um den runden Tisch schwatzen. Die sich ähnlicher sind als die eintönigen Ledersessel, auf denen sie sitzen. Da oben ballt es sich zusammen. Viele Kleinschicksale – ein Kleinschicksal. Da oben schwingt es in einem kraftlosen Rhythmus. Selbstbewusst. In demselben Rhythmus, in dem man in das Geschäft geht oder in das Amt oder in die Schule, wenn man brav gelernt hat. In dem man zum Traualtar geht, wo man eine anständige Partie macht, in dem man sonntags am Korso seinen neuen Hut zeigt, in dem man sich zum Geburtstag gratuliert, in dem man hinter dem Sarg seiner Lieben geht, in dem man ins Himmelreich hinein trottet, in dem man – Agnes zerbrach ein Glas. Ein flüchtiger Sonnenstrahl stahl sich durch den feinen sprühenden Regen über das verschobene Tischtuch. Gott sei Dank. Es schadet auch nichts, dass Mutter und Martha böse Gesichter machten. Auch nichts, dass sie drei Tage darüber unglücklich sein werden. Gott sei Dank. Ruth nickte dem Herrn Norbert von – und dann kommt etwas mit ›berg‹, strahlend zu. Der brauchte doch nicht auch betrübt sein über das zerbrochene Glas. Er sah sehr unglücklich drein. Wahrscheinlich mehr aus Höflichkeit. Oder vielleicht wegen irgendetwas anderem. Diese Agnes war doch wirklich nicht salonfähig. Zu kräftig. Wenn sie bei der Tür...




