E-Book, Deutsch, 320 Seiten, GB
Lawrence Winterpony
Novität
ISBN: 978-3-7725-4568-9
Verlag: Freies Geistesleben
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 320 Seiten, GB
ISBN: 978-3-7725-4568-9
Verlag: Freies Geistesleben
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Iain Lawrence geboren in Sault Ste. Marie, Ontario, studierte Publizistik und arbeitete für verschiedene kleinere Zeitungen. Er ist begeisterter Segler, Kenner einsamer Inseln, Journalist und Jugendbuchautor und lebt heute auf Gabriola Island, einer Insel an der Westküste Kanadas in British Columbia. Im Verlag Freies Geistesleben erschien von ihm die Trilogie um 'Tom Tin', der nie zur See fahren wollte, sowie 'Der Herr der Nussknacker', 'Der Geist' und 'Die Tochter des Leuchtturmwärters'. Zuletzt wurde er für den Deutschen Jugendliteraturpreis für sein Kinderbuch 'Der Riesentöter' nominiert.
Weitere Infos & Material
KAPITEL 1 KAPITEL 2 KAPITEL 3 KAPITEL 4 KAPITEL 5 KAPITEL 6 KAPITEL 7 KAPITEL 8 KAPITEL 9 KAPITEL 10 KAPITEL 11 DIE PONYS DIE MÄNNER ANMERKUNGEN DES AUTORS DANKSAGUNG
KAPITEL 1
Ich wurde im Wald geboren, am Fuß der Berge, auf einer Wiese, die ich als «den Gras-Ort» kannte. Das Erste, was ich sah, war die Sonne, die rot durch die Bäume schien, und sieben zottelige Tiere, die auf ihren Schatten grasten.
Es waren Ponys. Und ich war auch ein Pony, mit Beinen so schwach wie Weidenruten. Meine Mutter musste mich mit ihrer Nase auf die Füße schubsen, damit sie mich säugen konnte. Aber schon nach einem Tag war unsere kleine Herde wieder unterwegs. Ich hüpfte neben meiner Mutter her und glaubte, dass ich bereits so schnell und stark wie jedes andere Pony war. Ich wusste ja nicht, dass die anderen wegen mir langsam liefen, damit ich mit ihnen Schritt halten konnte.
Unser Anführer war ein silberner Hengst. Er war so wachsam wie eine Eule. Niemals überquerten wir offenes Land, ohne dass er vorgegangen wäre. Reglos stand er am Rand der Weide und hielt Ausschau nach Wölfen und Berglöwen. Er war immer der Letzte, der trank, und der Letzte, der graste, weil er Wache hielt, bis wir gesättigt waren. Bis auf einen dunklen Fleck auf seiner Brust war sein ganzer Körper schneeweiß. Ich fand es herrlich, zuzuschauen, wie seine silberweiße Mähne in Wind und Sonne flatterte, wie ein glänzendes Banner.
Wir folgten einem Weg, der uns innerhalb eines Jahres von den schneeverwehten Tälern des Winters zu den hoch gelegenen Weiden des Sommers brachte. Jedes Frühjahr führte er uns wieder zu einem steinigen Fluss, den wir einer hinter dem anderen durchquerten. In dem Wasser, das unsere Knöchel umspülte, machten unsere Hufe auf den Steinen ein lustiges, kicherndes Geräusch. Auf der anderen Seite stiegen wir die Böschung hinauf, liefen durch die Ausläufer eines Waldes und erreichten einen Grasplatz, der für mich der Mittelpunkt der Welt war.
Ich dachte, es würde immer so bleiben, ich würde immer jung und frei sein, ein Tag würde dem anderen folgen und ich würde tausend Sommer erleben.
Aber bereits in meinem ersten Jahr erlebte ich, wie junge Ponys älter wurden und wie ein altes Tier starb. Im Frühling war sie noch eine große, starke Stute gewesen. Aber dann, im Herbst, fing sie auf einmal an, ganz langsam zu gehen, und fiel hinter die Herde zurück. Sie beklagte sich nicht und rief nicht nach uns, wir sollten auf sie warten. Sie zog sich einfach nur zurück, und eines Nachts ging sie davon, zu einer Wasserstelle, und legte sich ganz allein in die Dunkelheit. Sie stand nicht mehr auf. Ich sah sie am nächsten Morgen. Ihre Nase berührte das gefrorene Wasser, die Beine ragten steif in die Luft wie die eines Insekts. Ich stupste sie mit meinen Lippen an und merkte, dass sie kalt und starr war, als ob ihr Körper zu Stein geworden wäre. In diesem Moment erkannte ich, dass nichts ewig lebt, dass sogar ich eines Tages sterben würde.
Das war schwer zu begreifen. Was bedeutete es zu sterben? Dem Gras machte es nichts aus, gefressen zu werden, und dem Wasser war es egal, wenn ich es trank. Aber die Kaninchen schrien, wenn der Fuchs zuschlug, und die kleinen Mäuse fiepten, wenn sie in den Krallen des Adlers baumelten. Warum also hatte sich die Stute so still hingelegt, ohne Groll und ohne Widerstand, fast so wie ein umgefallener Baum?
Daran zu denken machte mir Angst, und ich war froh, als mich unser Anführer von der Stelle wegholte. Auf der anderen Seite des Tals heulten schon die Wölfe und berichteten einander von der Aussicht auf Frischfleisch. Und so machten wir, dass wir wegkamen. Eilig galoppierten wir durch den Wald. Wenn die Wölfe auf der Jagd waren, rannten die Ponys. Wir liefen über einen Hügel, hinunter in ein Tal und wieder nach oben, und wir blieben erst stehen, als wir den Grasplatz erreichten.
Der nächste Morgen war genauso wie der allererste, den ich erlebt hatte. Die Sonne war rot und warf Lichtspeere durch die Zweige. Die Ponys standen auf der Wiese verstreut, die zotteligen Mähnen hingen ihnen um die Ohren, während sie das süße Gras abrupften.
Als wir das Klappern von Hufen im Fluss hörten, schauten alle hoch. Meiner Mutter hingen grüne Halme rechts und links aus dem Maul. Der Anführer drehte den Kopf, seine Ohren zuckten.
Am Rand der Wiese flatterte unvermittelt eine Krähe aus einem Baum. Ich starrte dorthin und fragte mich, was den Vogel aufgeschreckt hatte. Und dann kamen, begleitet von Rufen und Schreien, vier schwarze Pferde mit Männern auf den Rücken aus dem Wald galoppiert. Mit donnernden Hufen stürmten sie über die Lichtung, sodass die Erde erbebte.
Ich hatte noch nie einen Mann gesehen. Ich hatte noch nie ein Pferd gesehen. Ich dachte, es sei jeweils ein einziges Tier, ein doppelköpfiges Monster, das auf mich zugaloppiert kam.
Meine Mutter rief mich, als sie mit einem Satz die Flucht ergriff. Mit zwei langen Sprüngen war sie im Wald und verschwand zwischen den Bäumen, während sie immer noch schrie, ich solle ihr folgen. Aber ich hatte zu viel Angst, um mich zu rühren, und die anderen Ponys rannten mich fast um, als sie versuchten, die Sicherheit des Waldes zu erreichen. Nur der Hengst blieb zurück. Er stellte sich den vier Pferden entgegen, erhob sich auf die Hinterhand und kam mir plötzlich so groß vor wie ein Baum. Er schlug mit den Hufen, bereit, es mit allen vier Monstern gleichzeitig aufzunehmen.
Sie kreisten ihn ein. Die Reiter schrien. Die schwarzen Pferde wieherten und schnaubten. Mit hohen, scheinbar nervösen Schritten staksten sie durch das Gras, als ob sie Füchse zertrampeln wollten. Doch der Hengst überragte sie alle. Seine silberne Mähne umwehte ihn.
Dann wendete einer der Reiter sein Pferd und stürmte auf mich zu. Die Hufe des Pferdes schleuderten Erde und Gras in die Höhe.
Ich rief nach meiner Mutter, aber sie konnte mir nicht helfen. Ich rannte auf die Bäume zu, schneller, als ich je zuvor gerannt war. Ich ließ den Hengst in seiner einsamen Schlacht hinter mir und floh blindlings in den Wald. Ich hörte die seltsamen Laute der Männer und das Schnauben ihrer Pferde, und ich dachte unwillkürlich, dass diese Monster zwei Stimmen hatten. Inmitten dieser tosenden Stimmen erklangen die schrillen Schreie des Hengstes, erfüllt von Wut und Angst, und die verzweifelten Rufe meiner Mutter, die im Wald immer leiser wurden.
Ich folgte diesen Rufen. Ich stürzte mich durchs Unterholz und wich Bäumen aus, sprang durch eine Senke und über eine umgekippte Kiefer. Ich stolperte, fiel hin, rappelte mich auf und lief weiter. Ich schlug Haken, nach links und nach rechts, und die ganze Zeit wusste ich, dass mir das Monster auf den Fersen war. Ich hörte sein tiefes Keuchen und diese unheimlichen Rufe und das Knallen einer Lederpeitsche.
Ich erreichte den Fuß eines lang gezogenen Hügels. Für einen Augenblick sah ich über mir die Ponyherde, meine Mutter mittendrin. Ihre weißen Gestalten galoppierten wie eine Schar Geister durch den lichten Wald. Und dann fiel mir eine Seilschlinge um den Hals, die sich mit einem Ruck zuzog. Ich stolperte nach vorn, und mein Kopf wurde nach rechts gerissen, bis ich dachte, mein Hals sei gebrochen. Halb erwürgt und nach Atem ringend, lag ich auf dem Boden, während das Monster über mir stand und mich mit seinen vier Augen anfunkelte.
Was ich dann zu sehen bekam, ergab überhaupt keinen Sinn: Die Kreatur schien sich zu teilen. Der Mann auf dem Rücken des Pferdes erhob sich ein Stück und stieg dann aus dem Sattel. Und da wurde mir klar, dass ein Pferd fast wie ein Pony war, nur größer und schwarz. Ohne dass der Mann es ihm befehlen musste, machte das Pferd aus eigenen Stücken ein paar Schritte rückwärts, um das Seil gespannt zu halten. Es starrte mich ungerührt an, beinahe kalt und völlig unbeeindruckt von meinem Schmerz. Ich wehrte mich nicht. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, Luft zu bekommen. Ich sah dem Mann entgegen, der auf mich zukam, und ich fragte mich, was für ein Wesen das war, das ein Pferd zum Feind eines Ponys machen konnte.
Die Männer schleppten mich davon, weit, weit weg. Ich rief ständig nach meiner Mutter, aber es hatte keinen Sinn. Sie brachten mich ins Flachland, fort von Wald und Bergen, in ein Land voller Menschen. Sie steckten mich in ein Gebäude, in dem es so dunkel wie in einer Höhle war, in eine schmale Nische aus Holzlatten. Hier gab es keine Wiesen mehr, keine Flüsse. Ich trank aus einem rostigen Eimer, in dem das Wasser einen bitteren Geschmack bekam. Einmal am Tag wurde mir ein Leinensack vor das Maul gebunden, und ich leckte die Handvoll Körner auf, die sich darin befanden.
Jeden Morgen führte man mich nach draußen in einen schlammigen Korral. Dort wurde ich gebrochen. Ich wurde gezähmt und gezäumt, und dann lernte ich, den Menschen zu dienen. Ich lernte, schwere Lasten zu ziehen und Befehlen zu gehorchen, die mir immer zugeschrien wurden. Wenn ich den Befehlen nicht schnell genug nachkam, wurde ich geschlagen, mit einem Stock, einer Peitsche oder einer Faust. Einmal schlug man mich mit einer Glasflasche, wieder und wieder, bis sie an meinem Schlüsselbein zerbrach. Es war jeden Tag das Gleiche. Die Ausbildung zog sich stundenlang hin,...