E-Book, Deutsch, 450 Seiten
Lauren Weil es Liebe ist
2. Auflage 2019
ISBN: 978-3-95818-350-6
Verlag: Ullstein Forever
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 450 Seiten
ISBN: 978-3-95818-350-6
Verlag: Ullstein Forever
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christina Lauren ist das Pseudonym von Christina Hobbs und Lauren Billings. Die beiden sind nicht nur langjährige Schreibpartnerinnen, beste Freundinnen, Seelenverwandte und Schwestern im Geiste, sondern auch New-York-Times-, USA-Today- und internationale Bestseller-Autorinnen.
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Eins
Der Familienlegende nach wurde ich im Fußraum eines Taxis geboren.
Ich bin das jüngste von insgesamt sechs Geschwistern. Angeblich sagte Mom: »Ich spüre da so ein leichtes Ziehen, aber lasst mich noch schnell das Mittagessen fertig machen«, und keine vierzig Minuten später hieß es: »Willkommen im Leben, Holland Lina Bakker.«
Das ist immer das Erste, woran ich denken muss, wenn ich in ein Taxi steige. Mir fällt auf, wie mühsam es ist, über das klebrige Polster zu rutschen; ich registriere die zahllosen Fingerabdrücke und mysteriösen Flecken auf den Fensterscheiben und der Plexiglastrennwand zwischen Vorder- und Rücksitz; und ich stelle fest, dass der Fußraum eines Taxis ein ziemlich schauriger Ort ist, um das Licht der Welt zu erblicken.
Schwungvoll ziehe ich die Tür hinter mir zu, damit der pfeifende Wind von Brooklyn draußen bleibt. »Zum U-Bahnhof Fiftieth Street in Manhattan, bitte.«
Der Fahrer sucht im Rückspiegel meinen Blick. Ich weiß genau, was er jetzt denkt:
»Ecke Eighth Avenue und Forty-Ninth Street«, setze ich hinzu und ignoriere das aufsteigende Gefühl der Scham. Mein Verhalten ist lächerlich. Statt mit dem Taxi von Park Slope nach Hause zu fahren, lasse ich mich zu einem U-Bahnhof kutschieren, der etwa zwei Blocks von meiner Wohnung in Hell’s Kitchen entfernt liegt. Und nein, es liegt nicht daran, dass ich ein hohes Sicherheitsbedürfnis habe und nicht möchte, dass der Taxifahrer meine Adresse erfährt.
Es hat einzig und allein damit zu tun, dass es dreiundzwanzig Uhr dreißig an einem Montagabend ist. Mit anderen Worten: Jack wird da sein.
Wenigstens meinen Berechnungen zufolge. Vor knapp einem halben Jahr hat er zum ersten Mal am Bahnhof Fiftieth Street gesessen und Gitarre gespielt. Seitdem habe ich ihn jeden Montagabend gesehen, außerdem mittwochs und donnerstags vormittags auf meinem Weg zur Arbeit sowie freitags während der Mittagspause. Dienstags ist er nie da, und am Wochenende habe ich ihn bisher auch noch nicht gesehen.
Die Montage sind meine Lieblingstage, weil er dann mit einer ganz besonderen Intensität spielt. Er beugt sich tief über seine Gitarre und wiegt sie in seinem Arm, als wolle er sie verführen. Es ist, als wäre die Musik das ganze Wochenende über in dem Instrument gefangen gewesen, und nun würde er sie endlich befreien. Das Einzige, was ihren Fluss unterbricht, ist das gelegentliche Klimpern des Kleingeldes, das Passanten in Jacks aufgeklappten Gitarrenkoffer werfen, oder das Donnern eines herannahenden Zuges.
Ich habe keine Ahnung, was er macht, wenn er gerade nicht am Bahnhof sitzt und spielt. Ich bin mir auch relativ sicher, dass er nicht wirklich Jack heißt, aber irgendeinen Namen musste ich ihm geben. Erstens wollte ich ihn nicht dauerhaft »der Straßenmusiker« nennen, und zweitens lässt der Umstand, dass er einen Namen hat, meine Schwärmerei ein bisschen weniger bizarr erscheinen.
Oder so ähnlich.
Der Taxifahrer redet nicht; er hört nicht mal eine Radio-Talkshow oder eine dieser anderen Sendungen, an deren Geplärre man sich als New Yorker schnell gewöhnt. Ich reiße mich kurz von meinem Instagram-Feed voller Buchrezensionen und Make-up-Tutorials los und betrachte den ekligen Schneematsch draußen auf den Straßen. Mein Cocktail-Schwips scheint sich nicht so schnell zu verflüchtigen, wie ich gehofft habe. Als wir einige Zeit später am Straßenrand halten und ich bezahle, bin ich immer noch ganz kribbelig, so als hätte ich Sprudelwasser im Blut.
Bisher habe ich Jack noch nie in betrunkenem Zustand besucht. Das könnte eine hervorragende oder auch eine ganz blöde Idee sein. Wir werden es gleich erfahren.
Am Fuß der Treppe angelangt, sehe ich ihn, wie er gerade seine Gitarre stimmt. Ich bleibe in einiger Entfernung stehen und mustere ihn. Er hält den Kopf gesenkt, und im Licht der Straßenlaternen, das die Treppe hinunter bis in den Bahnhof fällt, wirken seine dunkelblonden Haare beinahe silbern.
Er ist, wie in unserer Generation so üblich, ziemlich nachlässig angezogen, wirkt aber ansonsten gepflegt, deshalb stelle ich mir vor, dass er irgendwo eine hübsche Wohnung sowie einen geregelten, gut bezahlten Job hat und aus reinem Spaß an der Freude hier sitzt. Er hat genau die Art Haare, die ich unwiderstehlich finde: an den Seiten kurz, oben auf dem Kopf wild und ungezähmt. Sie sehen so wunderbar weich aus und glänzen im Lichtschein, und man möchte einfach nur ganz fest in diese Haare hineingreifen und die Hände darin vergraben. Welche Augenfarbe er hat, weiß ich nicht, weil er beim Spielen nie hochschaut, aber in meiner Fantasie sind sie braun oder tiefgrün, in jedem Fall so dunkel, dass man darin versinken kann.
Ich habe ihn nie kommen oder gehen sehen, weil ich immer nur an ihm vorbeilaufe, einen Dollarschein in seinen Gitarrenkasten lege und dann weitergehe, um ihn – wie viele andere Wartende auch – von meinem Platz am Bahnsteig aus unauffällig zu beobachten. Seine Finger fliegen über den Hals der Gitarre. Seine linke Hand entlockt dem Instrument die Töne, als wäre Gitarrespielen für ihn so selbstverständlich wie Atmen.
. Für mich als angehende Schriftstellerin ist das ein furchtbares Klischee, aber es ist die einzige Beschreibung, die passt. Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, dessen Finger sich so bewegen – ganz von selbst, ohne dass er auch nur einen Gedanken daran verschwenden muss. Fast ist es so, als würde er seiner Gitarre eine menschliche Stimme verleihen.
Er hebt den Kopf, gerade als ich einen Geldschein in seinen Gitarrenkoffer fallen lasse, blickt mich durch zusammengekniffene Augen an und sagt leise: »Danke schön.«
Das hat er noch nie gemacht – aufgeschaut, wenn jemand Geld in seinen Koffer wirft –, deshalb bin ich völlig überrumpelt, als unsere Blicke sich treffen.
Grün. Seine Augen sind grün. Und er schaut nicht sofort wieder weg. Er hält meinen Blick fest. Ich bin wie hypnotisiert.
Statt also mit »Ja« oder »Gern geschehen« zu antworten oder auch gar nichts zu sagen, wie es jeder anständige New Yorker tun würde, überkommt es mich. »Ichliebedeinemusiksowahnsinnig!«, stoße ich atemlos hervor, sodass es wie ein einziges Wort klingt.
Dafür ernte ich ein winziges Lächeln von ihm, das in meinem alkoholisierten Gehirn beinahe einen Kurzschluss auslöst. Er kaut einen Moment lang auf seiner Unterlippe, ehe er sagt: »Wirklich? Das ist echt nett von dir. Ich spiele auch wahnsinnig gern.«
Er hat einen starken irischen Akzent. Als ich ihn höre, beginnt es in meinen Fingern zu kribbeln.
»Wie heißt du?«
Drei unerträgliche Sekunden vergehen, bevor er mit einem leicht verblüfften Grinsen antwortet: »Calvin. Und du?«
Das hier ist eine . Heilige Scheiße, ich unterhalte mich mit dem Fremden, in den ich seit Monaten verknallt bin.
»Holland«, antworte ich. »Wie die Provinz in den Niederlanden. Die meisten Leute denken ja, Holland und die Niederlande seien dasselbe, aber das stimmt nicht.«
Uff.
Heute Abend habe ich zwei Erkenntnisse über Gin gewonnen: Er schmeckt nach Kiefernzapfen, und er ist das reinste Teufelszeug.
Calvin lächelt zu mir auf und sagt verschmitzt: »Holland. Eine Provinz eine Gelehrte«, ehe er halblaut etwas hinzufügt, das ich nicht verstehe. Ich kann nicht sagen, ob seine Augen so belustigt funkeln, weil ich er mich in meiner Trotteligkeit amüsant findet, oder weil hinter mir jemand steht, der gerade irgendwas Verrücktes macht. Da ich seit einem gefühlten Jahrtausend nicht mehr mit einem Mann ausgegangen bin, weiß ich nicht, wie ich das Gespräch am Laufen halten soll. Also suche ich mein Heil in der Flucht. Ich sprinte regelrecht die zehn Meter bis zum Bahnsteig. Kaum zum Stehen gekommen, beginne ich mit der wohlkalkulierten Geschäftigkeit einer Frau, die daran gewöhnt ist, so zu tun, als gäbe es etwas immens Wichtiges, das sie sofort und auf der Stelle finden muss, in meiner Handtasche zu wühlen.
Etwa dreißig Sekunden zu spät begreife ich, was er eben geflüstert hat: .
Garantiert hat er damit bloß meinen Namen gemeint. Und das sage ich nicht aus falscher Bescheidenheit. Meine beste Freundin Lulu und ich sind zu der Einschätzung gekommen, dass wir in Manhattan attraktivitätsmäßig etwa im Mittelfeld liegen – was ziemlich gut ist, sobald wir die Stadtgrenzen verlassen. Aber Jack – ich meine, Calvin – ist jemand, der Blicke auf sich zieht, von Frauen wie von Männern, von reichen Pseudo-Hippies aus der Madison Avenue, die sich in der U-Bahn mal unters gemeine Volk mischen wollen, genauso wie von krawalligen Studenten aus Bay Ridge. Ich übertreibe nicht. Er hätte die freie Auswahl – wenn er sich denn jemals dazu bequemen würde, den Kopf zu heben und uns eines Blickes zu würdigen.
Wie um meine Theorie zu untermauern, offenbart...