Warum wir eine neue Urkirche brauchen
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-451-83486-8
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2. Eine Implosion voll Wehklagen – wie die Volkskirche verschwunden ist
Aus meiner heutigen Perspektive würde ich sagen, dass die 1990er Jahre die Jahre einer späten Blüte kirchlichen Lebens in Deutschland waren. Einer wunderschönen Blüte! Wie lebendig vieles war. Wie kreativ viele waren. Wie bunt, wie fröhlich, wie liebevoll. Es war die letzte große Blüte. Einen Höhepunkt dieses meines Schwärmens erlebte ich in Recklinghausen in der Liebfrauenkirche, meiner ersten Kaplanstelle. 1994 durfte ich dort gleich an meinem ersten Heiligen Abend die Messe um 18 Uhr feiern. Das war immer der „Kaplans-Gottesdienst“. Ein bisschen musste ich staunen, als der Pastor Ludger Bley sich zum Weihnachtsgottesdienst in die Bänke zu den Gläubigen setzte. Er hätte sich zu Hause noch vor der Christmette ausruhen können, er hätte mit mir zusammen am Altar feiern können. Doch Ludger lächelte nur und schüttelte den Kopf. Und dann erzählte er von einem Heiligabend, bei dem nach dem „Kaplans-Gottesdienst“ das Telefon bei ihm nicht mehr stillstand. Einige Gottesdienstbesucher beschwerten sich, weil ihnen angeblich das ganze Fest kaputt gemacht worden sei. Was war passiert? Einer meiner Vorgänger hatte mit Jugendlichen das Thema „Eine Welt“ vorbereitet. Tenor war damals schon, wie sehr wir Menschen in den reichen Industrieländern die Menschen in den armen Ländern ausnutzen und auf deren Kosten leben. Weder die Jugendlichen noch der Kaplan nahmen ein Blatt vor den Mund und verkündeten ihre Meinung, gedeckt von der Bergpredigt: „Selig sind die Armen, denn ihnen gehört das Himmelreich.“ Wie eindeutig diese jungen Menschen waren. Wie frei und mutig. Sie hatten genau dies aus dem Evangelium herausgelesen und brachten es nun unters Kirchenvolk – das etwas verstört in den Bänken saß, weil nach dem Gottesdienst unterm Christbaum schon der neue Fernseher, die neue Perlenkette, die neue Carrerabahn warteten. Ich wette, Sie sind schon seit Jahren nicht auf solch eine Weise herausgefordert worden von einem Gottesdienst wie damals die Weihnachtsgottesdienst-Besucher in Recklinghausen. Die frohe Botschaft hat Konsequenzen – das darf auch einmal gesagt werden. Denn es geht ja schließlich darum, nicht lau zu sein, nicht mit Wattebäuschen zu werfen. Was das Besondere an Pastor Ludger Bley war: Trotz seiner Erfahrungen machte er mir keine Vorgaben für den Heiligabendgottesdienst. Ich hätte die Gemeinde mit meinem Vorbereitungsteam aus Jugendlichen genauso provozieren können, ich hatte dazu freie Hand. Ich denke, Ludger wird froh gewesen sein, dass es nach meinem ersten Heiligen Abend in Recklinghausen keinen Ärger aus der Gemeinde gab. Er war, glaube ich, auch schlicht froh, dass er sich nicht um die Jugendarbeit kümmern musste. Aber wie stark ist es dann doch, wenn man so tolerant ist, jemand anderen voller Vertrauen und Zutrauen gewähren zu lassen. Und da steht sie, die Frage: Was ist aus dieser Gabe geworden? Ich weiß, der Rückblick in die jungen Jahre hat oft eine schwärmerische Note. Und ich will mein Schwärmen gar nicht verhehlen. In meiner Station in Schermbeck bei Wesel erlebte ich als junger Diakon und Kaplan praktisch ein offenes Haus. Es war total lebendig. Wir bauten mit Jugendlichen Kanus. Ein älterer Schlosser half uns, die Boote zu bauen – das war ein Zusammenspiel von Jung und Alt. Die Freizeitgestaltung war Gemeindearbeit. Ganz ähnlich war es, als ich dann in Recklinghausen war. Da war es der Jugendchor, der eine starke Einheit in der Gemeinde bildete. Ich konnte es mir erlauben, im Jugendchor einfach mitzusingen, ich war ein Teil der Gemeinschaft, losgelöst von meinem Kaplansamt. Das war eine wunderbare Gelegenheit, mit den jungen Menschen in Kontakt zu treten. Und es konnte schon einmal passieren, dass ich bei der Probe mit dem Nachbarn sprach und dann einen Anpfiff bekam – wie war das schön! In Schermbeck hatten wir einen Pfadfinderstamm, und als Geistlicher gehörtest du mit dazu. Alles war von einer solchen Lebendigkeit erfüllt, das war ansteckend. Im Ort gab es einen Lastwagenfahrer, der immer seinen Urlaub investierte, um den Pfadis die Baumstämme zu ihren Lagerplätzen zu bringen, die sie für die Zelte brauchten. Der Mann war um die vierzig oder fünfzig Jahre alt – auch hier also ein Zusammenwirken von Jung und Alt, das sich damals einfach entwickelte. Und das heute vielerorts schmerzlich vermisst wird. Ein anderes Erlebnis hatte ich in Mettingen, meiner letzten Kaplanstelle. Da herrschte in Teilen der Jugend eine Aufbruchstimmung, die von ihrer Frische her an die 1968er-Bewegung erinnerte. Jeden Dienstagabend feierten wir auf einer alten Orgelbühne im Kirchturm einen freien Gottesdienst. Ein bisschen wie in Taizé, mit vielen meditativen Phasen. Aber auch mit der Möglichkeit, dass sich jede und jeder im Gebet zu Wort meldet. Was für eine Stimmung! So unbeschwert und frei. Aus diesen jungen Leuten entstand eine Energie, die im wahrsten Sinne mitreißend war. Das gipfelte darin, dass sie irgendwann die Kirchenbänke umgebaut hatten. Vorher schaute man immer stur geradeaus auf den Altar der Agatha-Kirche. Nach dem Umbau war die ganze Sitzordnung neu gruppiert. Auf einmal saßen sich die Menschen gegenüber und sahen sich ins Gesicht. Das Schönste daran: Die Gemeinde liebte es. Es wurde Geld in die Hand genommen, der Altarraum wurde umgebaut, und so schuf man eine ganz neue Atmosphäre. Ausgelöst von Jugendlichen, die mit Leidenschaft ihren Glauben lebten – wer das heute erzählt, erntet in vielen Gemeinden nur ungläubiges Staunen. „Jugendliche, wo sind die bitte?“, heißt doch das gängige Klagen. Zu der von mir so empfundenen letzten Blüte der Kirche in den 1990er Jahren gehört unbedingt auch das Kirchenvolks-Begehren. Natürlich habe ich dort unterschrieben. Ich lebte noch in Recklinghausen, und das Engagement der Unterstützer war groß. Es war ein bisschen wie im Heiligabendgottesdienst mit den Jugendlichen. Mutige, eindeutige, überzeugte Gemeindemitglieder gingen vor die Kirche und sammelten Unterschriften. Ihnen gegenüber viele Menschen, die sich überrumpelt und gestört fühlten. Die vielleicht auch Angst hatten, dass sich etwas verändern könnte. Wir hatten in der Jugendarbeit einen Text, der das wunderbar karikierte. Sinngemäß ging der so: Frag tausend Katholiken, was das Wichtigste an ihrem Glauben ist. Sie werden sagen: die heilige Messe. Frag tausend Katholiken, was das Wichtigste an der heiligen Messe ist. Sie werden sagen: die Eucharistie. Frag tausend Katholiken, was das Wichtigste an der Eucharistie ist. Sie werden sagen: die Wandlung. Sag tausend Katholiken, dass sie sich wandeln sollen. Sie werden weggehen, zetern und schimpfen … So ging es jedenfalls manchen, die von den Unterschriftensammlern angesprochen wurden. Aber längst nicht allen. Schon damals gab es bei vielen Gläubigen den Wunsch nach deutlichen Veränderungen in der Kirche. Mehr als 1,8 Millionen Unterschriften wurden 1995 gesammelt, davon von 1,5 Millionen Katholikinnen und Katholiken. Heute gehen am Sonntag nur noch etwa 1,2 Millionen Menschen in Deutschland in katholische Gottesdienste. Ich war bei Weitem nicht der einzige Priester, der unterschrieb. Aber es waren doch wohl mehr Priester, die nicht unterschrieben. Den genauen Inhalt des Kirchenvolks-Begehrens werden die wenigsten noch kennen. Bei mir sorgen der Inhalt und vor allem der Auslöser der Unterschriftensammlung im Nachhinein auch heute für ein gewisses Schaudern. Auslöser waren Missbrauchsvorwürfe gegen den Wiener Kardinal Hans Hermann Groër. Inhalt waren fünf Forderungen: 1. Aufbau einer geschwisterlichen Kirche. 2. Volle Gleichberechtigung der Frauen in allen kirchlichen Ämtern. 3. Keine Bindung des Priesteramts an den Zölibat. 4. Positive Bewertung der Sexualität und Anerkennung der verantworteten Gewissensentscheidung. 5. Frohbotschaft statt Drohbotschaft. Kommt Ihnen das bekannt vor? Ich lese zumindest im Groben die Linien des Synodalen Wegs darin, der auch die Sexualmoral diskutiert oder den Pflichtzölibat abschaffen will. Und „Drohbotschaft“ ist doch irgendwie mit dem Problem des Machtmissbrauchs verbunden, den die Synodalen diskutiert haben. Hätte die Kirche nur auf die Kirchenvolksbewegung von 1995 gehört, es wären ihr viele, viele Probleme erspart geblieben. Aber was ist tatsächlich passiert? Das Kirchenvolks-Begehren ist gescheitert. Der Synodale Weg kämpft, getragen von bewundernswert engagierten Ehrenamtlichen, einen harten Kampf gegen manche deutsche Bischöfe und gegen die Kurie in Rom, der von Maßregelungen durch den Vatikan gekennzeichnet ist. Was mich im Rückblick auf das Kirchenvolks-Begehren am meisten betroffen macht, ist der Umgang mit den Vorwürfen gegen Kardinal Groër. Auch da wurde zunächst so lange wie nur irgendwie möglich vertuscht, um den Missbrauchstäter zu schützen, vor allem aber um die katholische Kirche zu schützen. Im Fall Groër und im anschließenden Kirchenvolks-Begehren war all das angelegt, was wir mit unserem Missbrauchsskandal in Deutschland ab 2010 noch einmal genauso erleben mussten. Es werden die Täter und die Institution geschützt. Bischöfe helfen dabei mit, während der Staat die Kirche in skandalöser Weise gewähren lässt – so mein Eindruck. Sie merken, ich rede mich in Rage. Und ich kann mich auch in Rage reden, wenn ich an die Anfang 2024 vorgestellte Missbrauchsstudie der evangelischen Kirche denke. Was für ein Kunststück den Verantwortlichen da gelungen ist: Jahrelang sahen sie sich das verstörend schleppende Aufklären der Katholiken an, um dann von den Erstellern der Studie...