Larsen Die Rettung des Horizonts
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-10-403093-7
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 768 Seiten
ISBN: 978-3-10-403093-7
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Reif Larsen, geboren 1980, lebt im Hudson Valley und in Schottland. Er schreibt, unterrichtet Literatur, dreht Dokumentarfilme in den USA, Großbritannien und in Afrika. Seine Erzählungen und Essays erscheinen u.a. in »The New York Times« und in »The Guardian«. Sein erster Roman ?Die Karte meiner Träume? (2009) wurde ein Weltbestseller. 2014 erschien sein zweiter Roman ?Die Rettung des Horizonts?.
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Die Geburt eines so extrem dunkelhäutigen Babys (»schwärzer als das schwärzeste Schwarz«, schrieb ein übereifriger Reporter des ) als Kind weißer Eltern war nichts, was in Jersey lange geheim bleiben konnte. Ein Pfleger oder ein Pförtner musste geplaudert haben, wenn nicht sogar die Schwester, die die Geburtsurkunde ausgefertigt hatte. Irgendjemand hatte mit jemandem geredet, der mit jemandem geredet hatte, und am nächsten Morgen lief prompt eine Handvoll Reporter durch die Gänge der Entbindungsstation und befragte alle, die ein Ohr frei hatten: Milliarde
Am Tag nach seiner Geburt brachte der Newarker eine Titelstory mit der relativ harmlosen Schlagzeile »Schwarzer Säugling für weiße Eltern im St.-Elizabeth-Krankenhaus«. In Ermangelung eines brauchbaren Fotos begnügten sie sich mit einer schlechten Fotokopie von Radars Geburtsurkunde, als ob die irgendetwas hätte beweisen können. Die auf der anderen Seite des Hudson vermeldete »Naturlaune in Jersey: Weiße Eltern … schwarzes Baby!« und stützte die reißerische Schlagzeile dann mit herzlich wenig Einzelheiten. Baby Radar, der für die Rätsel, die er aufgab, nichts konnte, war unversehens zum kulturellen Prüfstein geworden.
Vielleicht ließ sich der ganze Wirbel auf die besondere Alchemie von Zeit und Ort zurückführen. Acht Jahre nach den 67er Newarker Rassenunruhen war die Stadtflucht der Weißen in vollem Gang, mit der Fertigungsindustrie ging es stetig bergab, und New Jersey steckte mitten in einer schweren Rezession. Die Menschen – Schwarze wie Weiße – hatten mit den von der Bürgerrechtsbewegung des vergangenen Jahrzehnts vorgegebenen hohen Erwartungen zu kämpfen. Wie sollte man solche hehren Ideale im banalen Alltag umsetzen? War jetzt alles anders? Oder hatte sich, wie es vielen allmählich dämmerte, in Wahrheit überhaupt nichts geändert?
Die Geschichte schlug sicher auch deshalb so ein, weil die einfachste und naheliegendste Erklärung für Radars Aussehen, die Erklärung, die tausend Frühstückswitzeleien zeitigte, sprich: die »Milchmanntheorie«, sich angesichts der Hautfarbe des Kindes letztlich als unhaltbar erwies. Hätten die Leute das Baby nur einmal richtig zu sehen bekommen, wäre ihnen ein für alle Mal klargeworden, dass bloße Untreue niemals diesen dramatischen Farbschwenk vom weißesten Weiß zum »schwärzesten Schwarz« bewirkt haben konnte. Doch die Leute bekamen Radar Radmanovic eben nicht richtig zu sehen, da es keine Fotos von ihm gab außer einer (angeblichen) Aufnahme seines Brutkastens aus einiger Entfernung. Bei dieser dürftigen Beweislage waren der Phantasie keine Grenzen gesetzt, und jeder konnte sich selbst darüber Gedanken machen, was Vererbung eigentlich heißt, was an ein Kind weitergegeben werden kann und was nicht, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein so seltener genetischer Zufall – wenn es denn etwas Genetisches war –, bei einem eigenen Kind auftritt. Die Familie schwieg zu alldem, lehnte Interviews ab und mied Fotografen, obwohl ihr für exklusive Fotos und die Rechte an ihrer Story angeblich fünfstellige Summen geboten wurden.
In einer morgendlichen Radio-Talkshow äußerte sich ein damals noch relativ unbekannter Reverend Jesse Louis Jackson kurz vor der berühmten Zehn-Tage-Tour durchs Südafrika der Apartheid, die ihn ins internationale Rampenlicht katapultieren sollte, zu dem Fall und rügte die Medien dafür, dass sie indirekt »dem schwarzen Sündenbock wieder die einer weißen Frau vorwerfen«.
»Hier«, sagte er, »hat Gott gewaltet, kein einzelner Mann. Das Kind ist . Hoffentlich begreift die Familie auch, was für ein Glück sie hat.«[1]
Radars Geschichte hielt sich nur etwa eine Woche in den Boulevardblättern von Jersey. Diverse Mediziner und Beinahmediziner durften halbgare Theorien darüber ausbreiten, was mit dem Baby passiert war – die Thesen reichten vom doppelt rezessiven Melanismus-Gen (»Ein entfernter schwarzer Vorfahre zum Leben erweckt!«) bis zu Giftmülleinflüssen aus einem der vielen Industriesümpfe der Meadowlands (»Das Kind ist ein Mutant!«). Nach dieser ersten Berichtswelle verlor die Story wie alle Storys ihren Reiz und verschwand schließlich, und von Radar und seinem Zustand hörte man erst knapp vier Jahre später wieder, als Dr. Thomas K. Fitzgerald im seine mit Spannung erwartete Diagnose »Zum isolierten Vorkommen einer nichtaddisonschen gleichförmigen Hyperpigmentierung bei einem Weißen männlichen Geschlechts« abgab.
Charlene Radmanovic wiederum ging aus dem Nachglanz der Geburt mit einer eigenartigen Geruchsempfindlichkeit hervor, dass nämlich alles für sie gleich roch – und zugleich so stark, dass es sie förmlich lähmte. Zunächst roch die Klinik und alles in ihr in etwa wie angebrannte Schokocrispies. Die Nachtschwester, der glitschige Spinat, den sie still zu sich nahm, die urinabweisenden Plastikkissen, die TV-Fernbedienung – nichts als verkokelte und schlicht Übelkeit erregende Frühstücksflocken. Vor allem aber, und das war das Peinlichste, roch ihr Sohn, als sie ihn schließlich halten durfte, so stark und so verkokelt, dass sie es kaum ertragen konnte, ihn länger bei sich zu haben. Die schlimmste Qual überhaupt – abgestoßen zu werden von dem, das man mehr als alles lieben sollte. Das Stillen wurde ihr zum unnatürlichsten Akt auf Erden. Das Baby fand keinen Halt an der Brustwarze, und ihr wurde schnell zu schwummrig, als dass sie sich lange bemüht hätte. Auf ihre Klagen hin bekam sie mehr Schmerzmittel, und als das nicht half, wurde ein halbblinder britischer Hals-Nasen-Ohrenarzt zu ihr bestellt. Er tastete ihre Sinnesöffnungen ab und erklärte ihren Zustand für vorübergehend.
»Die Geburt eines Kindes ist eine Explosion«, erläuterte er. »Da kriegt man eben ein paar Splitter ab.«
Eine Woche intensiver Untersuchungen bestätigte, dass bis auf Radars merkwürdige Hautfarbe alles an dem Jungen mehr oder weniger normal war. Einige Befunde waren etwas bedenklich: erhöhter Eisengehalt im Blut, erhöhte Cortisolwerte, wenn auch beides nicht ungewöhnlich war bei Neugeborenen, die sich vom hormonellen Sternenausbruch der Geburt und der gewaltsamen Anpassung an eine neue Welt mit Sauerstoff und Sonnenlicht erholten. Auch wies Baby Radar einen leicht erhöhten Blutdruck auf und litt an mäßiger Hauttrockenheit, die mit einer rezeptpflichtigen Lotion behandelt werden musste. Aber nichts fiel so aus dem Rahmen, dass man es mit seinem ungewöhnlichen Aussehen hätte in Verbindung bringen können. Sein von Geburt an vorhandenes Haar war weich, schwarz und glatt wie das seines Vaters. Ja, wenn man über die dunkle Haut hinwegsehen konnte, war Radar ein richtiger kleiner Kermin: das gleiche Grübchenkinn, die gleiche straffe Kieferpartie, die gleiche vorstehende Stirn. Ohne den farblichen Gegensatz hätte ihre Verwandtschaft außer Frage gestanden.
Zum Glück hatte die öffentliche Diskussion über Charlenes mögliche Untreue, eine Diskussion, die in den lokalen Medien zu manch hitzigem Schlagabtausch über Rasse und Sexualität führte, wenigstens nicht den Kokon ihres Krankenzimmers durchstoßen. Dr. Sherman hatte gut daran getan, die Fotoreporter in Schach zu halten. Er war sich vollauf bewusst, wie vorsichtig man ein so heikles Thema angehen musste. Damals waren umfassende DNA-Tests noch nicht üblich, und die Klärung einer Vaterschaft konnte sich ewig lange hinziehen. Dennoch hielt Dr. Sherman es für seine Pflicht, die Eheleute für den Fall, dass sie gewissen Fragen nachgehen wollten, auf ihre Möglichkeiten hinzuweisen, und so lud er sie am Tag, an dem sie Radar mit nach Hause nehmen sollten, zu einem letzten Gespräch in sein Sprechzimmer.
»Wir sind so weit!«, sagte er. »Kaum zu glauben, dass es nur eine Woche war.«
Charlene sah erschöpft aus. Sie fasste sich an die Nase. »Was machen wir jetzt?«
»Tja …« Er griff nach seinem Kuli. »Das kommt drauf an. Ich weiß ja nicht, ob Sie einen Test machen wollen.«
»Einen Test?«, fragte sie. »Wofür?«
Er zögerte. »Einen Vaterschaftstest. Es gibt ein neues Verfahren, bei dem die HLA-Merkmale des Vaters und des Babys ausgewertet werden, aber das ist teuer, und man braucht eine erhebliche Menge Blut für den Test, wir müssten also warten, bis das Baby mindestens sechs oder acht Monate alt ist –«
»Wovon reden Sie?«, fragte Charlene.
»Wovon ich rede?«
Schweigen.
Dr. Sherman nahm die Hände hoch. »Also ich wollte damit keineswegs etwas andeuten. Ich weise nur darauf hin, dass Testmöglichkeiten bestehen, falls Sie Gewissheit haben möchten.«
Kermin starrte seine Frau an. Sie hielt seinem Blick stand. Nach einer Weile füllten ihre Augen sich mit Tränen.
»Kermin«, sagte sie und griff nach seiner Hand. »Kermin. Kermin.«
Dr. Sherman fand es an der Zeit, weiterzusprechen. »Die Entscheidung liegt...