E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Langenegger Dorffrieden
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-99027-152-0
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-99027-152-0
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
1980 in Gattikon in der Schweiz geboren, lebt heute in Wien und Zürich. Neben zahlreichen Arbeiten fürs Theater (Uraufführungen u.a. in Zürich, Mannheim und Berlin) und fürs Fernsehen (u.a. Schweizer Tatort) hat er bislang fünf Romane veröffentlicht.
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2. Kapitel
Wattenhofer klopft mit dem Garderobenschlüssel in der Hand an die Glastür. In der kleinen Kammer mit Blick über das Schwimmbecken befindet sich alles, was man als Bademeister braucht. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Rettungsring, ein Erste-Hilfe-Kasten und ein Ständer mit Bademode in allen Größen. Durch die gläsernen Wände hat man Aussicht auf den Planschbereich mit Rutschbahn und das Fünfundzwanzig-Meter-Becken. Eine Treppe, deren Stufen wegen der Sturzgefahr besonders rau beschichtet sind, führt hinunter an den Beckenrand. Wattenhofer wird freundlich begrüßt. Nicole Götz ist vor sieben Jahren als Sportstudentin aus Süddeutschland zugezogen. Inzwischen ist sie von der schwimmbegeisterten Teilzeitkraft zur leitenden Bademeisterin aufgestiegen. Sie bietet Wattenhofer einen wässrigen Kaffee aus dem Automaten an, den er bei seinen Besuchen mit Stefan zu schätzen gelernt hat. Natürlich wäre er lieber ein Feinschmecker, der sich seine Bohnen bei einer kleinen Familienrösterei bestellt und seinen Kaffee jeden Tag frisch mahlt. Zu Hause füttert er seine Kaffeemaschine schon seit Jahren mit Aluminiumkapseln. Beim ersten Schluck aus dem Plastikbecher überkommt ihn eine wehmütige Erinnerung an den Filterkaffee, den er aufbrühte, bevor die vollautomatische Maschine in der Küche stand. Erstaunt stellt er fest, dass er das Pfeifen des Wasserkessels, das Aufschäumen des Pulvers und den Geruch nach frischem Kaffee, der sich im ganzen Haus breitmachte, vermisst.
- Was führt dich her?
- Ich habe einen Schlüssel gefunden.
- Das muss ja ein besonderer Schlüssel sein, dass du damit zu mir kommst.
- Es ist ein Garderobenschlüssel.
- Ich verstehe nicht, weshalb sich so viele weigern, das gelbe Band zu benutzen, mit dem sie ihn ums Hand- oder Fußgelenk binden können.
- Der Bändel fehlt.
- Wo hast du ihn gefunden? Normalerweise verstopfen mir die verlorenen Schlüssel die Filter.
Sie setzen sich hinter der großen Glasscheibe an einen Tisch. Götz achtet darauf, dass sie das Schwimmbecken im Auge behält. Wenn er sie ablenken würde, wenn er jenes unwiderstehliche Mannsbild wäre, das sie mit einem Blick und zwei Sätzen verführt, ihr in der Damengarderobe den Mund zuhält, um ihre Lustschreie zu ersticken … würde dann ein Kind ertrinken, das wäre eine Geschichte, denkt Wattenhofer. Das würde Ermittlungen nach sich ziehen. Nicht nur das, er wäre gezwungen, seine Beteiligung an dem Unglück zu vertuschen, um den Schein des treuen Ehemanns und zuverlässigen Polizisten zu wahren.
- Sonst noch etwas?
Andererseits wäre er gezwungen, an der Tür der Eltern zu klingeln und ihnen die schreckliche Nachricht zu überbringen. Das würde er nicht übers Herz bringen. Er würde zittern und schluchzen, bevor er einen Ton herausbrächte.
- Mich interessiert, was sich in dem Schrank befindet, der zum Schlüssel gehört.
Wattenhofer ist froh, dass sich seine Ermittlungsarbeit auf Nachforschungen im Schwimmbad beschränkt. Er taugt nicht für Schlagzeilen und Filmstoff. Es macht ihm nichts aus, dass Götz ihn belächelt. Er tut seine Pflicht und fahndet nach dem Inhalt eines Garderobenschranks.
- Wenn wir die Kästchen abends nicht ausräumen würden, hätten wir spätestens nach einer Woche kein freies mehr. Möchtest du das Lager mit den Fundgegenständen sehen?
Wenige Minuten später öffnet Götz ihm die Tür zu einem Kellerraum, der so niedrig ist, dass er darin nicht aufrecht stehen kann. Das Kreuz schmerzt ihn schon, bevor er ihn betritt. Neben ihm plätschert die Maschine, die das Wasser filtert und mit Chlor versetzt. Der Kellerraum wird zur Hälfte von einem Regal ausgefüllt. Es ist vollgestopft mit vergessenen und verlorenen Kleidungsstücken und Gegenständen. Götz nickt Wattenhofer zu.
- Vermutlich ist es ein Vorteil, dass du nicht weißt, was du suchst. Ich habe es noch nicht erlebt, dass hier jemand etwas Bestimmtes gefunden hat.
Die Bademeisterin zieht sich auf ihren erhabenen Posten im Glashaus zurück, und Wattenhofer beginnt damit, sich durch muffige Socken, Unterhosen, Pullover und Jacken zu wühlen. In Anbetracht der Masse an zurückgelassenen Kleidungsstücken, die sich hier angesammelt haben, muss er davon ausgehen, dass jeder zweite Besucher vergisst, sich nach dem Schwimmen wieder anzuziehen. Wattenhofer nimmt eine Schachtel vom obersten Regalbrett. Jemand, vielleicht die kräftige Hand von Götz, hat mit einem Filzstift einen Schuh darauf gemalt. Als Vorbote dessen, was ihn erwartet, kippt ein Paar Kindergummistiefel, das oben auf der Schachtel liegt. Mit der reflexschnellen linken Hand wehrt Wattenhofer den ersten Stiefel ab, fängt den zweiten mit der rechten auf, verfehlt daraufhin den Griff der Schachtel und ist deshalb gezwungen, ihren Sturz mit seinem Gesicht zu stoppen. Ein schreiender Schmerz sticht ihm vom Nasenbein in die Stirnhöhlen. Er spürt, wie ihm die Tränen in die Augen und das Blut in die Nasenlöcher schießt. Er springt zurück, die Schachtel platzt auf, und ihr Inhalt ergießt sich über den Fußboden. Wattenhofer hält sich die blutige Nase, lehnt sich mit angewinkelten Knien gegen die Wand und lässt sich langsam zu Boden sinken. Er starrt in die enge Leere vor sich und versucht den Schmerz unter Kontrolle zu bekommen. Genau das tun seine Kollegen, wenn sie einen Verdächtigen nach einer atemberaubenden Verfolgungsjagd gestellt haben. Dass er gezwungen ist, nach dem Kampf mit einem Paar widerspenstiger Gummistiefeln zu Boden zu gehen, ist eine Demütigung. In Wattenhofers leerem Blick spiegelt sich nicht die Ernüchterung, dass es in einer verkommenen Welt keine Gerechtigkeit gibt, auch wenn dem Recht zur Durchsetzung verholfen wird, sondern die Erkenntnis, dass der Schmerz der gleiche ist, egal ob ihm die Nase von einer Schachtel voll vergessener Schuhe oder von der tätowierten Faust eines Auftragskillers gebrochen wird.
Nach einer Verschnaufpause erinnert er sich daran, was er gesucht hatte, bevor er seine Hosentasche nach einem Papiertaschentuch durchwühlte, das er sich jetzt in die Nase steckt. Der Garderobenschlüssel lag in einer Zigarettenschachtel. Wenn er den Inhalt des Schranks finden will, zu dem der Schlüssel passt, muss er nach Hinweisen auf die Schachtel suchen, Tabakkrümel oder Filter, wenn er Glück hat, eine ganze zerdrückte Zigarette. Schuhe sind falsch, ganz falsch, niemand bewahrt seine Zigaretten in den Schuhen auf. Eine Stunde lang kehrt Wattenhofer systematisch Hosentaschen nach außen. Er findet darin neben gebrauchten Taschentüchern, verklebten Kaugummis, Haarspangen, Spielkarten und einem Schlagring auch Krümel aller Art, aber keine Spur von Tabak. Wenn er in der Hosentasche mit dem Schlagring eine zerdrückte Zigarette gefunden hätte, wenn dann noch ein Tropfen Blut am Ring geklebt hätte, das würde weitere Nachforschungen nötig machen. Aber nein, kein Tabak, keine Spur, nur Blut aus seiner Nase und die schmerzhaft gebückte Haltung unter der niedrigen Decke. Bevor er sich die Jackentaschen vornimmt, will Wattenhofer sich die Sammlung an Sporttaschen genauer anschauen, die als Ganzes liegen geblieben sind. Er wühlt sich in der Folge durch feuchte Badetücher, die seit Wochen oder Monaten zerknüllt in Säcken vor sich hin schimmeln. Er findet aufgeweichte Sandwichs, deren Füllung mit dem Brot verschmolzen ist. Er greift in eine glibberige Masse, die er am Geruch als Banane identifizieren kann. Wütend geht er dazu über, eine Tasche nach der anderen auszuschütten, um so an ihren Inhalt zu gelangen. Er ist sich bewusst, dass es ein ganz und gar unprofessionelles Vorgehen ist, weil sich so die Spuren aus verschiedenen Taschen vermischen. Aber solange er nicht in einem weißen Ganzkörperanzug steckt, ein Paar Latexhandschuhe und eine Gesichtsmaske trägt, kann von Professionalität ohnehin keine Rede sein. Er sucht nicht nach Spuren, sondern nach weiterführenden Hinweisen, rechtfertigt sich Wattenhofer vor sich selbst, als aus einem umgestülpten Sportsack ein weißes Papierchen auf den Kleiderberg schwebt. Es hat die typische Röhrenform einer Zigarette. Den abgerissenen Filter findet er in der Tasche, in den Nähten kann er einige Krümel Tabak sicherstellen. Der Aufdruck auf dem Filter beweist, dass die Überreste der Zigarette zu der leeren Schachtel passen, in der er den Schlüssel gefunden hat. Er kann nicht verhindern, dass ein leises Triumphgefühl in ihm aufsteigt, und für einen Moment vergisst er den pochenden Schmerz in seiner Nase. Leider geht in der Erleichterung auch vergessen, wie niedrig die Decke hängt. Als er sein Kreuz durchstreckt, schlägt er mit dem Hinterkopf gegen den Eisenbeton, der die Tonnen von Wasser über ihm trägt. Es ist kein heftiger Schlag, eigentlich nur ein Anstoßen, was Wattenhofer unter normalen Umständen keinen Fluch wert wäre. Die Erschütterung aber führt dazu, dass der abklingende Schmerz jäh wieder aufflammt und ihm neuerlich ein Schwall Blut in die...