E-Book, Deutsch, 143 Seiten
Landerl Das Buch Helga
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-99014-281-3
Verlag: Muery Salzmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 143 Seiten
ISBN: 978-3-99014-281-3
Verlag: Muery Salzmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christina Maria Landerl wurde 1979 geboren und wuchs in Sierning (Oberösterreich) auf. Sie studierte Germanistik an der Universität Wien und anschließend Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Dort schloss sie 2011 mit ihrem vielbeachteten Debütroman 'Verlass die Stadt' (erschienen bei Schöffling und Co) ab. Bei Müry Salzmann veröffentlichte sie die Romane 'Donnas Haus' (2016) und 'Alles von mir' (2020) sowie den Foto-Text-Band 'TelAviVienna' in Zusammenarbeit mit der Künstlerin Ronny Aviram. Landerl ist ausgebildete Sozialpädagogin und Traumafachberaterin und arbeitete viele Jahre mit Jugendlichen und jungen Frauen*. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin in Berlin und Wien.
Autoren/Hrsg.
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(Klosterschule)
Jetzt ist es vorbei mit idyllischer Kindheit in hügeliger Landschaft.
Es wurde beschlossen, dass Helga die Hauptschule in der größeren Stadt, knapp zwanzig Kilometer entfernt von W., besuchen wird. Es wurde beschlossen, dass Helga die nächsten vier Jahre im Internat dieser Klosterschule verbringen wird. Und es wurde beschlossen, dass ihre beste Freundin Ingrid sie begleiten wird.
Wer hat das beschlossen? Warum?
Die größere Stadt ist die Bezirkshauptstadt, eine rote Stadt, eine Arbeiterstadt, eine Fabrikstadt, aber das ist nicht wichtig, weil die Kinder das Internat ohnehin kaum verlassen werden, schon gar nicht ohne die Ordensschwestern, und von der sündigen Stadt mit Rotlichtviertel so gut wie nichts sehen werden.
(Ankunft)
Was ist das für ein Tag im September, an dem Ingrid und Helga von ihren Eltern im Internat der Klosterschule abgegeben werden?
Ich wünsche ihnen noch einmal warmen Sonnenschein, aber ich glaube, es stehen Tropfen auf der Vorderscheibe von Josefs Auto, das neben dem von Fanny und Ernst vor dem großen alten Gebäude parkt.
Auf den Rücksitzen zwei nervöse Zehnjährige, die sich, weil sie es nicht besser wissen, freuen auf die Zeit hier, die vielleicht schon einige der gerade beliebten Mädchenbücher über das Leben im Internat gelesen haben, die, während die Eltern die vielen großen Gepäckstücke aus den Kofferräumen heben, aufgeregt über das Gelände durch den Regen hüpfen und die geheimen Pyjamapartys und Streiche planen, die in ihrer Zukunft liegen.
So wird das hier nicht sein.
(Der Gebäudekomplex)
Die Klosterschule liegt am Stadtrand, nahe der Bundesstraße, fast am Fluss. Neben der Schule ist ein Sportplatz, davor eine Grünanlage; hier befindet sich auch der Gemüsegarten der Internatsküche.
Im alten, zweiteiligen Gebäude, auf dessen linker Hälfte St. Anna, auf dessen rechter Hälfte im Jahr 1964 immer noch Waisenhaus steht, obwohl es zu diesem Zeitpunkt schon lange keines mehr ist, befindet sich das Internat für die Schülerinnen und Schüler: die Knaben im oberen Stock, die Mädchen darunter, ganz unten die Wirtschaftsräume.
Im neueren Gebäude, das links an das alte angrenzt, sind die Klassenräume, in denen die Buben und Mädchen gemeinsam sitzen, untergebracht. An die Schule schließt sich die kleine Kirche an; es ist zu dieser Zeit möglich, von den Räumen des Internats durch die Schule bis in die Kapelle durchzugehen. So müssen die Kinder das Gebäude von Sankt Anna nur selten verlassen.
(Abschied)
Für die nächsten vier Wochen werden die Kinder ihre Eltern nicht sehen; sie sollen sich an die Trennung von Mutter und Vater, an das Heimweh gewöhnen.
Nachdem die Koffer hinaufgetragen und die Formalitäten erledigt sind, ist es Zeit, Abschied zu nehmen. Er fällt manchen schwerer und anderen leichter, Josef und Helga haben Tränen in den Augen, während Ingrid schon so sehr ins Gespräch mit den anderen Mädchen vertieft ist, dass sie ihren Eltern nur noch von Weitem zuwinkt. Josefa drängt darauf, aufzubrechen und die Kinder in Ruhe ankommen zu lassen.
Die Mädchen beziehen ihre Betten: Das von Helga steht am Fenster, das von Ingrid daneben. Es ist ein Schlafsaal mit etwa fünfzehn Kinderbetten aus Stahlrohr, eines neben dem anderen, zwei Bettenreihen einander gegenüber.
Am anderen Ende des Raumes befindet sich ein weißer Vorhang; und dahinter das Bett der Abteilungsschwester, wie den eben angekommenen Mädchen erklärt wird.
(Die Schwestern)
sind vom Orden der Barmherzigen Schwestern, im englischen Sprachraum als Sisters of Mercy bekannt. Die Klosterfrauen von Sankt Anna tragen einen schwarzen Habit mit großem weißen Kragen, der unter den Schultern, Eckzähnen ähnlich, lang und spitz nach unten zeigt. Auch der Schleier ist weiß. Am Gürtel hat jede der Schwestern einen Rosenkranz befestigt, das Klackern der Perlen macht sie von Weitem schon hörbar.
Die Ordensfrauen sind als Lehrerinnen und Erzieherinnen tätig, als Köchinnen und Wirtschafterinnen. Im ganzen Haus ist kaum je ein erwachsener Mann zu sehen; kommen der Priester der Pfarre oder der Hausmeister vorbei, verwandeln sich die Schwestern in aufgeregte Schulmädchen.
Barbara erzählt mir das, während sie mich durch das verwinkelte, alte Haus führt, in dem sie vier Jahre verbracht hat und das sie jetzt, über fünfzig Jahre später, zum ersten Mal wieder betreten hat.
Heute ist hier keine Schwester mehr tätig oder wohnt hier; die letzten haben das Haus vor wenigen Jahren verlassen, und das Internat gibt es lange nicht mehr. Schule und Hort sind nach wie vor privat und katholisch geführt.
(Neue Freundinnen)
Barbara und Helga H., der Vorname ist beliebt zu der Zeit, schlafen nachts im selben Schlafsaal, sitzen untertags im selben Klassenraum und mittags am selben Tisch wie Helga und Ingrid.
Barbara ist ein stilles und ernst wirkendes Mädchen; sie kommt aus einem Ort namens W. – ein anderes W. als das von Helga und Ingrid –, der etwa dreißig Kilometer südwestlich der Stadt liegt. Sie ist hier, weil ihr Vater einen Schlaganfall hatte und weil auf dem Bauernhof, von dem sie stammt, zu viel zu tun ist, um sich um ein Kind zu kümmern, das eine schlechte Hüfte hat und deshalb keine große Hilfe bei der Arbeit ist. Außerdem ist Barbara gut in der Schule und liest immerzu, versteckt ihre Bücher sogar im Stall. Sie soll eine gute Ausbildung bekommen.
Helga H., klein, zart und fröhlich, stammt aus B., einem Ort, der nur zehn Kilometer östlich der Stadt liegt. Trotzdem muss sie jede Nacht in einem der Stahlrohrbetten schlafen.
Niemand weiß mehr, was der Grund dafür war; Helga H. lebt heute, so heißt es, ganz woanders, weit entfernt von der Klosterschule.
(Die Zähne des Nachbarsbuben)
Warum musste meine Mutter Helga in das Internat von Sankt Anna, warum musste sie so früh weg von zuhause, was war der Grund dafür? Das habe ich meine Großmutter Josefa einmal gefragt.
Sie hatte eine Antwort, wie sie immer Antworten hatte, auf alles:
Nach der Volksschule in W. wäre Helga in die Hauptschule nach B. gekommen, da fuhr aber kein Bus hin zu dieser Zeit. Weil der ältere Nachbarsbub Leopold auf seinem Weg zur Schule in B. mit dem Fahrrad verunfallte und sich zwei Zähne ausschlug, sind sie und Josef übereingekommen, das Mädchen zur Sicherheit ins Internat zu geben.
Die Hauptschule Sankt Anna wäre sogar mit dem Bus erreichbar gewesen, aber, so Josefa, diese tägliche weite Fahrt wollten sie der kleinen Helga nicht zumuten.
Meine Großmutter klang nicht ganz überzeugt von ihrer Rechtfertigung.
Am Ende ihres Lebens begann Josefa an manchen ihrer Entscheidungen zu zweifeln.
(Tagesablauf)
Wie die Tage verlaufen in diesen ersten Monaten in der Klosterschule, im ersten Jahr und eigentlich auch in den Jahren darauf:
Aufwachen.
Beten.
Waschen, anziehen, Betten machen, beten – beten, dass das Leintuch ausreichend gespannt ist, dass die Schwester nicht tadelt und schimpft; anstellen in Zweierreihen, beten, zusammen in den Speisesaal gehen, vor dem Frühstück beten, nach dem Frühstück beten, in die Kapelle gehen zum Beten, auf dem Weg in die Klasse beten, in der Klasse ankommen: beten.
Vor dem Mittagessen: beten, nach dem Mittagessen beten, während des Spaziergangs durch den Gemüsegarten beten, Aufgabe machen, beten, vor der Jause: beten, nach der Jause beten.
Vor dem Einschlafen noch ein Gebet, aber hilft es denn, dass Ingrid nicht weinen muss, dass Helga schlafen kann, dass morgen besser als heute wird für Barbara und Helga H. und all die anderen Heimwehkinder? Nach dem letzten Gebet wird nicht mehr gesprochen, auch nicht geflüstert, schon gar nicht geheult und bestimmt nicht getröstet, darauf achtet die Schwester. So oder ähnlich ist es gewesen. Fünfzehn mal Beten an einem Schultag hat Barbara einmal gezählt.
(Essen)
Zu Mittag gehen je zwei Mädchen von einer Abteilung in die Küche hinunter und bitten um das Essen. Sie tragen den großen Topf hinauf in den Speisesaal, das Essen wird in Blechschüsseln verteilt.
Dann wird gebetet, wie schon erwähnt. Während der Mahlzeiten wird nicht gesprochen, und es wird immer aufgegessen.
Wenn es Sulz gibt, muss Barbara sich übergeben. Gibt es Szegediner Gulasch, muss Ingrid fast kotzen. Sie versteckt die fettigen Fleischbrocken in ihrer Kleiderschürze; später, beim Gang durch den Gemüsegarten, lässt sie sie unauffällig in die Beete fallen.
Zum Abendessen gibt es Schmalzbrot, das Schmalz wird so sparsam verstrichen, dass es gerade die Poren des Schwarzbrotes füllt.
Die gute Jause, die die Eltern mitgegeben haben, darf nur am Wochenende gegessen werden, Wurst, Speck und Käse von daheim sind in...




