Hintergründe eines Booms
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-85371-930-5
Verlag: Promedia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rainer Land, geboren 1952 in Caputh (Brandenburg), studierte an der Humboldt-Universität Berlin/DDR Philosophie und Wirtschaftswissenschaften. 2005 war er Gründungsinitiator des Netzwerks »Ostdeutschlandforschung«. Er arbeitet freiberuflich als Wirtschaftsforscher in Berlin.
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Vorwort
Das vorliegende Buch verfolgt zwei Anliegen. Einerseits geht es darum, die enorme Dynamik der volkswirtschaftlichen Entwicklung Chinas seit den 1980er Jahren besser zu verstehen. Zum anderen soll Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung in Erinnerung gerufen werden,* und zwar in einer modernisierten, dem 21. Jahrhundert angemessenen Gestalt.
Beide Anliegen bedingen sich gegenseitig. Chinas wirtschaftliche Entwicklung kann mit Schumpeter sehr viel besser verstanden werden als mit neoklassischen oder keynesianischen Theorien.** Chinas Volkswirtschaft ist nicht einfach nur eine Marktwirtschaft, sondern ein Wirtschaftssystem, das systematisch darauf angelegt ist, . Man könnte sagen, es ist fast eine ideale Realisierung von Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (vgl. Flassbeck 2024, Kapitel 5.3.3.).
Wirtschaftliche Entwicklung basiert nach Schumpeter auf der Implementation, Rekombination und Selektion von Innovationen, die nicht als deterministische Folgen gegenwärtiger Zustände, sondern als Entstehung von , neuen Produkten, neuen Verfahren und neuen Kombinationen gedacht werden müssen, die in ein gegebenes Wirtschaftssystem einbrechen, es aufbrechen und durcheinanderbringen. Das Neue geht einher mit der »schöpferischen Zerstörung« eines Teils der bisherigen Produktion. Diese Innovationen und die daran anschließenden Rekombinationen erfolgen, weil das geldschöpfungsfinanzierte Kreditsystem es ermöglicht, zunächst noch gebundene Ressourcen aus gegebenen Verwendungen herauszulösen und neuen Verwendungen zuzuführen. Die endlose und zunächst unbestimmte und unabsehbare Rekombination von grundlegenden Innovationen (Basisinnovationen) in vielen Tausenden und Millionen Folgeinnovationen und Rekombinationen selektiert neue Entwicklungspfade, wobei ein Teil der bisherigen Produktion wie auch ein Teil der versuchten Innovationen deklassiert wird. Dies führt zu einem zyklischen Verlauf aus Prosperität, Rezession, Depression und Erholung, an die sich eine neue Innovationswelle anschließen kann. Anders als der neoklassische Mainstream glaubt, kehrt das Wirtschaftssystem aber nicht zum Gleichgewicht zurück. In der Erholung stabilisieren sich Reproduktionsprozesse und neue Proportionalitäten stellen sich ein. Es entsteht aber ein System. Nicht Schwankungen um ein Gleichgewicht, sondern wirtschaftliche Entwicklung ist das Ergebnis. Wirtschaftliche Dynamik kann daher nicht durch Wachstum beschrieben werden. Das Wachstumsparadigma und die falsche Wachstumstheorie – Wachstum sei Folge von mehr Kapital oder/und mehr Arbeit multipliziert mit dem exogenen Faktor »technischer Fortschritt«, der nicht erklärt, sondern einfach gesetzt wird – verstellen den Blick auf wirkliche Entwicklung. Es ist umgekehrt: Entwicklung ist der primäre und fundamentale Vorgang, Wachstum eine mögliche Folge und der abstrakte Ausdruck wirtschaftlicher Entwicklung.
Das chinesische Wirtschaftswunder erklärt sich daraus, dass intensiv an der Etablierung von Innovationsprozessen gearbeitet wurde, nachdem in den 1980er und 1990er Jahren die Grundstrukturen einer Marktwirtschaft und eines passenden Finanzsystems aufgebaut worden waren (nicht ohne Probleme und Krisen). Forschung und Entwicklung, Ausbau des Bildungssystems, Innovationszentren und selbstständig agierende Unternehmen sind die eine Seite. Das Finanzierungssystem, das systematisch kreditfinanzierte Innovationen und Infrastrukturprojekte ermöglicht, ist die andere Seite. Über das Finanzsystem, das Wissenschaftssystem und die Infrastrukturprojekte wird die wirtschaftliche Entwicklung gelenkt. Dabei wird selektiert, welche Entwicklungen gewollt sind und welche nicht. Das klappt nicht immer, aber offensichtlich oft genug.
Gelenkte Marktwirtschaft ist die , bei der die staatlichen Verwaltungen den Betrieben vorgeben, was sie produzieren sollen, und dafür Ressourcen zuteilen. Zugleich ist sie auch eine . China gelang etwas, was in der UdSSR und den anderen RGW-Staaten misslang: der Übergang aus einer planwirtschaftlich organisierten nachholenden Entwicklung zu einer gelenkten Marktwirtschaft mit innovationsbasierter Dynamik. Aus den unselbstständigen Betrieben der zentralen Planwirtschaft wurden , staatliche wie private, sich selbst tragende und finanzierende Unternehmen, die eigenverantwortlich Innovationen versuchen, selektieren und so wirtschaftliche Entwicklung generieren. Dabei werden sie gelenkt von Rahmenbedingungen, dem überwiegend staatlichen Finanzsystem und den periodisch bzw. laufend aktualisierten Zielen, die in einem gesellschaftlichen Kommunikationsprozess ermittelt und staatlich festgelegt werden. Chinas Volkswirtschaft verbindet Schumpeters Modell wirtschaftlicher Entwicklung mit der Lenkung durch geteilte Ziele, einem Grundkonsens und entsprechenden Instrumenten wie Kreditlenkung, Innovations- und Infrastrukturprojekten, Industriepolitik, ökologischen Projekten und Stadtgestaltung.
Nicht der »Markt«, sondern die Gesellschaft bestimmt, welche Entwicklungen gewollt sind und welche nicht. Dies geschieht aber nicht durch starre Planvorgaben, sondern durch diskursive Prozesse, Kreditlenkung und Industriepolitik als Instrumente. Die Kommunistische Partei als Transformations- und Diskursorganisation ist die tragende Voraussetzung für die Erhaltung des Grundkonsenses aller wichtigen sozialen Gruppen und Schichten und die laufende Aktualisierung der geteilten Ziele der wirtschaftlichen wie auch der sozialen und ökologischen Entwicklung.
Sie ist eine Organisation, die Diskurs, Meritokratie und Diktatur kombiniert und eine dynamische Transformation durchsetzt. Das ist mit großen Chancen, Hoffnungen und hohen Risiken verbunden, erfährt aber den Umfragen zufolge hohe Zustimmung in der Bevölkerung.
Wirtschaftliche Entwicklung nach Schumpeter ist die Voraussetzung für die Gestaltbarkeit, die Möglichkeit der Lenkung von Entwicklung. Darin besteht der entscheidende Unterschied zur neoliberalen Marktideologie. Dazu gehört aber auch, dass das Finanzsystem und die Finanzmärkte der realwirtschaftlichen Entwicklung untergeordnet sind und unter Kontrolle bleiben. Regulierte Finanzmärkte sind eine unverzichtbare Voraussetzung gelenkter Entwicklung.
Ich habe versucht, Schumpeters Theorie an die Gegebenheiten des späten 20. und des 21. Jahrhunderts anzupassen. Ein erster Punkt betrifft die Wichtigkeit der . Schumpeter hatte erkannt, dass sich an einen primären Innovationsschub (Basisinnovationen wie die Erfindung der Dampfmaschine und des Elektromotors oder die fordistische Massenproduktion) eine sekundäre Welle von Nachahmern und Anwendern anschließt (vgl. 1.2. in diesem Buch, insbesondere Punkt 7.). Aus meinen Forschungen (Land 1989 und 2010a) hat sich ergeben, dass die den volkswirtschaftlichen Produktivitätsschub bewirkt. Es geht dabei nicht so sehr um Nachahmer, sondern um die millionenfachen Anwendungen und Rekombinationen in der gesamten Volkswirtschaft. Diese ergeben sich zufällig, sind nicht determiniert und nicht vorhersehbar. Sie entstehen aus einem nahezu chaotischen Selektionsprozess. Das konnte man vermutlich erst in den Innovationsschüben erkennen, die nach dem Zweiten Weltkrieg stattfanden.
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dominieren nämlich Innovationswellen, die zunehmend von Organisationen (Konzernen mit Forschungs- und Entwicklungsabteilungen) und der volkswirtschaftlichen Verwertung und Kombination abhängen. Für Schumpeter war der einzelne Unternehmer, die kreative die tragende Figur im Innovationsgeschehen. Die zunehmende Institutionalisierung und Bürokratisierung des Innovationsgeschehens in den großen Konzernen, den Banken und den Staatsbehörden sah er als Problem. »Die Leitung von Industrie und Handel würde eine Sache der gewöhnlichen Verwaltung, und das Personal würde unvermeidlich die Charakteristika einer Bürokratie annehmen« (Schumpeter 2020, Kapitel 12). Diese Befürchtung hat sich nicht bewahrheitet. Die Organisation von Innovationen in kollektiven Forschungs- und Entwicklungsabteilungen und übergreifenden Netzwerken hat nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zum Niedergang, sondern zu einer Beschleunigung des Innovationsgeschehens geführt, wenn auch zu anderen Verfahren und einem anderen Typ komplexer Innovationen, die für die fordistische Entwicklung, die Raumfahrt, die Elektronik oder die Digitalisierung typisch wurden. Vielleicht ist daher heute die sekundäre Welle ein teilweise organisierter Prozess. Allerdings sind Rekombinationen immer noch Zufallsergebnisse und können nie vollständig organisiert werden. Die Unbestimmtheit der Evolution ist unhintergehbar. Schumpeters Unternehmer, die kreative Person, die neue Kombinationen sucht, findet und umsetzt, bleibt bedeutend, aber weniger als Einzelner, sondern als Organisator von Kollektiven, Kooperationen und Kommunikationsnetzen.
Anders als Schumpeter dachte, ist eine zentrale Planwirtschaft kaum innovativ, weil gerade die Rekombinationseffekte der sekundären Welle nicht zentral geplant und organisiert werden können. Zwar...