Lammert / Vormann | Das Versprechen der Gleichheit | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 254 Seiten

Lammert / Vormann Das Versprechen der Gleichheit

Legitimation und die Grenzen der Demokratie

E-Book, Deutsch, 254 Seiten

ISBN: 978-3-593-44810-7
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Gleichheitsversprechen ist das zentrale Prinzip, das der Herrschaft in modernen Massengesellschaften Legitimität verleiht. Herkunft reicht längst nicht mehr aus, um die gesellschaftliche Stellung zu rechtfertigen. Der Weg an die Macht muss zumindest theoretisch allen offen stehen. Die Gleichheit als möglichen Endpunkt der Modernisierung darzustellen, wäre allerdings verkürzt. Diese Sicht reduziert den Blick auf einzelne Nationalgeschichten - England als Wiege der Demokratie, Frankreich von Karl dem Großen bis zu Charles de Gaulle, die USA als Sonderweg. Geschichte ist aber mehr als die Erzählung von Emanzipation innerhalb einzelner Nationen. Die Entstehung liberaler Demokratien war unmittelbar von direkten Abhängigkeitsverhältnissen geprägt. Entscheidend ist die Einsicht, dass Gleichheit einen Preis hatte. Ist Demokratie, als Versprechen von Gleichheit, überhaupt ohne Ausbeutungsmechanismen möglich? Dieses Buch wirft einen Blick auf die Schattenseiten der Demokratie, indem es die USA - oft als Vorreiter und Musterschüler verklärt - im Kontext ihrer imperialen Beziehungen neu denkt.

Christian Lammert ist Professor für die Politischen Systeme Nordamerikas am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin.
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I.Wann ist Ungleichheit legitim?
Stellen Sie sich vor, Sie sind 1632 als weißer Junge in England geboren. Ihre Eltern sind reich genug, Sie auf die prestigeträchtige Westminster School in London zu schicken. An der Universität fasziniert Sie die Philosophie mehr als alles andere und dennoch werden Sie neben Ihren akademischen Erfolgen auch zu einem reichen Unternehmer. Sie bekleiden wichtige politische Ämter und äußern sich öffentlich im Namen der aufsteigenden kaufmännischen Klasse, der Sie auch selbst angehören. Sie schreiben an gegen die absolutistische Ordnung und setzen sich ein für die Gleichheit der Bürger. In Europa sind Sie ein Revolutionär, aber zugleich rechtfertigen Ihre Argumente die Kolonialisierung ferner Länder. Der Boden müsse seinem besten Nutzen zugeführt werden, wozu die indigene Bevölkerung in den Kolonien nicht imstande sei. Und wenn Sie auf die Gleichheit ›aller Bürger‹ verweisen, meinen Sie eigentlich weiße Männer und auch nur jene mit Eigentum: die Gleichheit der Privilegierten. In welchem Verhältnis steht Ihr Kampf für die Demokratie in England zu Ihren kolonialistischen Ansichten anderswo? Sind Ihre Verdienste um die Demokratie vereinbar mit Ihrem imperialistischen Machtstreben? Kann man beides voneinander trennen? Sehen Sie selbst überhaupt einen Widerspruch darin? Oder nehmen wir an, Sie sind knapp 200 Jahre später, zu Beginn der industriellen Revolution geboren, 1805 in Frankreich. Sie haben Glück: Sie sind wieder ein weißer Junge, den der Zufall in einer aristokratischen Familie hat zur Welt kommen lassen. Die Vereinigten Staaten haben bereits ihre Unabhängigkeit erklärt und Sie interessiert das dortige Gefängnissystem; Sie machen sich sogar auf zu einer ausgedehnten Studienreise, auf der Sie die amerikanische Demokratie untersuchen. Dort weitet sich tatsächlich der Zugang zur Macht allmählich auch auf andere Bevölkerungsgruppen aus, selbst wenn es bis zum Wahlrecht der Frau und zur formalen Gleichberechtigung der afroamerikanischen Bevölkerung noch über ein Jahrhundert dauern wird. Zumindest wird die Gleichheit der vielen in Ihrer Zeit theoretisch denkbarer. Sie sind Gegner der Sklaverei, doch der nordamerikanische Kontinent erscheint Ihnen als Tabula rasa und auch Sie befürworten den Siedlerkolonialismus. Hätten Sie es nicht besser wissen müssen? Als Intellektueller? Als Verfechter der Gleichheit? Als Vordenker der modernen Demokratie? Widersprüche wie diese ziehen sich konstant durch die Geschichte und Philosophie des Westens. Auf der einen Seite Bestrebungen zu mehr Gleichheit und zur breiteren Emanzipation im (nationalen) Inneren bei gleichzeitiger Ausbeutung eines sich ständig wandelnden Außen. Wir wollen John Locke und Alexis de Tocqueville – danke, dass Sie kurz deren Part übernommen haben – nicht ohne Weiteres vom Sockel stürzen. Keine Frage, uns schützt die späte Geburt vor ähnlichen Widersprüchlichkeiten und es wäre anachronistisch, heutige Maßstäbe der Kritik auf die Vergangenheit zu projizieren. Oder nicht? Erlauben Sie uns ein letztes kleines Gedankenexperiment. Wie würden wir, die Autoren dieses Textes, von Leserinnen und Lesern wahrgenommen, die in 200 Jahren unser Buch in einem staubigen Winkel eines der letzten Secondhand-Buchläden in die Hände bekämen (ja, wir glauben daran, dass es noch Bücher geben wird – und wollen in diesem Szenario optimistisch sein, dass auch der Planet noch menschliches Leben erlaubt). Seien wir ehrlich: Wir sind keine Aristokraten, aber ohne Zweifel privilegiert. Wir durften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in (West-) Deutschland (mehr oder minder) als Teil der weißen und männlichen Mehrheitsgesellschaft aufwachsen, an öffentlichen Universitäten studieren, ferne Länder kennenlernen und hatten viel Glück, auf Professuren berufen zu werden. Unser Beruf erlaubt es uns, gut durch den Monat zu kommen, nicht jeden Cent umdrehen zu müssen. Und er sieht vor, dass wir Zeit zum Nachdenken haben. Solche Voraussetzungen hat nur ein sehr kleiner Bruchteil der Weltbevölkerung. Aber selbst, wenn wir diese Privilegien nicht in diesem Ausmaß genießen dürften; wir uns also nicht mit Büchern die Zeit vertreiben könnten oder wollten, sondern als Bürger einem anderen Alltag nachgingen und aufmerksam das Weltgeschehen verfolgten, müssten wir uns vermutlich eingestehen: Unser Wohlstand hat sicherlich nicht nur mit unserer eigenen Tüchtigkeit zu tun. Ob wir es wollen oder nicht, wir sind Profiteure des Zufalls unserer Geburt und ein Stück weit auch Komplizen in einem System ungleicher Machtverhältnisse.4 Vielleicht würden uns jene Ungleichheiten aus der Zukunft betrachtet noch mehr schockieren, als sie es ohnehin tun? Welche Ungleichheiten halten wir für skandalös? Welche für akzeptabel? Unser Ungerechtigkeitsempfinden scheint sich über die Zeit zu wandeln. Es entscheidet auch darüber, welche Form der Herrschaft und welche Formen der Ausbeutung wir für legitim halten. Dass wir in einer liberalen Demokratie leben dürfen, die uns öffentliche Güter bereitstellt, dass im Kontext des Westens überhaupt solche Systeme gedeihen konnten, hängt ganz grundlegend auch mit der kolonialen Vergangenheit und ihrer, vielleicht weniger unmittelbaren, Gegenwart zusammen. W.E.B. Du Bois und C.L.R. James haben beschrieben, welche enormen Profite aus der Sklaverei hervorgegangen sind; wie jene zugleich die Grundbedingungen der demokratischen Emanzipation in Europa und Amerika schufen – und mit ihr ideell im krassen Widerspruch standen.5 Wären die Vereinigten Staaten – der Fall, den wir uns in diesem Buch genauer ansehen – ohne die genozidale Landnahme und die Sklaverei zur Weltmacht aufgestiegen? Und hätten sie ohne diese Ausbeutung anderer auch im Inneren eine demokratische Entwicklung anstoßen können? Solche Systeme globaler Ungleichheit bestehen fort, obwohl schon vor Jahrzehnten mit den Menschenrechten die Gleichheit aller postuliert worden ist. In der Gegenwart sind diese ungleichen Beziehungsgeflechte oft fast undurchdringbar komplex, sie sind undurchsichtig und oft auch unsichtbar geworden. Die wenigsten würden sich sicherlich als Rassisten bezeichnen. Aber unsere täglichen Entscheidungen – wo wir einkaufen, wo wir investieren, wen wir anstellen oder für vertrauenswürdig halten – sind selbst schon Aktionen, die in ihrer Gesamtheit viele alte Denk- und Entwicklungsmuster fortführen. Wir wollen in diesem Buch weder eine Gesamtschuld des Westens formulieren noch mit (allzu) erhobenem Zeigefinger über Sachverhalte schreiben, die komplizierter sind, als es im öffentlichen Diskurs manchmal vielleicht scheinen mag. Vielmehr geht es uns darum, besser zu verstehen, wie die Spannungen zwischen Rufen nach Gleichheit bei gleichzeitiger Toleranz von Ungleichheit die Entstehung der modernen Massengesellschaft, mehr noch, der liberalen Demokratie, begleitet haben. Welche Bedingungen also in politischen Gemeinschaften existiert haben müssen, damit sich im Inneren Bevölkerungsteile als Gruppen von Gleichen wahrnehmen können und somit – hierin liegt für uns der entscheidende Punkt – Herrschaft als demokratisch legitim empfinden konnten. Wie wir sehen werden, ist das Prinzip der grundsätzlichen Gleichheit im Laufe der letzten Jahrhunderte als Idee postuliert worden und durch institutionelle Entwicklungen zu einem Versprechen liberaler Demokratien geworden, ohne das legitime Herrschaft nicht mehr möglich scheint. Inwiefern es dazu einer Abgrenzung vom Außen und der Ausbeutung von vermeintlich anderen, auch im Inneren, bedurfte und bedarf, sehen wir uns in diesem Buch zu verschiedenen Momenten am Beispiel der Geschichte der Vereinigten Staaten an; jenem Land, das oft als Musterschüler der Demokratie gefeiert worden ist, wenngleich das Erbe der externen und internen Kolonialisierung auch heute noch lange Schatten wirft. Es geht uns hier allerdings nicht lediglich um die in den Kulturwissenschaften häufig besprochene identitäre Unterscheidung nationaler Gesellschaften voneinander – also wie ›wir‹ uns über ›andere‹ definieren –, sondern vor allem um die Möglichkeit, die Grenzen des ›Wir‹ immer wieder neu auszurichten und Andersheit, Alterität, für die eigene politische Gemeinschaft auszunutzen. Besonders interessiert uns, wie das Versprechen der Gleichheit, welches nationale Bewegungen und bürgerliche Revolutionen ja im Zuge der Aufklärung mit sich gebracht haben, oft nicht durch Mittel der sozialen Gerechtigkeit (allem voran durch Umverteilung und weitere Interventionen des Sozialstaats), sondern über die Ausbeutung anderer angegangen wurde (Vertreibung, Versklavung und andere Mittel der Unterdrückung des Extraktionsstaats). Wir argumentieren, dass dieses staatlich gesteuerte Modell im Kontext der USA...


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