Laher | Einleben | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 168 Seiten

Laher Einleben

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-7099-7449-0
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 168 Seiten

ISBN: 978-3-7099-7449-0
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ginge es nach der Statistik, dann dürfte die kleine Steffi eigentlich gar nicht existieren: Dann hätte ein Arzt im Rahmen des Schwangerenuntersuchungsprogramms die Diagnose "Down-Syndrom" gestellt und ihrer Mutter Johanna eine Abtreibung nahegelegt. Doch Steffi, so scheint es, hat diese Logik erfolgreich hintertrieben und ist da, samt ihrem atypischen Chromosom.
Das Einleben beider, des etwas anderen Kindes in diese Welt und seiner Mutter in den Alltag mit Steffi samt allen Konsequenzen, die sich daran knüpfen, formt Ludwig Laher zu einem vielschichtigen Roman, einem Geflecht aus eindringlichen Momentaufnahmen, tastenden Reflexionen, unerwarteten Bezügen und überraschenden Wendungen.
Ohne moralische Besserwisserei und sentimentale Ungenauigkeiten lädt Laher die Leserschaft ein, ihn auf seiner abenteuerlichen Gratwanderung zu allerlei Wägbarkeiten zu begleiten. Mit der ihm eigenen "mitreißenden Diskretion" - so ein Kritiker über Ludwig Lahers letzten Roman Und nehmen was kommt - nähert sich der Autor so einer der großen Herausforderungen, mit denen uns die modernen Wissenschaften konfrontieren.

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Leise steht er schließlich auf, schleicht auf den Balkon, raucht eine Beruhigungszigarette und gleich noch eine zweite. Die Erleichterung, daß es doch wieder glimpflich abgegangen ist, überwiegt aber bald seinen Ärger. Jeder Widerstand gegen Johannas Sturschädel wäre ohnehin zwecklos, sagt er sich, als er die dritte Zigarette ausdämpft. Und was hätte ich ihr schon an willkommener Unterstützung anzubieten? Mario wird sie daher nicht auf die Kränkung ansprechen, derentwegen, so irrational sie auch sein mag, er andererseits freilich auch diesmal kein Wort über die Lippen bringen wird, wie sehr er sie bewundert, wie stolz er ist auf sie. Morbus Down, die Down-Krankheit: Daß Sprache Wirklichkeiten schaffen kann, steht außer Frage. Wie in der Vergangenheit mit Menschen von Steffis Zuschnitt verfahren wurde, hat viel mit dem Reim zu tun, den sich die Altvorderen auf das machten, was sie an ihnen vorzufinden meinten. Organische Defekte wie die häufigen Herzfehler der Babys waren wohl kaum entscheidend daran beteiligt, daß sie prinzipiell als unheilbar krank empfunden wurden. Wenn Steffi etwa nach einer schweren Atemwegsinfektion samt Pseudokrupp endlich wiederhergestellt ist, ist sie für Johanna selbstverständlich nicht mehr krank. Vielleicht ist es auch nur ein blöder Vergleich, aber ihr fällt in diesem Zusammenhang immer wieder die alte Geschichte mit dem Okapi ein: Irgendwann zu Weihnachten, die jüngere Schwester war da noch gar nicht auf der Welt, bekamen ihr Bruder Andreas und sie niedliche Steiff-Tiere, sie ein Lama, er eben ein Okapi. Für ihn war der braune Vierbeiner mit dem gestreiften Hinterteil und den weißen Stutzen an den Beinen eindeutig ein Pferd, für Johanna hingegen ein komisches Zebra. Daß die auch zu den Pferden gehörten, war ihr nicht bewußt. In der Schule erfuhr sie viel später, das zentralafrikanische Okapi sei in Wirklichkeit eine Waldgiraffe, wäre aber von frühen Forschern zunächst falsch unter Equus, also Pferd, eingeordnet worden. Wenn ein noch so verbreiteter Kategorisierungsirrtum nicht mehr zu halten ist, wird er schließlich korrigiert. Johanna würde sich für Steffis Anderssein die Bereitschaft der Gesellschaft wünschen, vom Stigma-Begriff Krankheit abzurücken. Der Hang zur Pathologisierung dürfte übrigens, ist Johanna überzeugt, weiter verbreitet sein, als man glauben möchte, und beileibe kein vorwiegend historisches Phänomen. Es hat sie zum Beispiel besonders in den ersten Monaten ihrer Schwangerschaft erhebliche Kraft gekostet, sich nicht davon anstekken zu lassen, diesen kraftvollen natürlichen Prozeß in ihr, diesen Auftakt zur Grundmelodie des Lebens für das Kind in erster Linie als eine einzige medizinische Problemstellung zu begreifen, die vielen Müttern ungesunden Streß verursacht und, wenn man entsprechenden neurologischen Untersuchungen Glauben schenken will, den Ungeborenen auch. Das Nashorn ist krank. Steffi deckt es gut zu, nur das Plüschhorn und ein Schnauzenrest ragen heraus. Seine Medizin hat es schon genommen, der Löffel liegt noch in der Nähe unter dem Couchtisch. Steffi zeigt dem Patienten jetzt geschäftig die passende Ausgabe der Reihe Mein allererstes Bildwörterbuch, obwohl das arme Tier auf dem Horn gar keine Augen hat. Da! sagt sie und deutet mit dem Zeigefinger auf das Stethoskop links oben. Da!, und gemeint ist jetzt die moderne Zugangsvoraussetzung zur medizinischen Behandlung, eine chipbestückte Plastikversicherungskarte, die gleich daneben in der Mitte des bunten Umschlags prangt, direkt über dem Buchtitel in Großbuchstaben: BEIM ARZT. Und schon wieder: Da! Otoskop heißt das Ding, steht darunter. Merkwürdig, diese Begriffsauswahl für die ganz Kleinen. Selbst Johanna kann noch etwas lernen dabei, weil sie sich ihr Leben lang nie damit beschäftigt hat, wie denn nun das komische Instrument heißen mag, mit dem Ohren und Trommelfell untersucht werden. Als sie ein Kind war, kam es ihr vor wie ein frecher Vogel, kleiner Kopf, langer Schnabel, auf der Suche nach Eßbarem in ihren Gehörgängen, einem Wurm vielleicht. Mehr brauchte sie nicht zu wissen, das genügte vollkommen. Hat es Zeitungsberichte über erbitterte juristische Auseinandersetzungen in Sachen Schadensfall Mensch früher nicht in diesem Maße gegeben? Oder fallen sie Johanna erst ins Auge, seit sie selbst solch ein Mangelkind hat? Nicht irgendeine abstrakte Gestalt, sondern jemand wie Steffi und damit auch ihre Steffi selbst wurde in einem dieser Artikel so bezeichnet, als wären wir nicht alle auf die eine oder andere Weise ausgeprägte Mangelwesen. Spitzt sich da neuerdings etwas zu, überlegt Johanna immer öfter, wird das ohnehin dünne Zivilisationseis zusehends dünner, je mehr der Mensch über seinesgleichen in Erfahrung bringt, je selbstverständlicher er Abweichungen vom einmal festgesetzten Standard als unzweckmäßig, hinderlich, lästig, gar als ausscheidenswürdig betrachtet? Ist das nicht ein zu einseitiger, ein zu selbstgerechter Ansatz? nimmt sie sich bei nächster Gelegenheit zurück, gerade im Hinblick auf meine eigene Schwangerschaftsgeschichte. Das Rad der Zeit läßt sich nun einmal nicht zurückdrehen, wer weiß, kann dieses Wissen nicht mehr tilgen, ich hatte schlicht und einfach das große Glück, nicht zu wissen. Andererseits: Ist es überhaupt vorstellbar, daß Mütter ihr Nichtwissen im nachhinein als derart massives Unglück empfinden, dessentwegen sie sogar vor Gericht ziehen, um es in Geld aufwiegen zu lassen und quasi Schadenersatz für die Existenz ihrer Steffi zu erstreiten, mag sie nun Leonie heißen oder Sabrina, obwohl die trotz all ihrer Defizite in der Montessori-Schule sitzt und sich selbst gar nicht als Schaden wahrnehmen dürfte, sondern sicherlich gerne lebt wie meine? Daß selbst Frauen, die ihre eigene Schwangerschaft viele Monate lang nicht bemerken, nicht spüren oder spüren wollen, in dieser Zeit keine Arztordination von innen sehen und schließlich zu Müttern absolut gesunder, quicklebendiger Kinder werden, sich mithilfe gefinkelter Anwälte vermehrt auf die juristische Suche nach einem möglichen Schuldigen machen, der zahlen soll für solch ein Ungemach, Johanna kann das nicht recht nachvollziehen. Sehr gut nachvollziehen kann sie hingegen mittlerweile jene offensichtlich ausweglosen Beziehungskrisen ohne eindeutig dingfest zu machende Schuldige, in die ein aus heiterem Himmel hereingeschneites Nichtstandardkind einander ursprünglich zugetane Partner zuweilen manövriert. Das war aber nicht immer so. Im Freundeskreis ihrer Eltern findet, oder besser: fand sich ein einst umgänglicher Mann, erinnert sich Johanna, der mit den körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen seines einzigen Sohnes überhaupt nicht zurechtgekommen ist. Der schon die Entscheidung seiner Frau für dieses Kind nicht mittragen wollte oder konnte, der sich von ihr nur wenige Monate nach der Geburt von Markus trennte, der sich nicht nachvollziehbare Ärztepannen in der Schwangerschaft zurechtgelegt, ja sogar konkret ausgemalt und herumerzählt hatte, um Verantwortliche für sein Leid zu identifizieren. Der schließlich vollends aus der Bahn geriet und den gut bezahlten Job schmiß, jetzt von der Sozialhilfe lebt und völlig zurückgezogen, stets, wie es heißt, ein gut gefülltes Glas mit Hochprozentigem griffbereit, an seiner Modelleisenbahnanlage werkelt, einer von ihm selbst geschaffenen übersichtlich kleinen Welt, in der alles seinen von ihm zugedachten Platz hat, den von ihm aufgestellten Regeln gehorcht. Johanna konnte damals, da studierte sie noch, nicht das geringste Quentchen Verständnis für Onkel Christophs Verhalten aufbringen, den sie seither, er war ohnehin nur einer von diesen lästigen Elternwahlonkeln, konsequent nicht mehr Onkel nennt und seit etlichen Jahren nicht mehr gesehen hat. Aber, wie immer man es auch dreht und wendet, denkt sie sich jetzt spätabends im Bett, während Mario neben ihr schon längst das Land der Träume aufgesucht hat, aus diesem Christoph ist durch Tante Ediths Entscheidung für Markus ein durch und durch unglücklicher Mensch geworden, dessen Leben verpfuscht ist, wie seine ehemaligen Freunde das drastisch ausdrücken. An Ediths Gewißheit, richtig entschieden zu haben, konnte das freilich nichts ändern. Sie hat Markus nie weggegeben, ihr Leben von Grund auf neu organisiert und lange Zeit völlig auf ihn abgestimmt. Seit er in der geschützten Werkstätte beschäftigt ist, arbeitet sie wieder in ihrem alten Beruf, sogar einen Freund hat sie, nur heiraten will sie auf keinen Fall mehr. Natürlich sei sie oft verzweifelt gewesen, sagt sie rückblikkend, aber ihr Glaube habe ihr, wann immer sie nicht mehr aus und ein wußte, anscheinend die nötige Kraft gegeben, alles irgendwie durchzustehen. Eine fatale Doppelmühle war das, nüchtern betrachtet. Ganz egal, wie sie sich damals in der Schwangerschaft entschieden hätte, für den einen wäre es falsch und richtig für den anderen Partner gewesen, mit nachhaltigen, ja lebenslangen Folgen für Edith oder eben Christoph, von Markus’...


Ludwig Laher, geboren 1955 in Linz, studierte Germanistik, Anglistik und Klassische Philologie in Salzburg, Dr. phil.; lebt in St. Pantaleon (Oberösterreich). Er schreibt Prosa, Lyrik, Essays, Hörspiele, Drehbücher und Übersetzungen; dazu kommen wissenschaftliche Arbeiten. Mehrere Bücher, bei Haymon: Selbstakt vor der Staffelei. Erzählung (1998), Wolfgang Amadeus junior: Mozart Sohn sein. Roman (1999), Herzfleischentartung. Roman (2001), So also ist das / So That's What It's Like. Zweisprachige Anthologie (2002), Aufgeklappt. Roman (2003), Folgen. Roman (2005), Und nehmen was kommt. Roman (2007). Ixbeliebige Wahr-Zeichen? Über Schriftsteller-'Hausorthographien' und amtliche Regel-Werke (Studienverlag, 2008). Zuletzt: Einleben. Roman (2009) und Verfahren. Roman (2011, Longlist des Deutschen Buchpreises 2011).



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