E-Book, Deutsch, Band 45, 192 Seiten
Reihe: Geschenkbuch Weisheit
Lagerlöf Von Trollen und Menschen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-27651-5
Verlag: Anaconda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 45, 192 Seiten
Reihe: Geschenkbuch Weisheit
ISBN: 978-3-641-27651-5
Verlag: Anaconda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf (1858-1940) wurde in der schwedischen Provinz Värmland geboren. Nach ihrem Studium in Stockholm trat sie ihre erste Stelle als Lehrerin in der Hafenstadt Landskrona im Süden des Landes an. Zu dieser Zeit verfasste sie ihren ersten Roman, »Gösta Berling«. Als 1895 die zweite Auflage des Buchs erschien, konnte sie die Lehrtätigkeit aufgeben und sich ganz dem Schreiben widmen. Dank eines Reisestipendiums des Königs und der Schwedischen Akademie lernte sie Europa kennen und reiste bis nach Ägypten und Israel. Wieder in Schweden erlangte sie weiteren literarischen Ruhm mit ihrem Auswandererepos »Jerusalem« (1902/1903) und dem von der Schulbehörde in Auftrag gegeben Lesebuch »Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen« (1906). Zu den wichtigsten Auszeichnungen ihres Lebens gehören die Aufnahme als erstes weibliches Mitglied in die Schwedische Akademie im Jahr 1914 und der Literatur-Nobelpreis, den sie 1909 als erste Frau erhielt. Das Preisgeld ermöglichte es Lagerlöf, den Gutshof Mårbacka zurückzukaufen – ihre Eltern hatten das Anwesen wegen hoher Verschuldung aufgeben müssen. Nach dem Umzug auf das Landgut widmete sie sich neben dem Schreiben vor allem der Landwirtschaft und ihrer kleinen Fabrik, in der sie Hafermehl produzierte.
Weitere Infos & Material
Eine Geschichte aus Halland
Vor ungefähr hundert Jahren gab es im südlichen Halland einen alten Bauernhof, der an einer einsamen Stelle nahe der Küste lag. Er bestand aus kleinen, altertümlichen Häuschen mit grauschwarzen Strohdächern, und das Wohnhaus selbst war so uralt, dass es noch Dachfenster hatte.
Dieser Hof hieß Bredane. Es gehörten große Grundstücke dazu; aber nur rings um das Haus konnten sie bestellt werden. Das übrige bestand aus unfruchtbaren Flugsandfeldern.
Alte Leute wussten zu erzählen, dass früher einmal rings um den einsamen Hof ein ganzes Dorf gestanden habe. Das sei zu der Zeit gewesen, als es in Halland noch viele Bäume gab, als gewaltige Eichen- und Buchenwälder von der Meeresküste bis hinauf zur Grenze von Småland wuchsen. Damals hatte das Dorf mit seinen Feldern wie in einer Lichtung gelegen, und die Bäume hatten rings herum gestanden und es beschützt. Aber dann war der Wald gefällt worden, und nicht nur der Wald, der rings um das Dorf stand, sondern alle Wälder in der ganzen Gegend, ja alle Wälder von ganz Halland.
Es heißt, dass die Bauern von Bredane sich zuerst darüber freuten, dass sie den Wald losgeworden waren – nun konnten sie ihre Felder viel weiter ausdehnen und ihre Herden auf offenen Wiesen weiden lassen, wo sie leicht zu hüten waren. Hier und da klagte zwar einer, dass nie ruhiges Wetter sei, seit die Bäume den Wind nicht mehr aufnahmen, und andere jammerten, weil sie bis nach Småland fahren mussten, um Holz zu holen. Aber eigentlich war niemand ernstlich unzufrieden. Niemand glaubte, es könnte eine Gefahr darin liegen, dass der Wald nun dahin war.
Aber das Dorf Bredane lag, wie gesagt, dicht am Meer, und die großen Felder erstreckten sich bis zum Wasser hinunter. Und nun sagt man, es habe sich einige Jahre, nachdem der Wald gefällt war, eines Herbstes begeben, dass der Sturm ein paar verwelkte Grashügelchen unten am Ufer aufriss. Unter diesen Grashügelchen lag feiner, leichter Meersand. Er bestand eigentlich nur aus Schalen von Muscheln und Schnecken, die die große Mühle des Meeres zu feinstem Mehl gemahlen hatte; und der wurde nun vom Wind empor gehoben und begann umherzuflattern. Seitdem war es, als könne der Wind den Strand nicht mehr in Ruhe lassen. Die Grashügelchen waren verdorrt, seit der Wald die Feuchtigkeit nicht mehr festhielt, und sie wurden vom Wind fortgewirbelt, eines nach dem andern. Auf diese Weise kam immer mehr Sand ans Tageslicht und trieb mit dem Sturm fort. Er wirbelte in die Luft, tanzte ein Weilchen und fiel dann in harten weißen Haufen nieder, ungefähr so wie treibender Schnee.
Als die Bauern von Bredane dieses Spiel zum ersten Mal sahen, dachten sie sich nichts Böses dabei. Aber im nächsten Frühling merkten sie, dass die Felder, die dem Meer zunächst lagen, versandet waren.
Es war nur eine dünne Sandschicht, und sie schien der Ernte nicht viel anhaben zu können. Aber der ganze Sommer war ungemein trocken und windig. Das Getreide konnte nicht wachsen, es verwelkte, es verkümmerte zu einem Nichts. Darunter lag die Erde trocken wie Zunder, und jeden Tag riss der Wind ganze Wolken heraus und trug sie fort. Aber unter dieser dünnen Erdschicht lag wieder der leichte Meersand, fein gemahlen wie Mehl und bereit, mit dem Wind zu tanzen. Als der Sommer zu Ende war, hatte der Sturm ganze große Felder, mit denen er sein Spiel treiben konnte. Oben im Dorf Bredane saßen die Bauern und mussten mit ansehen, wie er die Sandmassen emporhob, sie gen Himmel schleuderte, mit ihnen umhertanzte und sie in Haufen und Hügelchen zu Boden warf, die der nächste Tag wieder umformte.
Jahr um Jahr ließ der Wind immer mehr Felder versanden, und die Bauern hatten immer weniger Erde zu bestellen. Sie führten zwar einen Kampf gegen den Sand, sie errichteten Zäune und gruben Deiche, aber nichts schien zu helfen. Wenn sie pflügten und harkten, war es, als hülfen sie dem Wind nur, den Sand aufzuwirbeln. Und ließen sie die Erde in Frieden liegen, dann war sie bald so versandet, dass kein grünes Hälmchen mehr hervorsprießen konnte.
Nicht genug, dass der Flugsand die Felder zerstörte: Er richtete auch sonst allerlei Schaden an. Wenn man am Morgen die Hüttentür öffnete, lag er in Haufen vor der Schwelle, er peitschte einem ins Gesicht, wenn man ausging, er rieselte durch den Schornstein und mischte sich ins Essen – und auf Wegen und Stegen lag er so tief, dass alles Gehen und Fahren unendlich mühselig wurde.
Bald konnten es die Dorfbewohner nicht länger aushalten. Nach einigen Jahren rissen ein paar von ihnen ihre Häuser ein und bauten sie tiefer im Land wieder auf. Jeden Frühling zog jemand fort, und schließlich war vom ganzen Dorf nur noch ein einziger Hof übrig.
Nun glaubte man ja, dass auch dieser Hof nicht lange inmitten der Flugsandfelder stehen bleiben würde. Aber da täuschte man sich. Der Bauer, der ihn besaß, war von jenem Menschenschlag, der sich nicht vertreiben lässt. Nicht, weil er die Gegend so sehr liebte, dass er anderswo nicht hätte leben können, weigerte er sich, seinen Wohnort zu ändern – er konnte es nicht ertragen, dass er gezwungen werden sollte, gegen seinen Willen fortzuziehen. Lieber wollte er da bleiben, wo er war, und mit dem Sand kämpfen.
Und dann kam es so, dass sein Sohn und alle, die nach ihm den Hof besaßen, derselben Gesinnung waren. Sie wollten nichts davon hören, dass der Sand sie zwingen konnte, den Hof zu verlassen, solange sie noch einen Spaten heben konnten, um dagegen anzukämpfen. Und es war kein leichter Kampf, den sie zu führen hatten, vor allem deshalb, weil niemand sie lehrte, wie er geführt werden musste. Niemand sagte ihnen, wie sie den Sand binden sollten, damit er sich still verhalte. Sie begnügten sich damit, dichte Zäune um die Felder zu ziehen, die dem Wohnhaus zunächst lagen, um doch wenigstens diese zu bewahren.
Diese Menschen fragten nicht danach, dass sie um ihres Starrsinns willen in Not und Armut leben mussten. Sich nicht vertreiben zu lassen stellten sie über alles andere. Anstatt der großen Viehherden, die sie früher besessen hatten, hielten sie jetzt nur einige wenige Kühe und ein einziges Pferd. Doch solange sie die füttern konnten, waren sie immerhin imstande, da wohnen zu bleiben.
Was sie bestärkte, war wohl der Umstand, dass ein solcher Kampf ihnen Ansehen brachte. Den Leuten gefiel es, dass sie sich nicht vertreiben ließen. Und wenn der Bauer aus Bredane sich in einer Volksversammlung zeigte, dann drehte sich immer jemand um, um den zu betrachten, der die Kraft hatte, im Flugsand auszuharren.
Aber vor hundert Jahren, als der Kampf zwischen den Menschen und dem Sand am heftigsten tobte, sah es plötzlich aus, als sollte der Sand die Oberhand gewinnen. Der Bauer auf Bredane starb plötzlich im besten Mannesalter, und der Sohn, den er hinterließ, zählte nicht mehr als fünfzehn Jahre, sodass er unter die Vormundschaft seiner Mutter kam. Sie musste also nun den Kampf gegen den Sand führen. Und obgleich sie sich bisher wacker gehalten hatte, glaubte doch niemand, dass sie die Ausdauer haben würde, einen solchen Feind zu überwinden.
Der Sohn hieß Sigurd. Er geriet nach der Mutter, die blond und schön war. Seine Natur war von heiterer Gemütsart, doch solange der Vater lebte, hatte ihm dieser alle seine Sorgen anvertraut, sodass er für sein Alter ein wenig bedrückt und allzu ernst war. Er und die Mutter waren gut Freund. Sie waren darin eines Sinnes, dass sie versuchen wollten, sich auf Bredane zu halten und den früheren Besitzern nicht nachzustehen.
Als der Bauer auf Bredane ein Jahr tot war, kam ein neuer Knecht auf den Hof. Sigurd sah den Knecht erst, als er beim großen Herbstwechsel seinen Dienst antrat. Die Bäuerin hatte ihn im vorigen Sommer auf einer Hochzeit getroffen und ihn sogleich eingestellt, ohne den Sohn um Rat zu fragen. Der Knecht hieß Jan. Er war groß und schlank, hatte braunrotes Haar, blasse Wangen und schwarze Augen. Die Mutter nahm ihn besonders freundlich auf. Als er ins Haus kam, war ein großer Begrüßungsschmaus aufgetischt: Haferkuchen, frisches Brot, frische Butter, Käse, Wurst und Branntwein. Auf dem Tisch lag eine Decke wie am Feiertagsabend. Der Knecht aß unheimlich viel, und Sigurd fand es wunderlich, dass er so zeigte, dass er ausgehungert auf den Hof kam. Während der Mahlzeit und auch später plauderte er unaufhörlich, der Mund stand ihm keinen Augenblick still. Er war sehr scherzhaft, und sowohl die Mutter wie das Gesinde unterhielten sich so gut, dass sie sich vor Lachen gar nicht zu helfen wussten. Auch Sigurd ließ ihn den ganzen Abend nicht aus den Augen, aber er lachte nicht.
Der Knecht ging einen Augenblick in den Stall hinaus, um nach dem Pferd zu sehen. Und da benützte die Mutter die Gelegenheit, Sigurd zu fragen, wie ihm der Neuankömmling gefalle. Sigurd wusste, dass die Mutter sich sehr freuen würde, wenn er sagte, dass er mit ihm zufrieden sei, doch er konnte sich nicht dazu entschließen.
»Ist er nicht ein Zigeuner?«, fragte er nur.
»Ein Zigeuner«, sagte die Mutter. »Warum sollte er ein Zigeuner sein? Weißt du nicht, dass alle Zigeuner dunkel sind? Der hat doch rote Haare.«
»Ja, aber er hat Silberknöpfe an der Weste.«
»Die kann er doch haben, ohne deshalb gleich ein Zigeuner zu sein«, sagte die Mutter und schien erzürnt.
In den nächsten Tagen war Sigurd immer mit dem neuen Knecht zusammen. Was er auch von seiner Abstammung dachte, eines konnte er nicht leugnen: Dass er arbeitete. Er war so flink, dass er an einem Tag mehr ausrichtete als der frühere Knecht in vier. Dazu war er so willig, dass er mehr Arbeit auf sich nahm, als man von ihm verlangte. Nicht genug, dass er das Holz...