E-Book, Deutsch, 237 Seiten
Labudde Digitale Forensik. Die Zukunft der Verbrechensaufklärung
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7517-2385-5
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 237 Seiten
ISBN: 978-3-7517-2385-5
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Es sind scheinbar aussichtslose Fälle: Das Kind, das von einer Brücke in den Tod stürzte. Das Video, auf dem zu hören und zu sehen ist, wie im Leipziger Rockerkrieg ein Mann erschossen wird. Oder der Tatort eines schweren Raubes, an dem es zwar viele Spuren aber nur wenige Erkenntnisse gibt. Er rekonstruiert Tatorte in 3-D-Modellen, simuliert den Tathergang und schafft digitale Doubles von Opfern und Tätern. Immer dann, wenn Ermittler mit klassischen Methoden der Spurenauswertung nicht weiterkommen, wenden sie sich an Dirk Labudde. Anhand seiner spannendsten Fälle zeigt er, dass die Zukunft der digitalen Forensik längst begonnen hat, welche Chancen darin liegen, aber auch welche Risiken.
Dirk Labudde, geboren 1966, hat in Rostock, Enschede und Kaiserslautern Theoretische Physik und Medizin studiert. Seit 2009 ist er Professor für Bioinformatik und digitale Forensik an der Hochschule Mittweida. Als Berater für verschiedene Polizeien der Länder und Staatsanwaltschaften hilft er bei der forensischen Aufklärung von Straftaten und ist als Sachverständiger vor Gericht tätig.
Autoren/Hrsg.
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KAPITEL 1
DIGITALER SPURENSUCHER
Es passt einfach nicht zusammen. Von der Steilküste kann der Junge nicht ins Meer gestürzt sein. Wo sind seine Hose, die Schuhe, die Socken? Hat die Strömung sie ihm ausgezogen? Dafür war sie eigentlich zu schwach. Oder hat er sich selbst vorher entkleidet? Nur, wo sind die Sachen dann? Und wer zieht sich vor einem Unfall die Hose aus? Ich sitze mit drei meiner Studierenden vor der großen digitalen Bildschirmwand des Labors. Wir sind ratlos. Das Surren der Klimaanlage untermalt unser Schweigen. Der Kaffee in meinem Becher ist kalt. Seit Stunden versuchen wir, einen Ablauf für diesen Fall zu rekonstruieren, einen, der Antworten gibt und nicht ständig neue Fragen aufwirft. Auf dem Bildschirm ist die Steilküste des spanischen Ferienortes Lloret de Mar zu sehen, ein originalgetreu nachgebautes 3-D-Modell, das wir mithilfe von Daten aus Spezialkameras erstellt haben. Vor einigen Wochen ließen wir diese Kameras mit Drohnen über die Küste fliegen, genau dort, wo im Juli 2019 der 17-jährige Linus Wetzel* aus Hessen mit schwerem Schädelbruch tot aus dem Meer gezogen worden war. Zusammen mit zwei Freunden hatte er in Lloret de Mar mit einem Jugendreiseveranstalter Urlaub gemacht. Auch für Linus Wetzel bauten wir ein Computermodell, ein Dummy, das auf seinem Körpergewicht und seiner Größe beruhte. Von Dutzenden Positionen aus ließen wir es immer und immer wieder von der Küste hinunterstürzen. Nur ein einziges Mal landete es im Wasser, allerdings von einer Stelle aus, die flacher ist und an der ein Weg verläuft, sodass Linus Wetzel nicht so dicht an der Küste hätte entlanggehen müssen. Dass sein Sturz ein Unfall war, erscheint an dieser Stelle daher eher unwahrscheinlich. Von allen anderen Stellen aus schlug das Dummy aber stets an den Klippen und Steinvorsprüngen auf – jedenfalls landete es nicht im Wasser. Wie kommen wir hier weiter? Ich laufe zwischen Bildschirmwand und Stuhl hin und her, in Bewegung kann ich besser denken. Noch einmal gehen wir alle Informationen durch: Linus Wetzel soll in der Nacht nach einem Streit mit Freunden oder Fremden am Strand – dazu gibt es unterschiedliche Aussagen – den Weg hinauf zu den Klippen gelaufen sein. Vorher machte er noch einen Abstecher in eine Bar. Dort fiel er auf, weil er betrunken und hilflos wirkte. Er soll dann weiter in Richtung Steilküste gelaufen sein. Danach verliert sich seine Spur. Die spanische Polizei geht davon aus, dass er betrunken von den Klippen ins Meer stürzte. Ein Unfall also. Doch unsere Simulation zeigt, dass das sehr unwahrscheinlich ist. Und es bleiben die vielen unbeantworteten Fragen: Warum ist die Aussage des Freundes so widersprüchlich? Und wo sind die Hose, die Schuhe, die Socken? Das alles passt einfach nicht zusammen. * Morde, Raubüberfälle, Erpressungen, nicht zu identifizierende Leichen und uneindeutige Tode wie der von Linus Wetzel bestimmen seit Jahren meinen Alltag. Vorgezeichnet war dieser Weg für mich nicht. Denn ich bin Physiker, Bioinformatiker und Professor an der Hochschule Mittweida in Sachsen. Rückblickend passte es zwar hervorragend, dass ich viele Jahre lang in der Bioinformatik als einer der Pioniere Methoden entwickelt habe, mit denen sich biologische Prozesse in Computersimulationen übertragen lassen. Doch Verbrechen interessierten mich damals höchstens im Film. Dass ich heute als digitaler Forensiker Tatorte und -abläufe mithilfe von Computersimulationen analysiere, verdanke ich dem früheren Chemnitzer Polizeipräsidenten. Er hatte seit Anfang der 2010er-Jahre immer öfter Betrugs- und Schadensmeldungen auf dem Tisch, die mit elektronischen Medien und dem Internet zu tun hatten. Doch nur wenige seiner Polizistinnen und Polizisten kannten sich damit gut genug aus, um effektiv zu ermitteln. 2013 wandte er sich deshalb an meinen Hochschulrektor: Ob wir Wissenschaftler seine Leute unterstützen könnten, etwa durch Kooperationen, wollte er wissen. Vielleicht könnten wir sie ja auch weiterbilden? Die Anfrage landete auf meinem Tisch. Seitdem hat mich die Welt der Verbrechen nicht mehr losgelassen. Heute bietet mein Lehrstuhl vielfältige IT-Forensik-Schulungen für Ermittlerinnen, Ermittler, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte an. Außerdem arbeite ich als Sachverständiger und Berater eng mit Strafverfolgungsbehörden zusammen. Parallel baute ich einen Studiengang für Allgemeine und Digitale Forensik auf, um Forschung und Praxis enger miteinander zu verknüpfen. Denn anders als in den USA, den Niederlanden oder Großbritannien werden Ermittlerinnen und Ermittler in Deutschland nicht an staatlichen Hochschulen ausgebildet, sondern an Polizei(hoch)schulen und -akademien. Einen institutionellen Austausch zwischen Grundlagenforschung und Praxis gibt es nicht. Mit meinem Studiengang versuche ich das zu ändern. Mein Team und ich entwickeln digitale Lösungen und Methoden für Ermittlungsprobleme, denen ich in der Praxis, also bei konkreten Fällen, begegne. Beides fließt in die Ausbildung der Studierenden ein, die später zur Polizei gehen, aber auch in der freien Wirtschaft als IT-Sicherheitsexperten oder als digitale Forensiker arbeiten. DER EWIGE WETTLAUF – VON EDMOND LOCARD BIS ZUR CYBERKRIMINALITÄT
Forensik ist eine Querschnittswissenschaft, und genau das macht sie so spannend für mich: Medizin, Biologie, Physik, Chemie, Psychologie greifen ineinander, und mittlerweile gehört eben auch die Informatik dazu. Das war nicht immer so. Die moderne Forensik entstand erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die Analyse und Systematisierung von Spuren ins Zentrum von Ermittlungen rückte. Zuvor konzentrierten sich diese vor allem auf Zeugenaussagen. Das Problem dabei war: Aussagen von Zeugen sind nie objektiv, zumal wenn sie – wie noch bis weit ins 19. Jahrhundert üblich – unter Androhung oder Einsatz von Gewalt zustande kommen. Der Beweiswert von Spuren wurde also immer wichtiger. Doch was genau sind Spuren? Edmond Locard, Direktor des weltweit ersten offiziellen Polizeilabors in Lyon und Begründer der modernen Forensik, formulierte es um 1910 so: Überall dort, wo er [der Täter] geht, was er berührt, was er hinterlässt, auch unbewusst, all das dient als stummer Zeuge gegen ihn. Nicht nur seine Fingerabdrücke oder seine Fußabdrücke, auch seine Haare, die Fasern aus seiner Kleidung, das Glas, das er bricht, die Abdrücke der Werkzeuge, die er hinterlässt, die Kratzer, die er in die Farbe macht, das Blut oder Sperma, das er hinterlässt oder an sich trägt. All dies und mehr sind stumme Zeugen gegen ihn. Dies ist der Beweis, der niemals vergisst. Er ist nicht verwirrt durch die Spannung des Augenblicks. Er ist nicht unkonzentriert, wie es die menschlichen Zeugen sind. Er ist ein sachlicher Beweis. Physikalische Beweismittel können nicht falsch sein, sie können sich selbst nicht verstellen, sie können nicht vollständig verschwinden. Nur menschliches Versagen, diese zu finden, zu studieren und zu verstehen, kann ihren Wert zunichtemachen.1 Einen Tatort ohne Spuren gibt es also nicht. Wobei unter Tatort nicht nur der eigentliche Ort des Geschehens zu verstehen ist, sondern es sind auch all jene Orte, die einen Bezug zur Tat haben, etwa weil sich Täter oder Opfer vorher oder nachher dort aufhielten. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurden dann die Grundlagen für die heutige Spuren- und Tatortanalyse gelegt: Systematiken und wissenschaftliche Methoden entstanden, um etwa Schusswaffen zu analysieren, um Merkmale abzugleichen, mit denen sich Menschen identifizieren lassen – wie Schuh- und Fingerabdrücke, DNA-Spuren –, oder um Verletzungen von Opfern rechtsmedizinisch einzuordnen. Ab den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelte sich ein neuer Tat- und Spurenort: die digitale Welt. Computer wurden zu einem Massenprodukt, das Internet trat seinen Siegeszug an und veränderte die Arbeits- und Lebensweise der Menschen fundamental. Heute gibt es kaum noch einen Bereich, der nicht digital beeinflusst ist. Die meisten von uns führen längst ein digitales Leben: 94 Prozent aller über 14-jährigen Deutschen nutzen das Internet und verbringen im Schnitt darin täglich 136 Minuten. Und es wird immer mehr: In den vergangenen fünf Jahren hat sich die Nutzungsdauer digitaler Medien fast verdoppelt.2 Überwachungskameras filmen uns, wir schreiben Sprachnachrichten, chatten in Messengern, suchen im Netz nach Themen oder Produkten, bestellen diese und hinterlassen dabei – Spuren. Natürlich nutzen und missbrauchen auch Kriminelle all dies. Doch bis die Strafverfolgungsbehörden begannen, die digitale Welt als Tatort ernst zu nehmen und bei Ermittlungen auch an diesen Bereich zu denken, dauerte es eine Weile – die Entstehungsgeschichte unseres Studiengangs ist nur ein Beispiel dafür. Selten wurde der technologische Wettlauf zwischen Tätern und Ermittlern unter so ungleichen Startbedingungen begonnen wie im Zeitalter der Digitalisierung. Ein frühes Beispiel für diesen Wettlauf liefert bereits Locards Lehrer, der französische Kriminalist Alphonse Bertillon. Der drängte einst darauf, Straftäter in möglichst immer gleicher Position und auf die gleiche Art und Weise zu fotografieren; erst dann seien die Aufnahmen hilfreich bei der Suche und Identifizierung von Tätern. Damit hatte er zwar recht. Doch es dauerte nicht lange, bis Verbrecher begannen, ihr Äußeres zu ändern, sich Bärte und Haare wachsen zu lassen oder sie zu färben. Der Wettlauf zwischen Tätern und Kriminaltechnik läuft seitdem in immer schnellerem Tempo. Technologien entwickeln sich rasant. Täter adaptieren sie so schnell, dass Strafverfolgungsbehörden naturgemäß das Nachsehen haben. Ihre Strukturen sind nicht gut geeignet,...