E-Book, Deutsch, 288 Seiten
LaBan So wüst und schön sah ich noch keinen Tag
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25193-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-446-25193-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Elizabeth LaBan war schon als Schülerin entschlossen, einen Roman zu schreiben: eine Mischung aus Dreiecks-Liebesbeziehung und klassischer Tragödie. 2013 erschien ihr Jugendbuchdebüt „Tragedy Paper“ in den USA. Vorher arbeitete LaBan für den Nachrichtensender NBC News und schrieb für Zeitschriften und Zeitungen. 2016 erschien die deutsche Übersetzung des Debüts So wüst und schön sah ich noch keinen Tag bei Hanser. Elizabeth LaBan lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Philadelphia.
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1 DUNCAN
Tritt ein, um Freundschaft zu schenken und zu finden
Als Duncan unter dem steinernen Torbogen hindurchging, der zu den Zimmern der ältesten Schüler führte, beschäftigten ihn zwei Dinge: welcher »Schatz« wohl für ihn hinterlegt worden war und sein Aufsatz zum Thema Tragödie. Das heißt, eigentlich war da noch etwas, was ihn beunruhigte – die Frage, welches Zimmer er bekommen würde.
Wenn die Sache mit dem Aufsatz nicht wäre, versuchte er sich einzureden, wäre sein Glück fast vollkommen. Fast. Doch der Gedanke an diesen Aufsatz – die traditionelle Jahresarbeit der Abgänger der Irving School – raubte ihm mindestens dreißig Prozent seines Glücksgefühls, was gerade an einem so wichtigen Tag ein Jammer war. Er wusste, er würde einen Großteil der kommenden neun Monate mit dem Versuch verbringen, den Begriff der Tragödie in der Literatur zu definieren, etwa unter dem Aspekt: Was macht Shakespeares König Lear zur Tragödie? Aber wen interessierte das schon? Was eine Tragödie war, das wusste er auch so – wenn etwas Schlimmes passierte. Und schlimme Dinge passierten andauernd. Doch der Englischlehrer des Abschlussjahrgangs, Mr. Simon, der zufällig in diesem Jahr auch noch der Betreuer seines Wohnbereichs war, liebte das Thema. Sehr sogar, und er liebte es, mit Wörtern wie Tragweite oder Hybris um sich zu werfen. Duncan hatte viel lieber mit Zahlen als mit Wörtern zu tun, und immerhin hatte er von einzelnen Irving-Absolventen gehört, die ohne allzu großen Einsatz klargekommen waren. Vielleicht reichte es ja, wenn er ein C für seinen Aufsatz bekam. Jedenfalls würde er sich davon nicht sein letztes Schuljahr verderben lassen. Nicht nach seinen Fehlern vom letzten Jahr.
Andererseits würde der Aufsatz ihn vielleicht ablenken, und das wäre auf jeden Fall besser, als ständig über die Vergangenheit zu grübeln.
Duncan zwang sich, zügig unter dem Torbogen hindurchzugehen, aber der Drang, stehen zu bleiben und die in den Stein gemeißelten Worte zu lesen, war groß. Dabei ging er seit drei Jahren auf diese Schule und wusste genau, was da stand. Es würde ziemlich albern aussehen, wenn er auf einmal stehen blieb und las, was dort stand. Also sagte er sich den Gruß unhörbar selbst vor: »Tritt ein, um Freundschaft zu schenken und zu finden.« So viele Male war er unter dieser Aufforderung hergegangen; jeder Weg zur Mensa oder ins Büro des Schulleiters führte ihn hier vorbei. Bisher hatte er nicht groß darauf geachtet, doch dieses Mal hoffte er, dass tatsächlich etwas daran war und er hier wahre Freunde hatte – was immer das genau bedeutete. Nach allem, was er durchgemacht hatte, brauchte er ihre Unterstützung mehr denn je.
Die Schüler des letzten Jahrgangs lebten in einem Haus direkt an dem schönen Innenhof, um den die wichtigsten Gebäude der Schule angeordnet waren. Duncan hatte drei Jahre lang ein gemeinsames Zimmer mit Tad bewohnt, doch in diesem Trakt hatte man die üblichen, größeren Räume geteilt, damit jeder Senior ein eigenes Zimmer hatte. Zum allerersten Mal, seit er hier zur Schule ging, würde er nicht mit einem anderen Jungen zusammenwohnen. Natürlich waren die Zimmer winzig, aber Duncan hätte mit Freuden eine Besenkammer bezogen, nur um allein und noch dazu direkt am Innenhof zu sein.
Er betrat sein Gebäude und nahm die vertrauten Gerüche wahr – den Essensgeruch, der aus der Mensa drang, aber auch das, was auf ihn wie der Geruch von Papier, Tinte und grübelnden Gehirnen wirkte. Auf dem Weg zur Treppe stockte er kurz, denn er wusste, gleich würde er die – gute oder schlechte – Antwort auf die Frage erhalten, über die er den ganzen Sommer voller Hoffnung nachgedacht hatte: welches Zimmer er bekommen würde. Er wusste genau, was ihn am glücklichsten machen würde: ein Zimmer mit Blick auf den Innenhof, in der Mitte des Flurs und im allerbesten Fall gleich neben Tad.
Er spürte eine Hand auf der Schulter und fuhr erschrocken herum.
»Na los, Mann, worauf wartest du noch?«, fragte Tad mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Duncan beugte sich vor, um ihm die Hand zu schütteln, doch Tad zog seine im letzten Moment zurück und startete einen Wettlauf die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Duncan rannte schon los, doch dann blieb er noch einmal stehen. Es war so weit, und fast wollte er es lieber nicht wissen. Die Einzigen, die erfuhren, welcher neue Senior welches Zimmer beziehen würde, waren die letztjährigen Seniors, und die wurden buchstäblich darauf eingeschworen, nichts zu verraten – sie leisteten einen Eid, und wer ihn brach, bekam einen Punktabzug in der Gesamtnote, und auch die Colleges wurden darüber informiert. Am letzten Schultag hinterließ jeder nicht nur den Namen seines Zimmernachfolgers an der Tür, sondern auch einen »Schatz«, den der Schüler zu Beginn des neuen Schuljahres in seinem Zimmer finden sollte. Danach wurde der Zugang zu den Räumen versiegelt bis zum kommenden August. Schon so mancher neue Senior hatte versucht, sich hinaufzuschleichen, manche hatten sogar versucht, die Putzkolonne zu bestechen, die eine Woche vor Ankunft der Schüler Staub und Mief aus den Räumen vertrieb. Soweit Duncan wusste, hatte noch nie jemand Erfolg gehabt.
Und der Schatz, der ihn erwartete, konnte alles Mögliche sein.
»He, Dunc«, brüllte Tad von oben, »wenn du jetzt nicht kommst, klaue ich deinen Schatz!«
Duncan hätte gern gefragt, welches sein Zimmer sei, doch er brachte die Worte einfach nicht hervor. Was war bloß los mit ihm? So weltbewegend war es nun auch wieder nicht. In welchem Zimmer er von jetzt an wohnen würde oder was sein Vorgänger für ihn hinterlassen hatte – welchen Unterschied machte das schon für sein Leben? Doch es wäre schon toll, wenn er beim Abendessen eine richtig gute Geschichte zu erzählen hätte. Wenigstens käme damit die Unterhaltung von dem gefürchteten Thema weg, über das vermutlich alle reden wollten.
Das Spektrum der Schätze der vergangenen Jahre reichte von einer fast drei Monate alten verschimmelten Pizza bis zu einem Scheck über 500 Dollar. Gerüchteweise hieß es, irgendwelche Glückspilze hätten Eintrittskarten für ein Spiel der Yankees bekommen, eine Aktie eines großen Konzerns oder einen Gutschein für ein Essen in einem der angesagtesten Restaurants im Westchester County. Und einmal, so erzählte man sich, sollte sogar mal jemand einen Bulldoggenwelpen bekommen haben. (Die Bulldogge war das Maskottchen der Schule.) Anscheinend wollte die Schulverwaltung zunächst einen neuen Besitzer für den Hund finden, doch am Ende durfte er bleiben und bekam den Namen Irving. Angeblich gab es ein Foto von ihm in der Bibliothek, doch wann immer Duncan eine Lehrkraft fragte, ob an der Sache etwas dran sei, bekam er keine Antwort. Doch daneben gab es auch viele Geschichten über richtig lahme Schätze: Tüten mit M&Ms oder wahllos herausgegriffene Bücher.
Langsam ging Duncan die Treppe hinauf. Mitschüler klopften ihm im Vorbeirennen auf die Schulter. Dieser Treppenaufgang wurde sowohl von den Mädchen als auch von den Jungen benutzt, doch oben bogen die Mädchen dann in ihren eigenen langen Flur ab. Die Zimmer dort gingen auf das waldige Gelände hinter der Schule hinaus. Duncan hörte ein Mädchen laut quieken, in ihrem Zimmer sei ein Kaninchen! Konnte das wahr sein? Dann musste jemand es tatsächlich an der Putzkolonne vorbeigeschafft haben, um es im letzten Moment hereinzuschmuggeln, so wie auch den mysteriösen Bulldoggenwelpen. Duncan hoffte bloß, dass er kein Tier bekam. Das wäre wirklich das Allerletzte!
Fast war er oben. Wenn er jetzt aufschaute, könnte er schon sehen, welche Türen noch geschlossen waren. Dann könnte er schon mal anfangen zu raten, welches seine wäre. Doch der Flur war lang, und in diesem Teil standen die meisten Türen schon offen, was bedeutete, dass die neuen Bewohner ihre Zimmer bereits gefunden hatten. Am anderen Ende des Flurs waren noch einige geschlossen – an manchen klebten große Bögen Tonpapier, an anderen aus farbigem Papier ausgeschnittene Buchstaben, die den Namen des neuen Bewohners ergaben. Seinen eigenen Namen konnte er auf den ersten Blick nicht erkennen. Als er schon den halben Flur hinter sich gebracht hatte, verließ ihn langsam der Mut. Gerade da stürmte Tad aus einer Tür.
»Ich hab Hopkins’ altes Zimmer gekriegt«, sagte er. »Und stell dir vor, was er mir dagelassen hat.«
»Na?«, fragte Duncan, aber im Grunde war es ihm egal. Er wollte nur aus dieser trüben Stimmung heraus. Tad benahm sich völlig normal, vielleicht dachte wirklich niemand mehr an das, was im letzten Schuljahr passiert war. Welches Zimmer er hatte und welchen Schatz er da vorfand – nach ein, zwei Tagen wäre das alles kein Thema mehr. Nur über die ganz besonderen Schätze wurde länger geredet. Und was sein Zimmer anging, würde er sich an alles gewöhnen. Im Grunde gab es nur ein einziges, das niemand wollte. »Komm rein«, sagte Tad und riss Duncan damit aus seinen Gedanken.
Widerstrebend trat Duncan ein und sah sich um. Der Raum war gar nicht so klein, wie er erwartet hatte. Eigentlich sogar recht geräumig. Ein schmales Bett, ein winziger Schreibtisch (dabei arbeitete sowieso nie jemand in seinem Zimmer, alle gingen in den Freiarbeitsraum) und ein Schrank, den Tad jetzt mit großer Geste aufzog. Ganz hinten in einem der Fächer stand eine Flasche mit einer großen goldenen Schleife. Sah nach Alkohol aus. Tad holte sie hervor.
»Bourbon«, sagte er stolz. »Sogar ein richtig guter. Spezialabfüllung steht drauf. Zwanzig Jahre alt!«
»Wow«, sagte Duncan.
»Willst du einen Schluck?«
»Jetzt nicht. Erst mal will...