Kunert / Witt Vertrackte Affären
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25200-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geschichten
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-446-25200-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Günter Kunert wurde 1929 in Berlin geboren und starb 2019 in Kaisborstel. Seit 1963 erscheinen seine Werke bei Hanser; zuletzt: Nachtvorstellung (Gedichte, 1999), Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast (Aufzeichnungen, 2004), Irrtum ausgeschlossen (Erzählungen, 2006), Auskunft für den Notfall (2008), Als das Leben umsonst war (Gedichte, 2009), Tröstliche Katastrophen (Aufzeichnungen 1999-2011, 2013), Fortgesetztes Vermächtnis (Gedichte, 2014), Erwachsenenspiele (Erinnerungen, 2015), Vertrackte Affären (Geschichten, 2016), Aus meinem Schattenreich (Gedichte, 2018) und Zu Gast im Labyrinth (Gedichte, 2019). Kunert wurde für sein Werk vielfach ausgezeichnet.
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Abschied ist arm an Worten
Regiert der Imperativ als triviale Kurzformel (»Das war’s!«) den Rest des Lebens, das sich resigniert oder niedergeschlagen solcher Formel unterwirft? Oder widersetzt es sich der trostlosen Feststellung, indem es sie zur Frage auflockert: Das soll’s gewesen sein? Wie immer man die eigene, ausklingende Gegenwärtigkeit betrachten mag, Grund zur Freude bietet sie kaum. Und kommt als Steigerung der Trübsal eine bedrückende Umgebung hinzu, dann sehnt man sich an die vormaligen Stationen seines Daseins zurück, selbst wenn diese Gefahren enthielten.
So wie allen Leuten in ähnlicher Situation erging es Herrn O. in seinem Heimatort, einem Sammelsurium halb verfallener Häuser, durchweht von Menschenleere und Gestank aus offenen Abwasserrinnen beidseits holpriger Bürgersteige. Je länger seine Heimkehr zurücklag, desto häufiger kamen ihm die überstandenen Leiden wie unterhaltsame Abenteuer vor. Mit den einsamer werdenden Jahren war für O. die Langeweile zu einer schwer ertragbaren Last geworden, zum Taedium vitae, das zum Gedankenspiel mit dem Suizid einlud. Wenn er sich, aus dem schmutzigen Gasthaus vom Essen kommend, träge nach Hause begab, von einem halben Liter Wein sowohl angeregt wie leicht umnebelt, sehnte er sich nach den Schrecknissen seiner unverwechselbaren Vergangenheit. Waren die Tod verheißenden Bedrohungen nicht doch besser, das heißt, vitalisierender gewesen als dieser triste Alltag, von dem man keineswegs behaupten konnte, er sei die Krönung eines außerordentlichen Lebens gewesen, gar der Lohn für eine allgemein als »gewaltig« anerkannte Karriere?
Deren Gestalten meldeten sich bei beginnendem Mittagsschlaf in O.’s Kopf, insbesondere dieser gewaltige Einäugige, dem es das Auge auszustoßen galt, oh, welch Geschrei und Gebrüll, Entsetzen und Flucht, Angst und Triumph, als man, gemeinsam mit den Kameraden entronnen, die tobende Gestalt hinter dem Horizont verschwinden sah. Ob er noch leben mag, fragte sich Herr O. eindämmernd, und die Zauberin, na, wie hieß sie bloß noch, so was traf man nicht alle Tage, hoho, oho, da war was dran gewesen, beim Zeus, mit einem Wort »orgiastische« Monate damals, und er selber in seiner Blüte auf dem schaumumkränzten winzigen Eiland.
Und im Traume gar befiel ihn ein tränentreibendes Bedauern, dass er mit den Freiern, mit den geilen Hausfreunden seiner Frau Tabula rasa gemacht hatte. Nun fehlten sie ihm zum Zeitvertreib. Ohne Feinde ist das Leben ebenso stumpf wie ohne Freunde! Arm dran, wer nichts besitzt außer archiviertem Ruhm: magere Kost, die nicht mehr die Seele sättigt.
Als er erwachte, lauschte er einem Geräusch nach, etwas wie verklingende Schritte, als hätte ihn jemand während seines Schlafes besucht: hallte nicht auch noch in seinem Ohr ein Klirren wie von Schild und Lanze, ein Eulenruf oder dergleichen? Solch ein Gefühl, im Zustand schnarchender Bewusstlosigkeit visitiert worden zu sein, befiel ihn oftmals, und obwohl er sich stets vornahm, gleich nach dem Erwachen aufzuspringen und eilig zur Tür zu rennen, noch den Schatten des Gastes zu erhaschen, blieb er doch immer auf der Matratze liegen, zu lethargisch, die Absicht auszuführen. Insofern war es eigentlich ein Wunder, dass er eines Tages, als ein Bus, ein mobiles Reisebüro von »Olympic Airways« im Ort hielt, stehenblieb, sogar eintrat – anfänglich nur aus Unterhaltungsbedürfnis, und sich nach einer Tour zur Insel Malta erkundigte. Zufällig gab es preisgünstige Flüge, inklusive Mietwagen, und wenn Herr O. hinterher auch davon überzeugt war, der halbe Liter Wein beim Essen habe Mitschuld an seiner Unterschrift auf dem Vertrag, so musste er sich doch eine wachsende Neugier eingestehen.
Seine Erinnerungen färbten das Gestern immer bunter, schufen immer betäubendere Szenen, und nicht nur vor oder nach dem Mittagsschlaf, sondern auch, wenn er mitten in der Nacht aufschreckte und nicht wieder einschlafen konnte, euphorisiert von seinen Phantasien. Wenig später fand er sich in Valletta wieder, einer durchwindeten Hafenstadt, von wo aus die Autofähren nach Gozo abgingen, hin zu jenem Stück Fels in den verschmutzten Fluten »seines« Meeres, wie er es bei sich nannte. In weniger als einer Stunde schob sich der schwerfällige Eisenkasten an die Reede. Herr O. hatte die ganze Überfahrt an Deck verbracht, und als fern die ersten düsteren Zacken auftauchten, wurde ihm wunderlich zumute, obwohl keine Wiedererkennungsgewissheit sich einstellte. Graues Gestein wie einst, doch jetzt seltsam verheißungsvoll. Erhöhte Pulsfrequenz beim Anblick. Beim Näherkommen wirkten die salzwasserzerfressenen Uferbrocken wieder fremder, obschon sie sich ja seit seinem letzten Aufenthalt kaum verändert haben dürften.
Dann: von der Fähre über verölten Beton und hinaus auf die asphaltierte Straße, von der hier und da primitive Schotterwege abrupt in die Ödnis abbogen. Obgleich Herr O. fast im Schneckentempo dahinrollte, aufgeregt nach den Seiten auslugend, deckte sich nichts von der Umgebung mit der Landschaft in seinem Gedächtnis, und doch musste es der Platz sein, an dem er sich jahrelang aufgehalten hatte. Und hätte nicht an einem offensichtlich morschen Pfahl ein handgemaltes, schon ausgeblichenes Schild mit der englischen Aufschrift »Circe’s Cavern« und einem plumpen, weisenden Pfeil gehangen, er von sich aus hätte sich überhaupt nicht zurechtgefunden.
Zum Glück (und daher vermutlich so billig) war er hier in der Nachsaison eingetroffen, so dass der Mangel an Touristen es ihm erlaubte, direkt vor dem Höhleneingang zu parken. Kaum ausgestiegen, musterte er bewegt die Verlassenheit ringsum.
Hatten da nicht früher Ölbäume gestanden? Vögel genistet? Ziegen an Halmen geknabbert? Neben dem übermannshohen, mit Zement zu einem ungeschickten Rundbogen zusammengeschmierten Eingang rottete eine entfärbte, hölzerne Kabine vor sich hin; kaum leserlich das Wort »Kasse«, das Glas des für den Kartenverkauf vorgesehenen Fensters gesprungen und mit Klebestreifen gesichert. Alles wie ausgestorben, bis Herr O. einen Schatten in dem kistenartigen Gehäuse wahrnahm. Gleich darauf klappte die Brettertür auf und stieß dumpf an die Seitenwand: der Schatten materialisierte sich beim Heraustreten, wurde zu einer rundlichen, untersetzten Gestalt, weiblich, brünett, in ein Gewand gehüllt, das eine Toga kopieren sollte, aber kürzer war und ein erstaunlich strammes Bein bis zum Knie sehen ließ. In der Hand hielt die Materialisation ein Ticket und einen bunten Prospekt und brachte beides, nebst einem freundlich-routinierten Lächeln, dem Besucher entgegen.
War sie es? Sie war es doch – oder? Oder war sie es etwa nicht? Voller Unsicherheit und Ungewissheit, dennoch von seinen Affekten überrumpelt, hob O. die Arme und rief: »Kirke! Ich bin es! Kennst du mich nicht mehr?« Sie ließ die Objekte ihres ärmlichen Geschäftes fallen und erwiderte strahlend und im gleichen hohen Ton: »Du bist wiedergekommen! Ich habe es gewusst! Wie ich mich freue, Philemos!« Worauf sie ihn energisch umarmte, so dass er ihren kaum zu leugnenden vorgewölbten Bauch, an den er sich nicht erinnerte, wie eingepasst in seiner Magengrube spürte. Er war enttäuscht, und es war ihm etwas peinlich, sagen zu müssen: »Nein, nein – ich bin nicht Philemos …« Doch ehe er seinen Namen nennen konnte, jauchzte sie frisch drauflos: »Ja, ja – jetzt erst erkenne ich dich! Du bist … Du bist mein …« Sie zögerte, und das tat ihm leid, einerseits seinetwegen, denn er hatte immer gemeint, den feuermetaphorisch bezeichneten »unauslöschlichen Eindruck« zurückgelassen zu haben, was sich mit großer Verspätung als Irrtum herausstellte, andererseits ihretwegen, denn ganz offenkundig zeigte ihr Gedächtnis schon Alterslücken. Oder, so ein unerwartet folgender Verdacht: waren nach seiner Abreise noch derart viele männliche Gäste bei ihr gewesen, dass sie die Übersicht verloren hatte? Freilich: ihr Vorwürfe zu machen, wär er nicht berechtigt, und so gab er sich zu erkennen, was ihm diverse Küsse auf Wangen und Mund eintrug und den Anhauch einer reichlich mit Knoblauch gewürzten, vergangenen Mahlzeit.
»Dass ich dich noch einmal wiedersehe …« sprach sie, in die Hände klatschend wie ein Kind, dem ein prächtiges Geschenk gemacht ward. Mit dem Ringfinger der Rechten machte sie eine Geste, als wische sie etwas Sekret aus den Augenwinkeln.
»Komm, komm, mein Lieber … Komm in meine Höhle …«
Schweigend ließ er sich führen, stolperte über eine ebenfalls hässlich zementierte, teils schon wieder zerbröckelte Schwelle, wobei ihm nicht mehr einfiel als »Du wohnst also noch immer hier …?«
Drinnen betätigte sie einen Schalter, und eine Reihe schirmloser Glühbirnen, von unterschiedlicher Watt-Zahl, wie er gleich bemerkte, bemühte sich vergebens, den von unzähligen Besucherschuhen geglätteten Boden auch nur ahnen zu lassen. An den Stalagmiten und Stalagtiten blinkte hier und da unerwartet ein Kristall auf, da die locker baumelnden Birnen durch den Luftzug in Schwingung gerieten.
»Du übernachtest natürlich bei mir!« hörte O. ihre Stimme aus der Düsternis, geblendet von den grellen Lichtern, und sogleich glaubte er, ihre Bauchwölbung an seinem Körper zu verspüren. Ehe er zur Antwort ansetzen konnte, folgte im nüchternen Ton: »Möchtest du Kaffee? Oder Tee? Wein? Alles vorhanden … Wie in alten Zeiten …«, doch wenn er etwas genau wusste, so die Tatsache, dass damals weder Tee noch Kaffee in dieser Höhle, falls es die echte war, ausgeschenkt wurde. Sie machte sich an einem kleinen Beistellherd zu schaffen, neben dem gefährlich nah die rote Kuppel des Butan-Gasbehälters glänzte. Herr O. nahm mehr akustisch denn...