Kunert | Ohne Umkehr | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 172 Seiten

Kunert Ohne Umkehr


1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8353-4284-2
Verlag: Wallstein Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 172 Seiten

ISBN: 978-3-8353-4284-2
Verlag: Wallstein Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Kunerts Betrachtungen sind dem Heute ebenso verpflichtet wie der Ewigkeit. Scharf gedacht, pointiert formuliert, stets offen für Neugier und Überraschungen.

Seit vielen Jahren schreibt Günter Kunert fast täglich an seinem »Big Book«, das er aber ganz und gar nicht als ein Tagebuch verstanden wissen will, über und gegen die uns umgebende Welt. Bissig und weise, melancholisch und mutig umspielt der Autor aktuelle Entwicklungen, folgt den Spuren der Vergangenheit und stellt neugierige Fragen an die Zukunft. Ein totes Pferd auf der kriegszerstörten Straße der Heimatstadt kann ebenso der Anlass sein wie eine Bibliothek der vergessenen Bücher oder das globale Problem drohender Überbevölkerung - Kunerts Nachdenken verharrt nicht im Tagesaktuellen, sondern nutzt es als Sprungbrett für pointierte und in die Tiefe gehende Gedankenbewegungen.
Er bekennt, dass er im Laufe der Jahre immer skeptischer gegen das Fiktive geworden ist. »Die Realität hat alle Fantasie übertroffen.« Was nötig ist: ein nüchterner Blick auf das Faktische, unbedingt aber gepaart mit einem Ernstnehmen des Biographischen in all seinen Verwicklungen und Verstrickungen in die Wirklichkeit. Nur durch solch ein Verwebtsein entsteht Literatur, die den Anspruch erheben kann, Wesentliches über ihre Zeit und die Menschen auszusagen. Und so über die unmittelbare Gegenwart hinauszugehen.

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Neulich erschien in meinem Traum eine sehr schlanke Frau, die ich umarmte, obwohl mich in der Realität schlanke Frauen überhaupt nicht anziehen. Wieso im Traum? Das war keine »Traumfrau«, mit der ich es ziemlich intim zu tun hatte. Verlangte das Unterbewusstsein nach einem Kontrast, ähnlich dem unerwarteten Verlangen nach einer anderen, ungewohnten Speise im Restaurant? Die Unkenntnis der eigenen Psyche ist ein Schutz vor schlimmen Einsichten. Doch wenn solch Schutzmechanismus für alle Menschen gilt, muss man ihn auch für Psychiater annehmen, die fremde Seelen aufblättern sollen, vor der eigenen jedoch kapitulieren. Diese modernen Beichtväter wissen vielleicht weniger von ihren Zeitgenossen als einstmals die kirchlich beamteten von ihren Sündern. Die gebeichtete Sünde war wohl dem Pater näher als dem Psychiater das Geständnis seines Patienten über sexuelle Eigenheiten. Gab es nicht früher eine, obwohl oftmals fatale Ganzheit des Individuums, die in unserer alles atomisierenden Gesellschaft abhandengekommen ist? Das Spezialistentum in der Seelenkunde reduziert seine »Kunden« gleichermaßen auf ein Sammelsurium von Komplexen, wobei der Zustand des Hilfesuchenden, auch er eine divergente Mischung aus vielerlei Einflüssen, dem Schubladendenken des Untersuchenden entgegenkommt. Manchmal hat man bei der Lektüre von Psychoanalyseberichten das Empfinden, hier agiere der Blinde gegen den Lahmen. • Seitdem der echte Terror über uns gekommen ist, spricht kein Mensch mehr vom »Konsumterror«. • Letzte Nacht in New York gewesen. In einem Lokal am Tisch mit Siegfried Unseld und einem berühmten Schriftsteller, eventuell Max Frisch. Später ein paar andere Leute dabei. Ich redete und redete viel zu anhaltend und zu viel. Überlegte dabei, ob ich nicht, angesichts der uns umgebenden Metropole, meinen amerikanischen Führerschein (Driver’s license) zeigen sollte, unterließ es jedoch aus Bedenken, für prahlerisch gehalten zu werden. Bald darauf erhoben sich meine Zuhörer, ich hielt einen Schlüssel mit (recht europäischer) Holzbommel mit der Nummer 39 in der Hand, woraus ich entnahm, ich logiere im 39. Stockwerk. Verließ den Speisesaal und erblickte draußen im Gang Unseld, den Berühmten, und andere auf einer Bank sitzend, was mir vorkam, als wären sie vor mir geflohen. Ich ging beiläufig grüßend an ihnen vorbei, bestieg den Fahrstuhl, der zur U-Bahn mutierte, und fuhr davon. Mir wurde klar, dass ich mich mit dem 39. Stockwerk geirrt hatte und eigentlich Zimmer 39 gemeint gewesen sei. Die Bahn fuhr und fuhr. Plötzlich war ein kleines Mädchen in der Größe eines Eichhörnchens zu meinen Füßen. Wir sprachen miteinander, bis sie unter einen Holzvorsprung schlüpfte. Draußen vor dem Fenster verlassene Fabrikgebäude, unbeleuchtet und leicht verfallen. Weit hinten am Horizont die Skyline von Manhattan. Ich nahm mir vor, auf dem nächsten, nun oberirdischen, Bahnhof umzusteigen und zurückzufahren, wusste aber nicht, in welchem Hotel eigentlich mein Zimmer 39 sich befinden mochte. Einstmals tatsächlich in New York war ich nur ein einziges Mal mit der U-Bahn gefahren, und geblieben ist die Erinnerung an einen roh betonierten Bahnhof, dessen technische Eingeweide offenlagen, als wäre die gewaltige Höhle, in die scheinbar aus allen Richtungen Züge einfuhren, unfertig dem Verkehr übergeben worden. Wie so vieles in den USA den Eindruck des Unfertigen machte, als plante man schon den Abriss, um etwas Neues zu bauen. • Heute Nacht Gewinnspiel im Fernsehen. Dem Gewinner winken ein Waldstück und 100 000 Euro. Der schließlich Gekürte machte einen glücklichen Eindruck, doch sogleich erfuhr er, er müsse eine gepflasterte Straße durch seinen Wald anlegen. Und Baumpflege betreiben. Und Grundsteuer zahlen. Und seine Parzelle einzäunen. Und für Wildfütterung sorgen. Und die 100 000 Euro schmolzen sogleich dahin und reichten nicht einmal, um alle Gebote und Anweisungen zu befolgen. Und der zuerst Glückliche wurde unglücklich und musste noch von seinem Ersparten drauflegen und stand am Schluss ärmer da als vor Spielbeginn. Er, ein von mir abgespaltener Doppelgänger, tat mir nach dem Erwachen leid und veranlasste mich, über meine reale Situation nachzudenken. Bin Morpheus böse! • Die Erde ist doch größer, als unser Bewusstsein von ihr annimmt. Ein Wirbelsturm war nötig, um zu erfahren, dass es einen Staat namens Vanuatu gibt, bestehend aus achtzig Inseln. Mir ist niemand bekannt, der je von diesem Staat gehört, noch ihn je besucht hat. Erst durch die Zerstörung seiner Hauptstadt, durch bisher noch unbekannte Schäden, die zu registrieren wetterbedingte Schwierigkeiten beitrugen, auf den vielen Eilanden, kam dieses verlorene Kythera für uns in Sicht. Und damit die Frage: Was wissen wir überhaupt von unserem Planeten? Man glaubt, im Zeitalter der Entdeckungen sei schon alles aufgefunden worden, kartiert, beschrieben und in den Kreislauf des Tourismus eingebunden. Aber unsere Kenntnis erweist sich als lückenhaft und oberflächlich. Zwar sehen wir als Reisende oder als bloß visuelle Weltenbummler vorm Fernsehen uns Unbekanntes, doch das Vorhandensein von tatsächlich Unbekanntem entgeht uns. Dafür steht Vanuatu, das gründlich lädierte Paradies, das nun in seiner Jämmerlichkeit der Öffentlichkeit vor Augen geführt wurde. So gehen die letzten Residuen zugrunde, bedingt durch unsere Tüchtigkeit, die neben anderen Schrecken auch die Klimaveränderung zu verantworten hat. • Sie brauchen Nahrung und ein Dach über dem Kopf. Nämlich die schon nicht mehr zählbaren Scharen von Flüchtlingen. Dass sie alles andere als Bücher brauchen, ist für den Schriftsteller eine lähmende Vorstellung. Das Leben, das Überleben ist eine grobschlächtige Angelegenheit und Angewohnheit. Manchmal frage ich mich beim Lesen subtiler Gedichte, was wohl aus ihnen in den Lagern der heimatlos Gewordenen würde? Mir fällt Heines Fischhändler ein, von dem der Dichter schrieb, er würde seine Ware in die Seiten des Buches der Lieder einwickeln. Auch besorgniserregend die Menge des Publizierten, allerorten Verlage und Kleinverlage und Privatdrucke und Hektographiertes zuhauf, als lebten wir in vollständig saturierten Völkern, deren einzige Tätigkeit im Lesen bestünde. Druckware ergießt sich in den mehr oder minder zivilisierten Bereichen der Erde wie das Konfetti eines globalen unaufhörlichen Karnevals. Was Leser zum Buche treibt und was sie empfinden, ist mir rätselhaft. Vollziehen sie eine Pflichtübung, weil man in einer alphabetisierten Gesellschaft lebt? Füllt man die sonst leeren Stunden mit Lektüre? Will man sich kurzzeitig den Übeln des Alltags entziehen? Erhofft man Wissen, gar Erleuchtung, Einsichten? Doch einsichtig zu werden ist keinem von uns gegeben. Uneinsichtigkeit ist die Grundlage unserer Existenz. Darüber hinaus kommen wir nicht. Wollen wir den Büchern Lehren entnehmen? Wir als unbelehrbare Gattung, die generationsweise Unheil anrichtet? Heißt lesen nicht eher Flucht vor der unkorrigierbaren Wirklichkeit, deren »eherner Schritt« bedenkenlos und gnadenlos über alle hinwegstampft, auch über den lernbereiten, aufgeklärten und wandlungsfähigen Leser? Alles Fragen, die bereits die Antwort enthalten. • Eine Wand aus stürzendem Wasser, gewaltiger Lärm, feuchter Nebel, der sich auf dem schützenden Umhang niederschlug. Durch einen Tunnel gehend, gelangte ich hinter den Niagarafall, der niemals derselbe ist. Als würde dieser seit undenklichen Zeiten niederprasselnde Schwall niemals aufhören und in ebenso unvorstellbaren Äonen weiterhin seine Besucher verblüffen, vorausgesetzt, sie existieren überhaupt noch und verspürten Lust, sich diesem eintönig und hypnotisch wirkenden Schauspiel auszusetzen. Nur ein Schritt genügte, um zusammen mit der schäumenden Flut in die Tiefe zu stürzen. Erinnerst du dich noch an den Zeitungsbericht, erschienen vor Jahrzehnten, über jenen Mann, der in einer Tonne das Wagnis unternahm, oberirdisch mit dem Strom auf die Kante zuzutreiben und mit dem Strom abwärts zu rasen? Was aus ihm geworden ist, habe ich nicht erfahren. Ein Abenteurer wie manch andere, die, von der Gefahr verlockt, sich in sie begeben und hin und wieder sogar lebend davonkommen. In einem extremen Sinne das, was einem im Grand Canyon als »The Ultimate Experience« angeboten wird. Dort sind die Überlebenschancen selbstverständlich, obwohl nicht garantiert; hier wären sie äußerst gering, und keine Versicherung würde einem Tonnenreisenden eine Police verkaufen. Unwillkürlich tritt man bei solchen Überlegungen ein, zwei Schritte zurück, weil man die magnetische Macht der Urgewalt spürt, die Anziehungskraft, wie sie von ähnlichen »Naturwundern« ausgeht. Man kommt sich unerwartet überflüssig vor und hat sich abzuwenden und den Rückzug anzutreten, bevor das Undenkbare denkbar zu werden droht. Übrigens gibt es keine Statistik, wie viele Personen es rechtzeitig verabsäumten, das Weite anderswo zu suchen. • Unordentlichkeit ist ein Zeichen von Toleranz sich selbst gegenüber. • Dass Träume direkter, doch manchmal missverständlicher Reflex der Wirklichkeit sind, weiß man längst. So sind physische Vorgänge in der Lage, den Film im Kopf zu inszenieren. Wie ich beispielsweise heute Nacht in einem Keller gewesen bin (der sich übrigens in Amerika befand), in dem Holzkloben lagerten, kamingerecht zugeschnitten, sehr ähnlich dem Holz unter dem Vordach des Schuppens im Garten. Der Kellerboden und ein Mauerbau...


Kunert, Günter
Günter Kunert, (1929–2019) reiste 1979 aus der DDR in die Bundesrepublik aus und lebte bis zu seinem Tod in Itzehoe. Für sein außerordentlich vielfältiges und umfangreiches Werk – Gedichte, Essays, Reisebücher, ein Roman, Erzählungen, Kinderbücher, Theaterstücke, Filmdrehbücher – wurde er mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet. Von 2005 bis 2018 war er Präsident des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.



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