Kumar Am Beispiel des Affen
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-446-26290-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-446-26290-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit weit aufgerissenen Augen kommt der indische Student Kailash 1990 nach New York. Er passt sich mühelos an, will sich einfügen – mehr noch, er will glänzen. Voller Ironie und Selbstzweifel erzählt er von seinen Jahren auf dem Campus, von den Frauen, in die er sich verliebt, die sich jedoch ziemlich rasch wieder entlieben. Amitava Kumar entwirft das Porträt von einem, der zwischen den Kulturen steht – und sich dabei nichts sehnlicher wünscht, als flachgelegt zu werden. "Am Beispiel des Affen" ist ein explosiver Einwandererroman, virtuos gefügt aus Text und Bild, Erzählung und Essay, Anekdote und Anmerkung. Ein Lebensroman, der tief eintaucht in die Wirren des Begehrens und der kulturellen Missverständnisse.
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Wir saßen da und tranken Wein aus Plastikbechern. Ehsaan war auf der Treppe vor dem Apartmenthaus, in dem er wohnte, gestolpert und mit dem Fuß umgeknickt. Das Gehen fiel ihm schwer, weshalb das Seminar vorübergehend in seiner Wohnung stattfand. An jenem Tag wurde über Fragen von Vertreibung und Exil diskutiert, ausgehend von den Schriften von Edward Said (»Gedanken zum Exil«), Assia Djebar (»Es gibt kein Exil«) und Anton Schammas (»Amérka, Amérka«). Eine der Studentinnen im Seminar, Negin, eine Iranerin, die in Los Angeles aufgewachsen war, sagte, Djebar habe ihr wirklich gefallen. Für Frauen gibt es kein Exil. Wenn Frauen ihre Heimat verlieren und woanders leben, folgen ihnen die Sitten des alten Landes dorthin. Sie können ihm niemals entkommen. Negins Mutter hatte zu Negins älterer Schwester, die Jura studierte, gesagt: Sei keine Hure. Die Mutter wollte eine Heirat, bei der die Familie eine Rolle spielen würde. Aber die Schwester setzte sich zur Wehr. Wie eine von Djebars Figuren sagte Negins Schwester zu ihren Eltern: Ich werde nicht heiraten. Ehsaan saß in einem Sessel, das Bein auf einem Hocker hochgelagert. Er neigte den Kopf in Richtung Negin, während sie ihre Geschichte erzählte, und als sie fertig war, erzählte er uns von seiner Mutter. Als Ehsaan 1947 Irki, sein Dorf, verließ und sich einem Flüchtlingszug auf dem Weg nach Pakistan anschloss, blieb seine Mutter in Indien. Ihr Exil unterschied sich von dem Djebars. Ehsaan sagte, in den Augen seiner Mutter seien die Leute, die für Pakistan gekämpft hätten, Reaktionäre und nicht antikolonialistisch genug gewesen. Das war aber nur die eine Seite der Geschichte. Denn im Gegensatz zu Ehsaans älteren Brüdern, die ehrgeizige Pläne für ihr Leben in dem neuen Land hatten, sah sich ihre Mutter einer einfacheren Aufgabe gegenüber. Ehsaans Schwester Aba war krank geworden. Sie hatte Typhus. - Meine Mutter hat beschlossen, sich um meine Schwester zu kümmern, die diese beschwerliche Reise nicht überstanden hätte. - Wann haben Sie die beiden wiedergesehen?, fragte Negin. - Gar nicht, jedenfalls nicht meine Schwester. Sie ist gestorben. Das war etwa zehn, elf Jahre später. Da habe ich meine Mutter wiedergesehen. Sie ist eine Zeit lang nach Pakistan gekommen, ehe sie wieder in das Dorf in Indien zurückkehrte. Das Leben dort hatte ihr gefallen. Wir haben sie zu uns geholt, als sie krank wurde. Sie ist in Pakistan gestorben. Er verstummte. Ich dachte an meine Mutter in Patna. Sie wartete darauf, dass ich zurückkehrte, nachdem ich mein Examen gemacht hatte. Bald würde auch sie alt sein. Und meine Großmutter im Dorf, die ich vor meinem geistigen Auge sah, wie sie zwei, drei rote Hibiskusblüten auf den Schrein in ihrem Hof legte. Der Schrein war ein dunkler Stein, nicht größer als eine Faust, auf einem etwa einen Meter zwanzig hohen Sockel aus Ziegeln und Zement, aus dem eine lange Bambusstange mit einem roten Jhandi an der Spitze ragte. Mit dem kurzen Morgengebet begann meine Großmutter den Tag, die Haare noch feucht vom Baden, einen frischen Baumwollsari um sich gewickelt. Tatsächlich sollte ich sie nie wiedersehen. An meinem zweiten Diwali-Fest in Amerika rief ich die Nummer meiner Nachbarn in Patna an, damit ich mit meinen Eltern sprechen konnte. Meine Schwester kam ans Telefon und sagte, meine Eltern seien zum Dorf gefahren, um sich um meine Großmutter zu kümmern, die sehr krank sei. - Sie hat nach dir gefragt – hat Ma gesagt. - Warum bist du nicht mitgefahren? - Ich bin erst heute zurückgekommen. In drei Tagen habe ich Examen. - Feierst du Diwali? - Dieses Jahr gibt es im Haus kein Feuerwerk, sagte sie. Meine Schwester, sie ist älter als ich, wollte mir damit sagen, dass unsere Großmutter gestorben sei. Dieser klare Gedanke kam mir erst, nachdem ich aufgelegt hatte. Mein nächster Gedanke war, dass meine Schwester weinend von unseren Nachbarn nach Hause geeilt sein musste. Als ich mir das vorstellte, kamen mir selbst die Tränen. Vor meiner Abreise aus Indien hatte meine Großmutter gescherzt, ich würde eine Weiße heiraten und ein Sahib werden. Aber ich werde meine weiße Braut ins Dorf mitbringen, hatte ich gesagt. Darauf sie: Nein, nein, tu das nicht. Sie wird dich fragen, warum deine Großmutter so eine flache Nase hat. Sie ist so flach wie der Rücken einer Bettwanze. Zwei Wochen später kam ein Brief von meiner Mutter. Es war kein Luftpostbrief. Stattdessen war es ein Umschlag, der ein Foto vom Gesicht meiner toten Großmutter mit einer weißen Girlande um den Kopf enthielt. Meine Mutter schrieb, ich solle mir keine Vorwürfe machen, meine Großmutter sei friedlich eingeschlafen. Sie bat mich, für ihren Seelenfrieden zu beten. Zünde ein Agarbatti an und stelle es neben ihrem Foto auf. Denke gute Gedanken, schrieb meine Mutter. Die Diskussion in Ehsaans Wohnung an jenem Tag begann mit Saids Satz: Wenn man über das Exil nachdenkt, hat es etwas seltsam Verführerisches, doch wenn man es erlebt, ist es schrecklich. Said war mit Ehsaan befreundet; wir alle wussten, dass sie sich gemeinsam für die Rechte vertriebener Palästinenser eingesetzt hatten. Aber aufgrund der Geschichte, die Ehsaan uns von seiner Mutter und seiner Schwester erzählt hatte, sah ich auch ihn als einen Exilanten, der das erlitten hatte, was Said die lähmende Sorge der Fremde nennt. Euer Ehren, man hat mich gefragt, wann das alles angefangen hat. Wann habe ich angefangen, der Mensch zu werden, der ich heute bin? Ich weiß nicht, ob es auf diese Frage eine einfache Antwort gibt. Aber vielleicht habe ich während jener Seminarsitzung in Ehsaans Wohnung unter dem Einfluss von Saids Worten begonnen, in allem Heroischen und Glorreichen in Ehsaans Leben nichts weiter als Versuche zu sehen, diese große Sorge zu überwinden. Wir hatten für dieses Seminar auch einen kürzlich erschienenen Zeitschriftenartikel von Anton Schammas gelesen, einem palästinensischen Autor, der in Israel aufgewachsen war. Ehsaan wollte von uns wissen, ob uns die Vorstellung eines »ortsungebundenen Heimatlandes«, also der Dinge, die Migranten mit sich führen, zusage. Ich meldete mich zu Wort. Ich sagte, mich habe Schammas’ Geschichte von einem Palästinenser, der die in der West Bank heimischen kleinen Pflanzen und Samen nach San Francisco mitbringt, sehr bewegt. Und, in seiner dicken schwarzen Jacke versteckt, die sieben maßgeblichen Vögel seiner Heimat: den Duri, den Hassoun, den Sununu, den Shahrur, die Bulbul, den Summan und den Hudhud, der sich schon mit König Salomo persönlich unterhalten hatte. Sogar die Namen der verschiedenen Vogelarten waren bezaubernd. Als ich die Liste las, dachte ich an die Vögel meiner eigenen Vergangenheit und an das Lied des Koel im Sommer. Ehsaan lächelte. Er hob das Glas Wein in seiner Hand. - Kailash, bitte sagen Sie uns, was haben Sie mitgenommen, als Sie kürzlich Ihre Heimat verlassen haben und nach Amerika gekommen sind? - Ich habe an diese Frage denken müssen, als ich Schammas gelesen habe. Ich habe in meinem Koffer eine Ausgabe von The Illustrated Weekly of India mit einem Fotoessay über Bihar mitgebracht. Es sind Schwarz-Weiß-Fotos. Ich erkenne darin Bilder von dem Ort, wo ich meine Wurzeln habe. - Eine Zeitschrift mit Bildern, sagte Ehsaan, anstelle dessen, was jemand in früheren Zeiten vielleicht mitgebracht hätte – vielleicht ein Gefäß mit Erde von seinem Geburtsort. Er sah die anderen an. - Ich habe Bilder von meinen Eltern und meinem Hund mitgebracht, sagte Peter. Andere hatten vermutlich das Gleiche getan, denn sie nickten. Als sonst niemand eine Antwort gab, sagte Ehsaan, dass Palästinenser, die ihr Heimatland verließen und niemals zurückkehren konnten, trotzdem die Schlüssel der Häuser aufbewahrten, die sie zwangsweise hatten aufgeben müssen. Die Schlüssel sind nutzlos, weil es die Schlösser dazu nicht mehr gibt. Aber diese Schlüssel sind die Pforten zur Heimat. Ich hatte mein Zuhause freiwillig verlassen, dennoch verblüffte mich, wie wenig ich mitgebracht hatte. Es war, als stellte ich mir vor, ich würde ein neues Selbst entdecken. Ich dachte an mein Zimmer in der Studentenwohnung. Die Wände waren kahl – es gab ein Fenster, aber keine Bilder –, und es roch nach der billigen synthetischen Bettwäsche, die ich benutzte. Auf dem Bett lag eine zitronengelbe Heizdecke. Statt Fotos meiner Eltern hatte ich in meinem Koffer eine Zeitschrift, meine Urkunden, meine Schulzeugnisse, ein, zwei verblassende Diplome transportiert. Ich hatte ein paar Musikkassetten in ihren zerbrechlichen Plastikhüllen mitgebracht. Geeta Dutt, C.H. Atma, Mohammed Rafi, Hemant Kumar. In meinem Zimmer las ich für meine Seminare, während ich im Bett lag und Musik von meinem Kassettenrekorder hörte. Viele Jahre lang dachte ich, oft voller Selbstmitleid, dass Lata Mangeshkar die Hymne für Leute wie mich sang: Tum na jaane kis jahan mein kho gaye …4 Eines Tages kündigte meine Kommilitonin Siobhan, die entweder die aktuelle oder ehemalige Amtsinhaberin in sämtlichen progressiven Studentenorganisationen auf dem Campus zu sein schien, im Seminar ein Teach-in an. Am Persischen Golf drohte Krieg. Präsident Bush hatte Truppen nach Saudi-Arabien geschickt, und sie würden nach Kuwait vorrücken, um Saddam zum Rückzug zu zwingen. Ein ziegenbärtiger Redner vom politikwissenschaftlichen Institut sprach ausgiebig über die Rolle der Ölwirtschaft im Krieg. Tatsächlich hätten die Ölgesellschaften vom irakischen Einmarsch in Kuwait profitiert. Der Anstieg der Ölpreise habe ihnen riesige Gewinne verschafft. Das gelte nicht nur für Firmen...