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E-Book

E-Book, Deutsch, 354 Seiten

Kulish / Mekhennet Dr. Tod

Die lange Jagd nach dem meistgesuchten NS-Verbrecher

E-Book, Deutsch, 354 Seiten

ISBN: 978-3-406-67262-0
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Man nannte ihn „Doktor Tod“ und „Schlächter von Mauthausen“. Der SS-Arzt Dr. Aribert Heim war über Jahrzehnte der meistgesuchte NS-Verbrecher. 2009 gelang es den Journalisten Nicholas Kulish und Souad Mekhennet, seine Hinterlassenschaft in Kairo aufzuspüren. In ihrem spannend geschriebenen Buch verweben sie die Geschichte von Leben und Flucht Heims mit dem Bericht über die lange, fieberhafte Jagd nach ihm zu einem zeithistorischen Krimi. Aribert Heim war nur wenige Monate in einem Konzentrationslager stationiert, aber in dieser Zeit wurde er für seine unvorstellbar grausamen „Behandlungen“ von Gefangenen berüchtigt. Nach dem Krieg führte er – trotz Fahndung – zunächst ein bürgerliches Leben als Gynäkologe und Familienvater. Kurz vor seiner Verhaftung tauchte er 1962 in Kairo unter, baute sich unter arabischem Namen, als Muslim und geliebter „Onkel“ einer Kairoer Familie, eine neue Existenz auf und verstarb dort 1992. Unterdessen lief die weltweite Suche nach der Nummer eins auf der Liste des Simon-Wiesenthal-Centers auf Hochtouren. Die Entdeckung Heims in Kairo und die Rekonstruktion seines Lebens und seiner Flucht sind ein detektivisches und journalistisches Meisterstück, das über den Einzelfall hinaus erhellt, wie die Fluchtwege der NS-Verbrecher funktionierten und warum die intensive Fahndung so spät in Gang kam.
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Prolog
__________________
Nach zwei Tagen ständigen Auseinander- und Zusammenfaltens ist das Schwarzweißfoto kreuz und quer von Linien durchzogen. Seine Ränder sind grau von den schwitzenden Händen der Ladenbesitzer, die es sich angeschaut haben. Dutzende Menschen haben das Foto in die Hand genommen und sich vor die Augen gehalten, um das Gesicht des Mannes genauer zu betrachten: ein Europäer in mittleren Jahren, der mit dem Anflug eines Lächelns in die Kamera blickt. Bisher hat das Foto vor allem Verwunderung hervorgerufen und die immer gleiche Frage. «Warum?», sagen sie und deuten auf die Vergrößerung des alten Passfotos: «Warum suchen Sie ihn?» Niemand auf Kairos Straßen hat ihn bisher erkannt, doch die Ägypter wissen eine gute Story ebenso zu schätzen wie einen guten Witz. Seit langem exportieren sie ihre Soap Operas in den gesamten Nahen Osten und weit darüber hinaus, denn sie haben ein Gespür für spannende Abenteuer-, Liebes- und Kriminalgeschichten. Vielleicht geht es um die Suche nach einem verschollenen Vater, so vermuten sie, wahrscheinlich aber eher nach jemandem, der seine Schulden nicht beglichen hat, oder sogar um einen Gesetzesverstoß. Wir sind im Jahr 2008, und in Kairo stehen fast an jeder Straßenecke Sicherheitsbeamte in Zivil. Zusammen mit dem Foto kam der Tipp, nach einem Hotel im Stadtteil al-Azhar zu suchen, aber ein Dutzend Manager und Angestellte kleiner Hotels geben alle dieselbe Antwort: «Wir kennen den Mann nicht.» Endlich weiß einer doch etwas. Er fragt ein paarmal nach und sagt dann: «Es gab hier mal ein Hotel, in dem bisweilen auch Ausländer wohnten. Es liegt in der Port-Said-Straße, nahe der Überführung.» Das Viertel ist nach der al-Azhar-Moschee aus dem 10. Jahrhundert benannt, einem der bedeutendsten Zentren islamischer Gelehrsamkeit weltweit. Mit ihren fünf Minaretten mag die Moschee ein Abglanz himmlischer Herrlichkeit sein, doch in der Port-Said-Straße liegt ein ätzender Geruch nach verbranntem Müll in der Luft, und es stinkt nach Fleisch, das schon zu lange vor einem Metzgerladen in der Sonne hängt. Der achtstöckige Häuserblock aus Beton, nach dem Krieg erbaut, ist schmutzig gelb bis auf die grünen und blauen Farbtupfer der Fensterläden, die jedoch den trostlosen Gesamteindruck nicht schmälern können. Das Hotel Kasr el-Madina ist nicht mehr in Betrieb, wirbt aber immer noch mit großen Lettern. Ein Arm des K von «Kasr» ist abgebrochen, ebenso die Hälfte des H von «Hotel». In der dunklen ehemaligen Lobby sind zwei Männer ins Gespräch vertieft, doch sie halten inne, um die Frage der Fremden zu beantworten. Einer von ihnen, Abu Ahmad, sagt, er kenne die Hotelbesitzer. «Ich lebe schon seit vielen Jahren hier und habe gelegentlich im Hotel ausgeholfen», erzählt er. Er nimmt das Schwarzweißfoto in die Hand. «Ich kenne diesen Mann», sagt er. Seine Augen füllen sich mit Tränen. «Das ist der Ausländer, der hier oben gewohnt hat. Das ist Herr Tarek», sagt er, «Tarek Hussein Farid.» Abu Ahmad erzählt bereitwillig alles, was er von dem Ausländer weiß, versichert aber, Mahmoud Doma, der Sohn des ehemaligen Hotelbesitzers, wisse noch viel mehr. Nach ein paar Anrufen hat er schnell Domas Nummer. «Hallo?», meldet sich eine tiefe Stimme am Telefon. «Ja, ich bin Mahmoud. Worum geht es?» Als er den Namen Tarek Hussein Farid hört, sagt er «Amu», arabisch für Onkel. Ein paar Tage später in einem Geschäft für Damenbekleidung. Draußen donnert der Kairoer Verkehr vorbei. Mahmoud Domas Bruder öffnet eine alte Aktentasche aus Leder. Sie ist völlig verstaubt, die Schnallen fast komplett verrostet. Die Tasche ist prall gefüllt mit Papieren, amtlichen Dokumenten, aber auch Zeitungsausschnitten, die ein eifriger Leser gesammelt hat. Auch Briefe in deutscher, englischer und französischer Sprache sind darunter, geschrieben in blauer Tinte auf inzwischen vergilbtem Papier, Anträge auf Aufenthaltserlaubnis in Ägypten sowie Überweisungsbelege der ägyptischen Nationalbank. Und die Abschrift eines letzten Willens und eines Testaments, in dem das Vermögen zwischen zwei Söhnen aufgeteilt wird. Viele Zeitungsausschnitte handeln von Hitler und dem Nationalsozialismus, nicht wenige von Israel. Ganz unten in der Aktentasche liegen mehrere Kopien eines Fotos mit Reihen weißer Kreuze außerhalb eines Konzentrationslagers. Auf handgeschriebenen Seiten werden Vorwürfe der brutalsten Verbrechen, die in dem Lager begangen wurden, dargelegt und vehement bestritten: Exekutionen, Vivisektionen, Enthauptungen. Einige Namen tauchen immer wieder auf: Kaufmann, Sommer, Lotter, Kohl und Simon Wiesenthal, der sich in den 1960er Jahren als Verfolger von NS-Kriegsverbrechern einen Namen machte. Die meisten Briefe tragen die Unterschrift von Ferdinand Heim oder Aribert Ferdinand Heim, der im Unterschied zu Tarek Hussein Farid vielen Menschen weltweit ein Begriff ist. Aribert Heim ist nicht einfach nur der Name eines Islamkonvertiten, der in einem billigen Hotel zurückgezogen lebt, mit Kindern spielt, Bücher liest und lange Spaziergänge durch die Stadt unternimmt. Heim war Mediziner in Hitlers Waffen-SS und KZ-Arzt. Ein mutmaßlicher Mörder. Er ist ein Phantom und wird seit 1946 als Kriegsverbrecher gesucht. Bei Kriegsende hatten die Ermittler kaum eine Ahnung, wer Aribert Heim war. Er galt bestenfalls als ein kleiner Fisch, im Unterschied zu Adolf Eichmann, einem der Architekten des Holocaust, oder Josef Mengele, dem berüchtigten Arzt, der die mörderische Pseudowissenschaft der Nazis praktizierte. Heim galt als einer von Zehntausenden, die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern unter Aufsicht der SS arbeiteten. Doch im Lauf der Jahrzehnte, als diese Männer gehängt wurden, Reue zeigten oder unentdeckt starben, gewann Heim immer schärfere Konturen, bis er schließlich zum international meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher wurde. Heim war als Spitzensportler Mitglied der österreichischen Eishockey-Nationalmannschaft gewesen. Er zählte zu den zahllosen SS-Ärzten, die die Wissenschaft des Heilens zu einer Wissenschaft des Todes pervertierten. Auf einem der beiden Fotos, die die Ermittler von ihm besaßen, trägt der gutaussehende Heim einen Smoking. Sein letzter bekannter Wohnsitz war die glamouröse Spielcasino-Stadt Baden-Baden, wo er eine herrschaftliche weiße Villa bewohnte. Die Ermittler fanden heraus, dass er auf einem Bankkonto in Berlin ein Millionenvermögen hatte. 2007 behauptete Danny Baz, ein ehemaliger Oberst der israelischen Armee, er habe als Mitglied einer geheimen Zelle von Nazi-Jägern mit dem Namen Owl («Eule») den untergetauchten Aribert Heim aufgespürt, Kopf einer geheimen und mächtigen Organisation ehemaliger SS-Offiziere. Nach einer Schießerei im Norden des US-Bundesstaates New York, so Baz weiter, habe er eine wasserdichte Aktentasche mit Schusswaffen, Geldscheinen, Diamanten und gefälschten Pässen sichergestellt. «In der Tasche befand sich eine glänzende Luger mit einem Knauf aus Elfenbein, in der Mitte, mit Gold- und Silberintarsien, ein Hakenkreuz eingraviert und darunter der Name des Besitzers der Pistole: Aribert Heim.»[1] Diese Geschichte einer Nazi-Jagd wurde schließlich als Lüge entlarvt. Doch auch sie trug dazu bei, dass Heim zum Prototyp des NS-Verbrechers und die Fahndung nach ihm zu einer Frage des Prinzips wurde, zur moralischen Verpflichtung sechs Millionen Opfern gegenüber. Ihm galt der empörte Ruf: «Sie laufen immer noch frei herum!» Deutschlands Umgang mit seiner blutigen Vergangenheit wird oft als beispielhaft herausgehoben. Die Bereitschaft der Deutschen, Verantwortung für begangenes Unrecht zu übernehmen, Entschädigungen zu zahlen und Kriegsverbrecher bis in die Gegenwart strafrechtlich zu verfolgen, wurde anderen Staaten wie Japan, der Türkei und Ruanda als Modell vorgehalten. Die Verfolgung von NS-Kriegsverbrechern war eine der Grundlagen für das bis heute andauernde Experiment des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Doch der Weg Deutschlands verlief weder geradlinig noch konsequent. In den Jahren nach dem Krieg überließ man die Suche nach Kriegsverbrechern den alliierten Besatzungsmächten, denen die deutsche Öffentlichkeit eine willkürliche, auf Vergeltung zielende Siegerjustiz vorwarf. Später, im Zuge der wachsenden Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, verloren die Alliierten ihr ursprüngliches Interesse an der Bestrafung der Deutschen. Stärker auf den kommenden Krieg konzentriert als auf den vergangenen, rekrutierten die Amerikaner ehemalige Nazis als Spione gegen die Sowjets. Wenn die Amerikaner bereit waren, die Vergangenheit ad acta zu legen, so war das den Deutschen nur recht. In der Phase des raschen Wiederaufbaus in den 1950er Jahren, der Zeit des «Wirtschaftswunders», wollten die meisten einfach nur vergessen, was unter dem NS-Regime geschehen war. Die Bürde der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Landes lastete auf den Schultern von wenigen Männern und Frauen: Polizeibeamten, Staatsanwälten und Politikern, die sich durch ihr Gewissen den Opfern verpflichtet fühlten. Jahrelang ernteten sie für ihr Streben nach Gerechtigkeit keine...


Nicholas Kulish, Journalist und Schriftsteller, ist Korrespondent der „Times“ in New York, berichtete 2013 und 2014 aus Ostafrika und leitete von 2007 bis 2013 das Berliner Büro der „New York Times“.
Souad Mekhennet, Journalistin und Politikwissenschaftlerin, arbeitet für die „Washington Post“ und das „ZDF“ und ist Fellow an der School of Advanced International Studies (SAIS) in Washington DC. 2012 wurde sie gemeinsam mit Elmar Theveßen für die Dokumentation 9/11 mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet und vom World Economic Forum zum „Young Global Leader 2014“ ernannt.


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