Kuhn | Omi | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Kuhn Omi


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-627-02242-6
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-627-02242-6
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Helmut Kuhn hat einen temporeichen Roman geschrieben, in dessen Zentrum ein ungewöhnliches Gespann steht: Großmutter und Enkel, zwei weit auseinanderliegende Generationen, die aber liebevoll zusammenhalten wie Pech und Schwefel, Bonnie und Clyde, Tick, Trick und Track. Omi ist Familiengeschichte und Roadtrip zugleich - einfallsreich, warmherzig und unschlagbar charmant. Alte, Schwestern und Pfleger stehen Spalier. In ihrer Mitte, eine zerbrechliche Frau im Rollstuhl. Die Reifen quietschen, der Transporter hält, Holli Umsiedler ist gekommen, um seine 'Omi' abzuholen. Entgeisterte Blicke treffen Holli, denn ein Altersheim ist ein Ort, den man normalerweise nicht lebend verlässt. Aber dies ist keine normale Geschichte. Seit seine Großmutter im Heim ist, fährt Enkel Holli sooft er kann die 400 Kilometer zu ihr. Zwar fortschreitend dement, hält die zarte, willensstarke Frau im Heim alle auf Trab, irrt nachts umher, klaut Gebisse der Bewohner und Gummibärchen aus dem Schwesternzimmer. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, umgeben von Erinnerungen an die im Zweiten Weltkrieg verlorene Heimat in Mähren und ihren ersten Ehemann Tias, dessen letzten Brief von der Front sie im Portemonnaie verwahrt, noch sechzig Jahre nach seinem Tod. Als sie immer tiefer in die Vergangenheit abtaucht, fasst Holli einen Entschluss: Er wird seine Großmutter auf ihrer Zeitreise begleiten. So stehen ein gemieteter Transporter, ein faltbarer Rollstuhl, der treue Sheltie Pit und die mysteriöse Marylong am Anfang einer abenteuerlichen Fahrt, die sie über mehrere Stationen seiner Familiengeschichte bis ins heutige Tschechien führen wird.

Helmut Kuhn wurde 1962 in München geboren. Nach einem Studium in Berlin und an der Pariser Sorbonne, arbeitete er bei der deutsch-jüdischen Zeitschrift Aufbau in New York und war Reporter für Die Zeit, Stern, Focus und mare. Er lebt als Autor und Dozent für Journalistik und kreatives Schreiben in Berlin. 2002 erschien sein Romandebüt 'Nordstern', 2006 folgten die Erzählungen 'Regen im 5/4 Takt'. Als Co-Autor verfasste er zusammen mit Murat Kurnaz 'Fünf Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantanamo' (2007) sowie mit Cem Gülay Türkensam. Eine deutsche Gangsterkarriere (2009). Sein von der Kritik vielbeachteter Berlin-Roman 'Gehwegschäden' erschien 2012 in der FVA.
Kuhn Omi jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1.


»Es wäre einfacher gewesen, das Raumtritandem zu nehmen.«

Holli Umsiedler sitzt am Steuer des Transporters.

»Hedef yoldur!«

Marylong, auf dem Beifahrersitz, schnippt mit den Fingern.

Pit liegt auf ihrem Schoß und bellt.

»Was?«

»Yol! Hedef yoldur! Türkisch. Der Weg. Der Weg ist das Ziel!«, holippt Marylong, formt ihre Finger zu Hörnern und sticht in die Luft.

Sie nimmt einen Zug aus ihrer E-Zigarette, die Form und Farbe eines Kugelschreibers hat. Holli zieht die rechte Augenbraue hoch.

»Madonnen holippen heute. Das kommt von holistic rap«, sagt Marylong. Manchmal geht ihm das auf die Nerven. Marylong stößt blassblaue Luft aus und pariert seine skeptische Mimik: »Ist von Mighty Ma.«

Holli Umsiedler tritt auf die Bremse. Die Reifen quietschen. Der Transporter holpert über den Bordstein auf den beschädigten Gehweg, das Fahrzeug kommt mit dem linken Rad auf der Kante zum Stehen. Holli dreht den Zündschlüssel, würgt den Motor mit einem Rumpeln ab. Vor dem Haus am Frauenberg stehen sie Spalier: Alte, Schwestern und Pfleger. Omi thront mittig auf ihrem Rollstuhl und blickt sich verwundert nach allen Seiten um. Neben ihr steht Frau Tell, die Heimleiterin, und winkt. Holli öffnet die Fahrertür. Pit springt über seine Beine hinweg aus dem Transporter und bellt. Omi sieht hinüber zu dem großen roten Wagen und staunt.

Holli trägt seinen besten, einzigen Anzug, einen dunkelbraunen zerknitterten Zweireiher. Marylong ein hellblaues hüftlanges Latzkleid über einem schwarzen T-Shirt mit der weißen Aufschrift: . Um ihren Hals ist ein silbernes Edelweiß an einem breiten schwarzsamtenen Band gebunden. Ihr Hals giraffenartig lang und dünn. Daher stamme ihr Name, hatte Marylong gesagt. Von der von Parmigianino. Aber mit ihren kurzen, beinahe kahl rasierten wasserstoffblonden Stoppeln über den Ohren und der hohen Stirn, als hätte sie eine mönchische Tonsur, und dem im Nacken mehr als schulterlangen Haar sieht sie wie die junge Frau auf der gleichnamigen Fünfzigerjahre-Schweizer-Zigarettenmarke aus – von der Haarfarbe und Tonsur einmal abgesehen. Ihr Gesicht ist das eines Mädchens. Eines kleinen, süßen, unglaublich wütenden Mädchens. Ihre Augen haben die Farbe des Himmels.

Pit bellt.

Die Schwestern treten nervös auf der Stelle. Frau Tell kullert ein Tränchen über die faltige Backe. Frau Hübel steht etwas abseits und stützt sich auf ihren Gehwagen. Die Martha trägt ihr Kissen unter dem Arm. Das muss ihr der nette schwule Pfleger vom Abend für diesen Morgen extra aus dem Schrank geholt haben, fällt es Holli ein. Die Hallo sagt Hallo. Der Russe zetert. Pit wuselt flink um alte Beine, schnüffelt an Filzpantoffeln, löchrigen Faltenröcken, herabhängenden Nylonstrümpfen und der speckigen Hose des Russen. Der Hund niest. Frau Tell fasst sich. Sie lächelt und bleckt lange gelbe Zähne, die Hälse stehen bis zu den Zapfen frei und sind braun vom Nikotin. Frau Hübel legt ihren Kopf auf den Einkaufskorb ihres Gehwagens und versucht mit zittriger Hand, den sich schüttelnden Sheltie zu erreichen. Pit wendet sich ab. Marylong steigt aus. Sie reckt sich und versprüht ein paar heilige Strahlen. Niemand scheint sich daran zu stören. Omi erkennt Holli, und ihr Gesicht erfüllt sich mit Freude.

»A lot of bad boys want my numba. Daai bra anies hy’s n fokken gam bra. Ken sy my numba? Xha!« Marylong schnippt mit den Fingern. Ihre Augen blitzen, als könne sie jederzeit jemandem mit den Zähnen an die Gurgel schnellen.

»Na, wenn das mal gut geht«, sagt Frau Tell und umarmt Holli Umsiedlers schlaksige Gestalt wie einen Sohn.

Holli versucht sich aus der stählernen Umklammerung zu lösen. Er sieht zu den Alten, die vom Spalier zur Phalanx übergegangen sind. Das halbe Haus am Frauenberg hat sich jetzt an der Pforte versammelt, als gäbe es geweihte Hostien zu verteilen. Sogar Herr Brand ist da. Den hat Omi immer mit der Zeitung vertrimmt. Die Martha umarmt ihr Kissen. Frau Hübel richtet sich auf und schnäuzt theatralisch in ein besticktes Tuch. Der Russe faucht.

»Hallo!«

»Hallo!«

»Hallo?«, sagt die Hallo.

Holli küsst seine Großmutter sanft auf die Wange.

»Mein Jung, mein Jung, mei Jüngi!«

Er hebt sie aus dem Rollstuhl. Sie ist federleicht. Die Schwestern öffnen die seitliche Schiebetür. Holli Umsiedler setzt seine Großmutter vorsichtig auf die Rückbank. Pergamentartige Haut und spitze Knochen, ihre geschrumpfte Gestalt verschwindet auf der Bank des Transporters wie das kleine Hollichen damals in der Kuhle hinten im alten schwarzen Käfer verschwunden war, aber in der Eile hatte er keinen kleineren Wagen auftreiben können. Er rückt die Kissen zurecht, die er mitgebracht hat, damit sie möglichst bequem sitzt. Behutsam legt er den Gurt über ihre Schulter und stopft jeweils ein Kissen unter Gesäß, rechten Arm und zwischen linken Arm und Fenster. Sie sieht ihren Enkel mit großen, freudigen Augen an. Ihre Brille sitzt etwas schief. Holli rückt sie zurecht. Omi hält ihre Handtasche auf dem Schoß fest umklammert, ihre Hände von Arthrose und Sehnenverkürzungen gekrümmt. Demente machen das. Sie haben ständig Angst, beklaut zu werden. Zärtlich streichelt er über ihr dünnes weißes Haar und ihre Stirn, wie er es immer tut. Dann küsst er sie auf die eingefallenen Wangen. Frau Hübels Schnäuzen klingt wie ein Nebelhorn. Der Russe flucht, tritt nach dem Pfleger, der neben ihm steht, und spuckt auf den Boden. Der Pfleger schreit und sinkt in die Hocke. Der Hund entfernt sich.

»Omi, wir machen einen Ausflug!«

»Waas?!«

Holli Umsiedlers Großmutter strahlt. Sie scheint nicht überrascht oder gar ängstlich, wie Frau Tell es befürchtet hatte. Einen alten Baum verpflanzt man nicht, hatte sie noch am Vorabend gesagt. Aber sie ist doch hierher verpflanzt worden, hatte ihr Holli entgegnet, als er sich auf dem Weg zum Aufzug befand, ein großes D darin steht für Dach, Omi war bester Laune gewesen. Sie hatte keine Ahnung, worum es ging. Holli war da und Holli war alles, was zählte. Er hatte es ihr zu erklären versucht: Omi, morgen fahren wir weg, weit weg! Aber das hatte sie in dem Moment, als sie ihm vom Bett aus ihres Zimmers unterm Dach mit schütterer Bewegung winkte, wieder vergessen. Gute Nacht, Omi. Schlaf gut und träum was Schönes, sagte Holli. So, wie sie es früher in sein Ohr geflüstert hatte.

»Ja, Holli, und gell, bis morgen früh!«

Holli schlüpft aus dem Wagen, ohne seine Großmutter aus den Augen zu lassen. Marylong setzt sich neben Omi. Sie werde schon aufpassen während der Fahrt. Omi krallt sich in ihre Handtasche. Sie sieht Marylong böse an, bereit zum Äußersten. Marylongs längeres Nackenhaar sträubt sich wie elektrisiert. Sie sieht aus wie Franz von Assisi mit aufgestellten Adlerfedern.

»Arrrr«, knurrt Marylong.

Holli Umsiedler hievt den maßgeschneiderten Rollstuhl auf die hintere Ladefläche. Die Schwestern reihen sich auf und helfen, vielleicht gibt es Trinkgeld. Pit erkennt in Frau Tell das hiesige Alphatier, gibt Pfötchen und setzt seinen ergreifendsten Blick auf: Er hat dank einer Laune der Natur ein stahlblaues und ein schwarzbraunes Auge. Marylong grinst: »Yes daddy, I’m a big girl now. Jas little devil make your dick go wow.« Sie sticht mit Hörnerfingern in die Luft.

»Hallo!«

»Hallo?«, sagt die Hallo.

Der Pfleger kauert in der Hocke, jammert und reibt sich das Schienbein. Der alte Russe speit und keift.

Holli hatte am Morgen Kaffee für die Thermoskanne aufgesetzt, Brote gemacht in der Küche der Pension und hart gekochte Eier. Wie früher. Sie würden auf dem erstbesten Rastplatz halten, an einem steinernen Tisch Platz nehmen, ein Geschirrtuch darüberbreiten, alles auspacken und sofort aufessen. Wie früher. , sang Opa. Holli hatte Frau Tell überredet, ihm noch einen leichten, faltbaren Rollstuhl zu überlassen, ein ausgedientes, geflicktes Modell, das niemand mehr brauchte. Für die Rastplätze und die Toiletten, falls die Windeln nicht hielten. Die Schwestern und er hatten am Abend alles gepackt. Holli lud in den Bus, was seine Großmutter noch besaß: zwei Koffer Wäsche, Kleidung und Schuhe; eine Tüte Kopftücher, eine Tasche Mäntel; ein paar Kartons, darin ihre hübsche Haarbürste und der Flurspiegel, ein Fotoalbum der Wehrmacht im Russlandfeldzug. Der kleine Stahlhelm aus Blech mit dem Hakenkreuz darauf ist verbeult. Das Rucksäckchen aus Keramik, Andenken an die Eifel, das Holli in letzter Minute vor Eckis blauen Säcken gerettet hatte; der letzte Teppichläufer und der Dürerdruck. Der hatte immer an ihrer Eingangstür neben der Schnitzerei gehangen. Holli verlud Vasen, Tischdecke und die Küchenfunkuhr, die er ihr zum Siebzigsten geschenkt hatte und deren Zeiger in einem einzigartigen Schauspiel jeden Winter und Sommer selbstständig der Zeit folgten, ein Wunder, das sie zwanzig Jahre ungeduldig erwartet hatte, um ihm aufgeregt davon zu berichten; das Madonnenbild mit Kind, das vierzig Jahre so gütig wie gestreng über das Ehebett, diesen knarzenden Klotz, gewacht hatte; das Schlafhäschen, ein weißes flauschiges Stofftier, das sie liebte, weil Holli es ihr zum Trost ins Heim mitgebracht hatte, und, zuletzt, ihren schönen Stuhl, der Thron, auf dem nie jemand saß; den rosenbestickten, bauchig ausladenden Gobelinsessel mit Blattgold und passendem Spiegel dazu, ihr ganzer Stolz. Wie ein verwaister Solitär aus einstiger kaiserlich-königlicher Pracht und...


Helmut Kuhn wurde 1962 in München geboren. Nach einem Studium in Berlin und an der Pariser Sorbonne, arbeitete er bei der deutsch-jüdischen Zeitschrift Aufbau in New York und war Reporter für Die Zeit, Stern, Focus und mare. Er lebt als Autor und Dozent für Journalistik und kreatives Schreiben in Berlin. 2002 erschien sein Romandebüt "Nordstern", 2006 folgten die Erzählungen "Regen im 5/4 Takt". Als Co-Autor verfasste er zusammen mit Murat Kurnaz "Fünf Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantanamo" (2007) sowie mit Cem Gülay Türkensam. Eine deutsche Gangsterkarriere (2009). Sein von der Kritik vielbeachteter Berlin-Roman "Gehwegschäden" erschien 2012 in der FVA.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.