E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Kühn Geheimagent Marlowe
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-10-400053-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman eines Mordes
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-10-400053-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieter Kühn, geboren 1935 in Köln, starb 2015 in Brühl. Für seine Biographien, Romane, Erzählungen, Hörspiele und hoch gerühmten Übertragungen aus dem Mittelhochdeutschen (das ?Mittelalter-Quartett?) erhielt er den Hermann-Hesse-Preis, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und zuletzt die Carl-Zuckmayer-Medaille. Zu seinen Werken gehören große Biographien (über Clara Schumann, Maria Sibylla Merian, Gertrud Kolmar sowie sein berühmtes Buch über Oswald von Wolkenstein), Romane (?Geheimagent Marlowe?), historisch-biographische Studien (?Schillers Schreibtisch in Buchenwald?) und Erzählungsbände (?Ich war Hitlers Schutzengel?). Zuletzt erschienen die beiden autobiographischen Bände ?Das Magische Auge? und ?Die siebte Woge? sowie sein Theaterbuch ?Spätvorstellung?. Literaturpreise (Auswahl): Hermann-Hesse-Preis Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste Nominiert für den Deutschen Bücherpreis 2002 Carl-Zuckmayer-Medaille 2014
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Als nächstes folgt in diesem Dossier die Stellungnahme von Ressortleiter Mountfelton zum Fall Marlowe, verfaßt mit der Intention, sich nach oben hin abzusichern mit Blick auf den weiteren Verlauf der Verhandlungen.
Gez. Jeremy
* * *
Im folgenden fasse ich Eindrücke und Erkenntnisse zusammen, die sich beim ersten Gespräch mit Christopher Marlowe ergeben haben. Ich formuliere folgende Ausführungen unter dem Gesichtspunkt: Wie weit ist der Kandidat geeignet zur Lösung unserer Aufgabenstellung? Welche Faktoren lassen sich als nutzbar herausarbeiten für die Erlangung seiner Bereitschaft? Von welcher Interessenlage können wir ausgehen?
Unsere Forderungen und Richtlinien erfüllen sich in diesem Fall durchaus: Daß der Kandidat geistig rege sein muß; daß er über Lebenserfahrung verfügt; daß er in der Lage ist, gegebene Instruktionen gewissenhaft umzusetzen; daß er selbständig erkennen kann, welche Erscheinungen relevant sind; daß er seine Erkenntnisse sachlich richtig zur Darstellung bringen kann; daß er bereit ist zur strikten Einhaltung der Konspiration.
Während des Studiums hat er dies durch seine Tätigkeit als Agent überzeugend unter Beweis gestellt. Marlowe war nach Reims entsandt worden, um relevante Interna über Sinnen und Trachten katholischer Studenten zu übermitteln, die unser Land verlassen hatten, um im neu gegründeten Jesuitenkolleg Theologie zu studieren, dabei eventuell Vorbereitungen treffend zur offiziellen Wiedereinführung der katholischen Religion und somit zum Sturz unserer Regierung. Seine Feststellungen und Beobachtungen übergab Marlowe vor Ort an »Secretary«, seinen damaligen Verbindungsmann; diese Berichte waren, unter dem Aspekt der Weiterleitung, mit dem Decknamen »Cornelius« unterzeichnet.
Obwohl folgende Tatbestände im Hause noch präsent geblieben sind, darf ich sie der Vollständigkeit halber kurz in Erinnerung rufen. Marlowe hat sich besonderes Verdienst erworben mit der frühzeitigen Meldung, ein Trupp junger Katholiken, ausgebildet und instruiert im Jesuitenkolleg, solle, unterstützt von einem Dutzend kampferprobter spanischer Soldaten, mit einer Galeere zur Ostküste Irlands verfrachtet und bei Bré, wenige Meilen südlich von Dún Laoghaire, eingeschleust werden. Die Soldaten hatten den Auftrag, einen Brückenkopf zu bilden und zu halten, auch als mögliche Retraite; die jungen Priester, allesamt zum Martyrium bereit, sollten ausschwärmen und irische Landesbewohner zum Kampf aufwiegeln gegen englische Siedler und Händler im Osten Irlands, speziell in Dublin und Umgebung. Gegenmaßnahmen unserer Seite konnten rechtzeitig eingeleitet werden, da auch diese Aktion von König Philipp im Alcázar oder Escorial geprüft, genehmigt und sein Plazet per Kurier übermittelt werden mußte. In der Zwischenzeit konnte ein Trupp in Dún Laoghaire ausgebootet werden und bei Bré einen Hinterhalt beziehen. Die Emigranten und Söldner gingen in die Falle und wurden zur Strecke gebracht – die »Rebhuhnjagd« von Bré. Danach stellte sich Erleichterung ein, doch wurden wir uns dringlicher denn je der ständig drohenden Gefahr seitens der katholischen Koalition bewußt, was wiederum Sinn und Notwendigkeit der Tätigkeit unseres Geheimen Dienstes bestätigte.
Durch den längeren Aufenthalt in Reims war Marlowe allerdings mit seinem Studium in Verzug geraten, und so weigerte sich der Rektor des Benet College zu Cambridge, ihn nach seiner Rückkehr zu graduieren.
Was die Entscheidung des Rektors in erheblichem Maße beeinflußte, war der Skandal, den Marlowe in Canterbury ausgelöst hatte. Marlowe unterhielt eine offenbar sodomitische Beziehung zu P., einem Musiker der Kathedrale. P. war indes verheiratet, war Vater zweier kleiner Töchter. Marlowe drängte darauf, daß P. sich von der Familie trennen und mit ihm eine große, womöglich jahrelange Reise unternehmen solle, sei es in unsere neue Kolonie Virginia, sei es in Asien, wo ihn geheimnisvolle Städte wie Persepolis oder Samarkand zu locken schienen. P., nach gravierendem Zerwürfnis mit seiner Frau seelisch äußerst belastet, erklärte, er wolle sich vom ebenso gewalttätigen Verhalten wie von den »verschrobenen Plänen« Marlowes nicht weiter verrückt machen lassen; er liebe »Kid« in der Tat, doch wenn es ihm nicht binnen einer Woche gelinge, sich wieder mit seiner Frau zu verständigen, schieße er sich »eins ins Maul«. Unter dieser Androhung kam es zu einer besonders heftigen Auseinandersetzung mit ausgesucht groben Beleidigungen von seiten Marlowes, die von P. freilich nicht mit Tätlichkeiten beantwortet wurden, vielmehr mit der Forderung, sich am nächsten Morgen einem Duell mit Degen zu stellen. Was von Marlowe prompt angenommen wurde.
Der Vorfall sprach sich in Canterbury rasch herum, die Familie Marlowes geriet in helle Aufregung. Mutter Joane machte »Kid« lautstark Vorhaltungen: Er wolle doch wohl nicht zum Mörder werden! Als sie merkte, daß dies beim ansonsten hellhörigen Sohn auf taube Ohren stieß, unternahm sie etwas Ungewöhnliches: Sie schrieb einen Brief an P., das heißt, sie bestimmte Tonlage und Inhalt des Schreibens, das ihr Gatte ausfertigte, Schuster und zugleich Kirchenschreiber. Man flehte P. an, auch im Namen dessen eigener Mutter, die Forderung zurückzunehmen. Eine der drei Töchter des Hauses mußte P. den Brief überbringen. Die Intervention war vergeblich, es erfolgte das Degenduell, das allerdings durch Einschreiten eines unserer Mitarbeiter zum rechten Zeitpunkt abgebrochen wurde.
Ich vermerke diesen Vorfall und Vorgang, weil hier eventuell ein Ansatzpunkt sein könnte für gezieltes Einwirken auf Marlowe, falls gewünschte oder geforderte Leistungen von ihm nicht erbracht werden: ein Schwachpunkt, an dem mit Aussicht auf Erfolg angesetzt werden könnte. Dies unter dem Aspekt, daß man bei uns im Hause keinerlei Verständnis für Marlowes geschlechtliche Fixierung hat, ja, daß jene Form der Pervertierung generell auf Ablehnung stößt. Könnte Marlowes getarnte Tätigkeit nicht weiterhin von Nutzen sein für unser Land, so hätte sein Hang zur Sodomie längst Folgen gehabt, und zwar einschneidend!
Ich fahre fort: Diskrete Intervention einiger Lords of Her Majesty’s Most Honourable Privy Council bewirkte, daß Marlowe trotz dieses Skandalfalls, trotz seiner lückenhaften Präsenz im College, trotz seiner nicht ausreichenden Leistungen zum Bachelor of Arts graduiert wurde – mit Blick auf seine (nur intern erwähnten) Verdienste für die Krone. Er ist sich dieser Intervention allerdings nicht bewußt. Auch nicht der Tatsache, daß wir die erste Aufführung seines Bühnenstücks »Tamerlan« diskret gefördert haben. Der große Erfolg zeitigte allerdings die Nebenwirkung, daß er seine Agententätigkeit für definitiv beendet hielt.
Da seine damalige Aufkündigung der Mitarbeit Einfluß haben dürfte auf die Methode, die Marlowe gegenüber zur Anwendung gelangen muß, auch hierzu eine kurzgefaßte Darstellung.
Nach rund anderthalb Jahren getarnter Beobachtung in Studentenkreisen kam es zu einem jähen Ende der kameradschaftlich-freundschaftlichen Verbindung mit »Secretary«. Einleitende Äußerung von Marlowe: »Ich weiß jetzt, wie das geht, so geht das aber nicht weiter.« Er weigerte sich, künftig auch nur eine einzige Äußerung eines der Studenten in Reims weiterzugeben und sei sie noch so unverfänglich. Er berief sich dabei (ziemlich überraschend, bei seinem Fach jedoch einigermaßen plausibel) auf Tugenden: Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit. Er sprach, in neuem Wortverständnis, von einem »Erweckungserlebnis« – als Erkenntnis der Folgen einiger seiner Mitteilungen an »Secretary«. Zwei Studenten waren daraufhin nämlich aus dem Jesuitenkolleg verschwunden – der eine konnte sich, nach rechtzeitiger Warnung, in die Bretagne absetzen, der andere wurde entführt, hier in London vor Gericht gestellt und abgeurteilt als Staatsfeind, bereit zu Umsturz von Kirche und Regierung. Mit derart gravierenden Folgen hatte Marlowe offenbar nicht gerechnet. Als ihm dieser Fall zu Ohren kam (eher in Form eines Gerüchts als eines Berichts), erfolgte eine heftige Auseinandersetzung mit seinem Verbindungsmann. Der Hauptvorwurf lautete: Er, Marlowe, sei betrogen worden, niemand hätte ihm gesagt, daß ein Kommilitone gleich als Staatsfeind behandelt würde, nur weil der sich mal negativ geäußert habe, und dies eher fahrlässig. (Randnotiz: Die Folgen seines Hinweises auf die geplante Aktion bei Bré haben Marlowe offenbar nicht so sehr belastet – was auch dadurch zu erklären ist, daß er über den blutigen Verlauf der »Rebhuhnjagd« nicht näher informiert wurde.) »Secretary« forderte weitere Beobachtungs- und Ermittlungsberichte an, doch Marlowe leistete einen pathetischen Schwur: Nie mehr wolle er etwas mit derart »schmutzigen Geschäften« zu tun haben, nie mehr werde er sich »dazu hergeben«, derartige »Dienste« zu leisten. Als »Secretary« dieser Suada die weiterhin gültige Dienstverpflichtung entgegenhielt, kam es zu einem der notorischen Anfälle von Jähzorn und damit zu Tätlichkeiten, die von »Secretary« allerdings handfest beantwortet wurden.
Damit wurde eine Art Freundschaft beendet, die sich im Verlauf der Zusammenarbeit entwickelt hatte: gemeinsame Aufenthalte in Kneipen, gemeinsame Angelpartien, gemeinsamer Besuch von Theatern, und, wie es heißt, gemeinsamer Besuch auch eines Bordells (das übrigens von einem Theaterprinzipal geleitet wurde); es wird gemunkelt, Marlowe und »Secretary« hätten sich gelegentlich eine Frau »geteilt«. Vor diesem Hintergrund: In seiner Enttäuschung, ja Verletzung schwor »Secretary« Rache – die aber nicht vollzogen, sondern (in seiner Perspektive) auf Unbestimmt verschoben wurde. Marlowe gilt schließlich als gefährlich,...




